Kurzbeschreibung

Leihbibliotheken waren ein entscheidender Faktor in Bezug auf die Lesegewohnheiten der Deutschen im gesamten 19. Jahrhundert, doch wie das vorliegende Dokument verdeutlicht, war ihr Einfluss nicht unumstritten. In jenen Jahren mochte ein typischer Roman mit einer Auflage von 700–800 Exemplaren veröffentlicht werden, wovon 90% an die Leihbibliotheken gingen. Der folgende Text wurde von Albert Last verfasst und erschien im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, der wichtigsten Zeitschrift des deutschen Verlagswesens. Der Autor versucht die Leihbibliotheken gegen den Vorwurf zu verteidigen, dass sie die Produktion und den Verkauf von Romanen einschränkten. Er erklärt zu Recht, dass die Buchproduktion in den 1880er Jahren so hoch wie nie zuvor war, und er bietet unzählige Statistiken zur Untermauerung seiner Argumentation auf. Zudem weist er darauf hin, dass Romane immer bedeutender wurden und theologische Bücher verdrängten, die Mitte des Jahrhunderts Bestseller gewesen waren.

Der Einfluss der Leihbibliotheken auf den Romanabsatz (1884)

  • Albert Last

Quelle

Es ist in Buchhändlerkreisen und bei den Schriftstellern vielfach die Ansicht verbreitet, daß die Leihbibliotheken schuld seien an dem Rückgange des Bücherabsatzes. Auf diesem Irrthum basiren vielfache Unternehmungen, die den Zweck verfolgen, die Institution der Leihbibliothek zur Seite zu schieben, sie zu ersetzen.

Im Programm der Romanzeitung war dieser Zweck offen ausgesprochen. Der Romanzeitung folgte die Romanbibliothek, die Monatsschrift: Vom Fels zum Meer,[1] die billigen Collectionen und neuerdings Ost und West[2]; außerdem die zahllosen illustrirten und nicht illustrirten Wochenschriften und Familienblätter. Fast sämmtliche politische Tagesblätter zogen den Roman in ihre Spalten.

Sowie die Schriftsteller sich nach und nach überzeugen mußten, daß ihre abschreckenden Schilderungen von dem Zustande der Leihbibliotheksbücher nicht vermochten, die Leser von der Leihbibliothek abzuwenden und dem Kaufe zuzuführen, so sehen wir auch von den gegnerischen buchhändlerischen Bestrebungen in dieser Richtung nicht den geringsten Erfolg. Wenn wir auch nicht sagen können, daß die Gesammtleserzahl in den Leihbibliotheken sich in den letzten zehn Jahren erheblich erhöht hat, so ist doch von einem Rückgang derselben nichts zu entdecken.

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Von den Verlagsunternehmungen sehen wir, daß jede neue Monatsschrift, jede Romanzeitung sowie Familienblatt und Collection billiger Romane, nur sich selbst Concurrenz machend, dem Leihbibliothekar nicht das Terrain abzugewinnen vermag. Derselbe sieht alle diese Unternehmungen nicht einmal ungern, sondern bedient sich ihrer, um seinen Lesezirkel zu höherer Bedeutung zu führen. Es dürfte in Deutschland vielleicht dahin kommen, daß dem Leihbibliothekar aus diesen Artikeln mehr Gewinn zufließen wird, als aus dem Verleihen von Büchern. Weshalb sollte der verständige Leihbibliothekar diesen Unternehmungen abhold sein, wie vielfach geglaubt wird? Es lassen sich allerdings keine Beweise dagegen anführen, daß ohne diese vielen Unternehmungen die Kundschaft der Leihbibliotheken eine größere sein würde; wir indessen können diese Meinung nicht theilen, sondern halten dafür, daß sie für die Leihbibliothek mehr Leser erziehen, als sie ihnen nehmen.

Bevor wir nun an die Beantwortung der Frage gehen: ob die Leihbibliothek den Rückgang des Bücherabsatzes verschuldet habe, scheint es uns nöthig, zu untersuchen, ob der Absatz von Belletristik überhaupt zurückgegangen ist. Man spricht das so leichthin aus, daß vom Publicum Romane nicht mehr gekauft werden, daß der Romanverlag ohne die Leihbibliotheken nicht mehr möglich sei.

Diese fast allgemein getheilte Ansicht ist indessen grundfalsch. In keiner Zeit wurde mehr Belletristik vom Publicum gekauft, als in der unsrigen.

Daß es irgend ein Roman bis vor zehn Jahren zu vier, ja zehn und auch zwölf Auflagen gebracht hätte, haben wir nie erlebt; heute ist das keine Seltenheit mehr. Das beweist doch, daß die Kauflust im Publicum nicht erloschen, sondern gestiegen ist. Freilich concentrirt sie sich auf das anerkannt Gute; wer aber wollte das bedauern? Es ist das eine Folge der Ueberproduction.

Mit welchem Rechte wollen wir vom Publicum verlangen, daß es für Bücher von zweifelhaftem Werthe unsere gebräuchlichen theuren Preise bezahle? Für Bücher, die man einmal durchblättert und nie mehr in die Hand nimmt? Es ist doch nicht zu leugnen, daß die Mehrzahl unserer Novitäten dieser Kategorie angehört. Ist es nicht genug, wenn der Leihbibliothekar hierfür sein schwer erworbenes Geld verwendet, und hat nicht selbst dieser das in vielen Fällen nachträglich zu bedauern? Die Hunderte von periodisch und täglich erscheinenden Blättern rufen eine Unmasse Romane und Novellen hervor. Müssen denn aber alle diese auch noch in Buchform nochmals auf den Markt treten? Begnüge sich doch der Autor mit dem meist anständigen Honorar, das von den Zeitungen gezahlt wird, und verschleudere er es nicht wieder durch eine Buchausgabe, für deren Resultatlosigkeit er dann Publicum und Leihbibliothekar verantwortlich machen will.

Der Schriftsteller klagt, daß heutzutage mit einer Hast gelesen wird, daß es zu ruhigem Genießen und Aufnehmen eines Buches gar nicht mehr komme. Das ist richtig; indessen wer anders ist Schuld daran, als er und der Verleger, die sich täglich dem Publicum mit neuen Erzeugnissen präsentiren? Die Massenhaftigkeit des Mittelmäßigen hat diesen raschen Wechsel erzeugt und den früher bedächtigen und genießenden Leser zu einem oberflächlichen gemacht.

In früherer Zeit setzte sich allabendlich die Familie zusammen mit ihrer Handarbeit, um einige Capitel eines Buches gemeinschaftlich zu lesen und durchzusprechen. Man beschäftigte sich mit einem Roman der Paalzow[3] oder von Bulwer acht bis vierzehn Tage. Wir sehen noch heute davon die Nachwirkung, denn ein sehr großer Theil jener vor vierzig Jahren erschienenen Romane geht noch heute in den Leihanstalten von Hand zu Hand; keine kann sie entbehren. Ein so aufgenommener Roman erhielt sich im Bewußtsein der Leser, wurde von Eltern auf Kinder übertragen durch Generationen, bis heute. Und werden von diesen Romanen nicht noch in unserer Zeit neue Auflagen gemacht? Warum haben denn das die Leihbibliotheken nicht verhindern können?

Die Production ließ zu jener Zeit dem Leser Muße zum ruhigen Genießen. Dieselben Romane, die sich durch vierzig Jahre erhalten haben, würden, wenn sie heute erschienen, nach kurzer Zeit vergessen sein oder gar nicht in den Vordergrund treten.

Leihbibliotheken, die auf der Höhe der Zeit stehen, oder besser gesagt, den Anforderungen des Publicums entsprechen, führen also jene alten eingebürgerten Romane, eine Auslese der besten Werke aus den letzten Jahrzehnten und die Novitäten der Saison, von denen ein großer Theil in dem nächstgedruckten Katalog nicht mehr zu finden ist. Hieraus erklärt sich auch die Abneigung mancher Schriftsteller, die ihren Namen vergebens in den Katalogen suchen. Schriftsteller von Bedeutung haben wir auf feindlicher Seite bisher kaum gefunden; diese wissen aus Erfahrung, wie sehr die Leihbibliotheken mitgewirkt haben, ihren Ruf in alle Schichten der Bevölkerung zu tragen; sie wissen, daß von den zehn Auflagen ihrer Werke kaum mehr als eine in die Leihanstalten gegangen ist, die aber die anderen neun mit hervorgerufen hat.

Es kann zugegeben werden, daß die Verbreitung mittelmäßiger Romane durch die Leihbibliothek das Publicum abhält, solche zu kaufen; indessen daraus dürfte doch wohl der Leihbibliothek kein Vorwurf zu machen sein. Wir wenigstens rechnen ihr das vielmehr als ein Verdienst an.

Die Anklage gegen die Leihbibliothek ist erst laut geworden, seit unsere Productionsverhältnisse eine Wendung zum Schlimmen angenommen haben. Man bedenkt dabei nicht, daß die Umwälzungen auf dem Gebiete unserer socialen Verhältnisse eine einschneidende Einwirkung auf den Romanabsatz ausgeübt haben.

Heben wir nur zwei Momente heraus.

Oesterreich war früher das Eldorado für den deutschen Romanverleger. Bis zum Jahre 1848 zählte der oesterreichische Adel zu dem reichsten. Er saß im Sommer auf seinen Gütern, im Winter lebte er in der Hauptstadt, in der Nähe des Hofes. Wir fanden stets bei ihm ein lebhaftes Interesse für die Literatur, sahen ihn aber selten in der Leihbibliothek.

Nach Aufhebung der Robot[4] und des Zehnten verminderten sich aber seine Einkünfte in erheblicher Weise. Heute sieht man den Adel selten auf seinen Gütern, wo ihn früher die Einförmigkeit des Lebens zur Lectüre führte. Seine Güter befinden sich zum großen Theile in den Händen der Pächter, oder in denen der Geldaristokratie; er selbst befindet sich im Sommer auf Reisen, in den Bädern; im Winter auch weniger als früher in der Hauptstadt, weil auch der Aufenthalt des Hofes ein weniger beständiger geworden ist, durch die Zweitheilung des Reiches. Daß also der Adel nicht mehr wie früher seinen bleibenden Aufenthalt hat, daß seine Einkünfte sich vermindert, sind die Ursachen, die ihn der Leihbibliothek zuführten und dem regelmäßigen Bücherkaufe abwendeten.

Das zweite einschneidende Element war der Krach des Jahres 1873. Hier vollzog sich eine vollständige Besitzveränderung des Capitals. Der wohlhabende, reiche Bürger, der zu den besten Bücherkäufern gehörte, kam in die Lage, seine Neigung aufgeben zu müssen; seine Hausbibliotheken wanderten nach und nach zum Antiquar. In jenen Kreisen aber, zu welchen das Capital gewandert ist, finden wir allerdings vorzugsweise das lebhafteste Interesse für die Literatur, für Musik, Theater und Kunst, aber nicht jene Freude an einem Buche, die den Wunsch erzeugt, es zu besitzen.

Nur kennen will man Alles. Man besucht jede Kunstausstellung, fehlt bei keiner Première, keinem Concerte und durchfliegt nebenher jede neue literarische Erscheinung ohne Unterschied. Man lebt überall, nur nicht im stillen Heim des Hauses; wozu bedarf es denn da der Hausbibliothek? Es genügen einige Prachtwerke auf dem Tische der Salons und die Classiker in reichem Einbande im Bücherschranke. Das fieberhafte Streben aber, Alles zu kennen, wenn auch nur oberflächlich, führt naturgemäß zur Leihbibliothek, der jedoch diese Classe seit je angehörte.

Wenn auch die pecuniären Verhältnisse diesen Leihbibliothekskunden gestatten würden, den Bedarf dem Buchhandel zu entnehmen, so liegen doch schwerwiegende Gründe dagegen vor. Kann man täglich sowie zur Leihbibliothek zur Buchhandlung um seinen Bedarf schicken? Vielleicht, wenn man sicher wäre, stets etwas Gutes zu erhalten; der Leihbibliothek sendet man das Mißfällige eben in der nächsten Stunde zurück. Der Bedarf ist zu massenhaft, und wenn gekauft, wohin endlich mit dem Wuste? Ein Buch nochmals zu lesen, kommt hier kaum vor; man liest es ja überhaupt nur, um es zu kennen, oder um einschlafen zu können. Außerdem ist hier die von Franzos[5] geschilderte „Familie Meyer“ zahllos vertreten. Vielleicht ändert sich das mit der Zeit, vielleicht gehört es in späterer Zeit mit zur Mode, Romane zu kaufen wie Gemälde und Sculpturen.

So hat einerseits die Umwandlung unserer socialen Zustände ihren Einfluß auf den Romanabsatz geübt, andererseits hat der deutsche Verleger redlich mitgeholfen, denselben zu zerstören. Die seit Anfang der fünfziger Jahre allgemein gebräuchlich gewordenen Preisherabsetzungen haben dem Publicum jede Illusion von dem pecuniären Werthe eines Romans gründlich zerstört. In früherer Zeit betrachtete man eine nach und nach gesammelte Hausbibliothek als erspartes Capital, das, wenn auch nicht Interessen tragend, doch seinen Werth behielt, der im Nothfalle wieder flüssig gemacht werden, oder den Erben hinterlassen werden konnte. Es erzielten auch zu jener Zeit bei Verlassenschaftsversteigerungen Romane oft höhere Preise, als der ursprüngliche betrug. Man lief mit einem Worte nicht Gefahr, seinen Besitz in Büchern über Nacht entwerthet zu sehen; und deshalb konnte es geschehen, daß, wie wir es erlebt, ein ehrsamer Tischlermeister sich die Romane Paul de Kock’s nach und nach anschaffte, zuerst zu seiner Unterhaltung, und dann, wie er sagte, um sie seinen Kindern zu hinterlassen.

Es fragt sich sehr, ob der Verleger früherer Zeit, der seine Verlagsreste dem Maculaturhändler verkaufte, nachdem er den Titel und ersten Bogen herausgerissen, nicht weit mehr im wohlverstandenen eigenen Interesse handelte als der heutige Verleger, der diese Reste entweder selbst oder durch die Exportbuchhandlung zu Schleuderpreisen auf den Markt sendet. Hierdurch hat sich der Verleger selbst das Absatzgebiet für seine Novitäten gründlich zerstört, wie er jetzt theilweise im Begriff steht, durch Verwendung eines unhaltbaren Papiers sich auch noch das Feld der Leihbibliotheken zu verschließen.

Wenn wir trotzdem behaupten, daß nie mehr Romane gekauft wurden als zu unserer Zeit, so werden wir den Beweis weiter unten nicht schuldig bleiben. Hausbibliotheken werden allerdings nur noch in seltenen Fällen angelegt; die Freude hieran finden wir fast nur bei unserer Jugend, doch überdauert sie nicht das Gymnasium. Diese Hausbibliothek umfaßt meistens nur die Universalbibliothek, die zugleich dem Schüler treffliches Material zu seinen Studien bietet. Wir dürfen uns jedoch keiner großen Hoffnung hingeben, daß diese Gewohnheit der Knabenjahre sich auch beim Manne erhalten werde. Während der Universitätsjahre vollzieht sich der Stoffwechsel, Buch in Bier, wobei die Erfahrung resultirt, daß das erzielte Quantum Bier in schreiendem Mißverhältniß steht zu den einstigen Anschaffungskosten der Bücher. Nach dieser Erfahrung beschließt der Jüngling, nur noch jene Bücher zu kaufen, die der Beruf erfordert.

Höre man doch endlich auf mit Klagen, die an die falsche Adresse gerichtet sind, – erkenne man endlich, daß die Ursachen des Uebels bei Denen zu suchen sind, von denen die Klagen ausgehen! Haben wir vielleicht je gesehen, daß einer von Denen, die mit so großer sittlicher Entrüstung dem Publicum, dem Leihbibliothekar ihre Vorwürfe zuschleudern, selbst mit gutem Beispiele vorangegangen sind und Romane zu zehn bis fünfzehn Mark für eine Hausbibliothek gekauft haben? Was man selbst unterläßt, wofür man hundert Entschuldigungsgründe für sich bereit hat, das glaubt man berechtigt zu sein, von Anderen verlangen zu können.

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Wenn nun auch ganze Schichten der Bevölkerung sich den ständigen Romankauf versagen, wenn die Hausbibliothek auch mehr und mehr zur Seltenheit wird, so haben wir als Ersatz dafür andere Käufer, andere Methoden.

Wir haben einmal den Gelegenheitskauf zu Geschenken und für die Reise. Sahen wir nicht, wie vor jedem Weihnachtsfeste der letzten Jahre der neue Roman von Ebers in vielen Auflagen für solche Zwecke gekauft wurde? Sehen wir nicht, wie es mehr und mehr Mode wird, den guten Roman dazu zu verwenden? Freilich mit dem Roman von Schmierowsky darf man einer bekannten Familie, der man eine Aufmerksamkeit erweisen will, nicht kommen, selbst wenn seinetwegen die große Trommel gerührt wird.

Wir haben außerdem noch den Bücherliebhaber, der allerdings auch nur mit verständiger Auswahl kauft, und alle Jene, deren Bedarf ein so geringer ist, daß die Leihbibliothek sich für ihn nicht eignet. In Summa fallen Letztere immerhin ins Gewicht.

Lassen wir nun die Zahlen sprechen, welche der Bericht einer Sortimentsfirma in Leipzig im Magazin für Literatur aufstellt. Daselbst wurden abgesetzt von October bis inclusive Januar 1884 an Romanen: von Dahn 71 Bände, von Ebers 101, Eckstein[6] 111, Freytag 186, Hopfen[7] 7, Marlitt[8] 11, Keller 28 und Meyer 55 Bände. Von Scheffel’s Ekkehard wurden in derselben Zeit 60 Exemplare, von Spielhagen’s Uhlenhans[9] 20 und von Wolff’s Sülfmeister[10] 35 abgesetzt. Wenn das in einer Buchhandlung binnen vier Monaten gekauft worden ist, so darf man wohl nicht behaupten, daß das Publicum keine Romane mehr kaufe. Die Beschränkung der Käufer auf wenige und gute Artikel und anerkannte Schriftsteller sollte indessen unseres Erachtens wohl zur Vorsicht mahnen.

Dieser lehrreiche Bericht beweist zugleich, daß die Leihbibliotheken dem Absatze nicht hinderlich sind; denn alle die genannten Romane werden vorzugsweise und in größerer Zahl durch die Leihbibliotheken verbreitet; selbst die kleinste kann ihrer nicht entrathen; und daß diese heute in dem Maße gekauft werden, daran hat die Leihbibliothek kein geringes Verdienst. Zahlen sprechen stets am deutlichsten; daher sei hier noch erwähnt, daß im Jahre 1883 bloß an Romanen und Novellen mit Ausschluß zweiter Auflagen und Dramen, Poesien, Jugendschriften etc. zusammen 441 Bände erschienen, im Gesammtladenpreise von 1347 Mark.

Daß eine solche Production von 441 Bänden das Bedürfniß selbst für die Leihbibliotheken bei Weitem übersteigt, beweist, daß von diesen im Literar-Institute Last in Wien nur eine Auswahl von 208 Bänden aufgenommen worden ist, und zwar: in je 7 bis 15 Exemplaren 181 Bände, in je 20 bis 40 Exemplaren 20 Bände; in je 60 Exemplaren 2, in je 80 Exemplaren 2, und in 110 Exemplaren 3.

Von den Leihinstituten haben wir nur noch die Nicolaische Buchhandlung[11] in Berlin, welche Novitäten in größerer Zahl als Last bezieht; von allen übrigen sind es kaum 300, welche überhaupt Novitäten aus erster Hand beziehen; diese aber beschränken sich hauptsächlich auf die Novitäten unserer anerkannten Autoren, und nur in seltenen Fällen stellen sie mehr als ein Exemplar eines Werkes auf.

Die wenigen hundert Exemplare eines Buches – sollten die wirklich alle Kauflust vernichten können? – „Ja“, hören wir, „der Leihbibliothekar kann mit einem Exemplar tausend Leser befriedigen“! O, möchten die Herren doch einmal ein Buch, das durch nur 50 Hände gegangen ist, sich ansehen, ob es noch brauchbar ist. Bei vielen der Werke der letzten Jahre genügen zwanzig Leser, um es für jeden weiteren Gebrauch unmöglich zu machen.

Schriftsteller, Verleger, Buchhändler und Leihbibliothekar arbeiten alle gemeinschaftlich im Dienste der Literatur; wozu der Zwist? Der Nachtheil des Einen kann nicht der Vortheil des Anderen sein. Ein freundschaftliches Zusammenwirken kann aber der Tantièmeforderung des Schriftstellers an den Leihbibliothekar zum Siege verhelfen.[12]

Anmerkungen

[1] Von J. Kürschner begründetes Familienblatt (1881–1905) mit hoher Auflage. [Alle Fußnoten stammen aus: Max Bucher, Werner Hal, Georg Jäger und Reinhard Wittmann, Hrsg., Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880, 2 Bände. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1975, Bd. 2, S. 669–71.]
[2] Ebenfalls ein illustriertes Familienblatt, jedoch von geringerer Verbreitung, herausgegeben von C. Guerdon und Franz Scherer, Wien. S. 1880ff.
[3] Henriette Paalzow (1788–1847), beliebte vormärzliche Erzählerin (Godwie-Castle, 3 Bde., 1836), deren Schriften zur bevorzugten Lektüre des preußischen Hofes zählten.
[4] bäuerliche Fronarbeit.
[5] Gemeint wohl der Artikel: „Autorrecht und Leihbibliothek“ von Karl Emil Franzos (in Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 1884, S. 179–180, 217–219).
[6] Ernst Eckstein (1845–1900), Romancier und Feuilletonist, 1874–82, Herausgeber der Deutschen Dichterhalle.
[7] Hans Hopfen (1835–1904), hauptsächlich Romancier, Mitglied des Münchner Dichterkeises, 1888 nobilitiert.
[8] Eugenie Marlitt (eigentlich E. John, 1825–1887), Autorin sozialkritischer Trivialromane, die sowohl im Vorabdruck der Gartenlaube als auch in den Buchausgaben überaus erfolgreich waren.
[9] Erschienen 1884.
[10] Erschienen 1883 (2 Bde.).
[11] Als Leihbibliothek unter dem Namen F. Borstell.
[12] Der Allgemeine Deutsche Schriftstellerverband diskutierte nach 1882 die Einführung einer Leihbibliotheksabgabe als Entschädigung für die gewerbliche Nutzung geistigen Eigentums. Albert Last stimmte als Interessenvertreter der Leihbüchereien einer solchen Autorensubventionierung grundsätzlich zu, doch führte eine umfangreiche publizistische Kontroverse über deren Modalitäten zu keinem konkreten Ergebnis.

Quelle: Albert Last, „Der Einfluß der Leihbibliotheken auf den Roman-Absatz“, in Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 51/162 (1884): S. 3246–49; abgedruckt in Max Bucher, Werner Hal, Georg Jäger und Reinhard Wittmann, Hrsg., Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880, 2 Bände. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1975, Bd. 2, S. 669–71.