Kurzbeschreibung

Der wirtschaftliche Boom der Gründerzeit von 1871 bis 1873 wurde teilweise geschürt durch die hohen Reparationszahlungen, die den Franzosen nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 auferlegt und von ihnen rasch abgezahlt wurden. Gegen Ende dieses kurzen Zeitraums erschütterte eine Finanzkrise die europäische und amerikanische Wirtschaft. Viele Kleininvestoren, die ihre Ersparnisse in betrügerische Eisenbahnvorhaben, anfällige Banken oder spekulative Aktienbörsen gesteckt hatten, verloren alles. Die Kritiker waren schnell bei der Hand und schoben die Schuld für die angebliche Funktionsstörung des Kapitalismus auf die Liberalen, Juden und sogar Bismarcks Berater. Dieses satirische Gedicht verfasste Ernst Neu, ein Ingenieur in den Essener Kruppwerken. Unter dem Titel „Das Ende“ erschien es im satirischen Witzblatt Kladderadatsch. Es präsentiert eine humorvolle Essener Lokalsicht auf das Gründerfieber jener Jahre.

Satirisches Gedicht gegen die Spekulanten der Gründerzeit (ca. 1873)

  • Ernst Neu

Quelle

Ernst Neu, „Das Ende“

Es jobbert[1] der Jude, es jobbert der Christ,
Es jobbern die Krämer und Schreiber,
Es jobbert der Gastwirt, der Prokurist,
Der Rechtsanwalt und sein Kopist,
Es jobbern die Kinder und Weiber.

Zu Haus, im Freien, beim Bier und Wein,
Beim Mittagstisch und im Bette,
Beim Skat und im Gesangverein –
Da wird gejobbert grob und fein,
Da schachert man um die Wette.

Der Kurs der Papiere, der Mergel, der Fliess,
Sind heute der einzige Gedanke,
Ein Bohrloch erscheint als Paradies,
Von Anteilscheinen ein halbes Ries[2]
Ruht statt des Geldes im Schranke.

Der Tempel des Schwindels ragt stolz empor,
Und glänzt durch blankes Gepränge:
Verlockende Töne berauschen das Ohr:
Hinein durch das vergoldete Tor,
Drängt das Volk in wirbelnder Menge.

Doch knistert’s schon laut in den Balken und kracht,
Als nagte der Wurm am Tempel:
Doch siehe, die Pleite kommt über Nacht,
Und ehe noch einer daran gedacht,
Bricht donnernd zusammen der Krempel –

Begräbt unter Trümmern der Hoffnungen viel,
Und schlägt manche blutende Wunde,
Vernichtet den Jobber mit Stumpf und Stiel –
Der Gründer allein hat gewonnen beim Spiel:
Und den letzten beissen die Hunde!

Anmerkungen

[1] Abegeleitet vom Hauptwort „jobber“, das im Englischen soviel wie Zwischenhändler, Aktienhändler, aber auch „Schreiber“ bedeutet. [Alle Fußnoten stammen aus: Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C. H. Beck, 1982, S. 21–22.]
[2] Altes Papiermaß.

Quelle: Ernst Neu, „Das Ende“, erstveröffentlicht in Kladderadatsch, ca. 1873; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C. H. Beck, 1982, S. 21–22.

Satirisches Gedicht gegen die Spekulanten der Gründerzeit (ca. 1873), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-1780> [07.11.2024].