Kurzbeschreibung

Der Verein für Sozialpolitik wurde im Oktober 1873 in Eisenach von einer Gruppe von Ökonomen und Politikern (hauptsächlich) der progressiven und nationalliberalen Partei gegründet (siehe Text A). Ihr Ziel war es, die Grundlage für eine Sozialreform zu schaffen, die die Bedürfnisse des Staates, aber auch die Not der Arbeiterschaft und das Entstehen einer Arbeiterbewegung berücksichtigte. Schon bald geriet die Vereinigung in die Kritik anderer Liberaler, die Gewerkschaften und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft ablehnten. Einer dieser Kritiker, Heinrich Bernhard Oppenheim, bezeichnete die Reformer als „Kathedersozialisten“. (Eine andere zeitgenössische Sichtweise findet sich in Heinrich von Treitschkes polemischem Aufsatz aus dem Jahr 1874, „Der Sozialismus und seine Gönner“, der ebenfalls in diesem Band veröffentlicht wird). In den 1890er Jahren hatte der Verein für Sozialpolitik viel von seinem ursprünglichen Schwung verloren: Seine Mitglieder wandten sich wissenschaftlichen Debatten und der Veröffentlichung umfangreicher Berichte über die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft zu. In den Texten B und C berichtet Gustav Schmoller (1838-1917), ein führendes Mitglied des Vereins, ausführlich über die Bemühungen und Erfolge des Vereins bis in die 1890er Jahre.

Der Verein für Sozialpolitik (1872–1897)

Quelle

A. Aufruf zur Gründung eines Vereins für Sozialpolitik (31. Mai 1873)

Die Eisenacher Versammlung vom 7. Oktober 1872 zur Besprechung der sozialen Frage hat den unterzeichneten Ausschuß beauftragt, in diesem Jahre eine Zusammenkunft in gleichem Sinne zu berufen.

Für unsere Auffassung der sozialen Zustände beziehen wir uns auf die gedruckten Verhandlungen der vorjährigen Versammlung (Verhandlungen der Eisenacher Versammlung usw., Leipzig 1873).

Aus der Gesamtheit der mehr oder weniger berechtigten Versuche zur Weiterbildung der heutigen Erwerbsgesellschaft tritt zur Zeit der Streit zwischen Kapital und Arbeit gefahrdrohend hervor. Wir sind der Ansicht, daß hier für Staat und Gesellschaft dringende Aufgaben der friedlichen Reform vorliegen.

Zunächst wird es darauf ankommen, die Verhältnisse der Arbeiter und deren Beziehungen zu den Arbeitgebern aufzuklären, die Erfordernisse genossenschaftlicher Bildungen festzustellen, ihre gedeihliche Entwicklung zu unterstützen und jede Verständigung der streitenden Parteien zu fördern.

In gleicher Weise sollen die übrigen sozialen und ökonomischen Probleme der Zeit, wie Gesundheits- und Unterrichtswesen, Verkehrs-, Aktien- und Steuerwesen, in Betracht gezogen werden.

Wir sind der Überzeugung, daß das unbeschränkte Walten teilweise entgegengesetzter und ungleich starker Einzelinteressen das Wohl der Gesamtheit nicht verbürgt, daß vielmehr die Forderungen des Gemeinsinns und der Humanität auch im wirtschaftlichen Leben ihre Geltung behaupten müssen, und daß das wohlerwogene Eingreifen des Staates zum Schutze der berechtigten Interessen aller Beteiligten zeitig wachzurufen ist.

Diese staatliche Fürsorge sehen wir nicht als Notbehelf oder als unvermeidliches Übel an, sondern als Erfüllung einer der höchsten Aufgaben unserer Zeit und unserer Nation. In ernster Durchführung dieser Aufgaben wird sich der Egoismus des Einzelnen und das nächste Interesse der Klassen der dauernden und höheren Bestimmung des Ganzen unterordnen.

Wir glauben, daß ein regelmäßiger Gedankenaustausch zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, Männern der Theorie und Praxis, wesentlich zu einer Verständigung beitragen wird, und fordern die früheren Teilnehmer und alle Gesinnungsgenossen, insbesondere auch Verwaltungsbeamte, zum Erscheinen in Eisenach am 12. Oktober dieses Jahres und zum Eintritt in den zu gründenden Verein auf.

Berlin, den 31. Mai 1873.

Der Ausschuß

Dr. Bitzer, Staatsrat. Borchert jun. Prof. Dr. Brentano. Franz Duncker. Dr. J. Eckardt. Dr. Engel. Geh. Oberregierungsrat. Geibel jun. Prof. Dr. Gneist. Prof. Dr. Frhr. v. d. Goltz. Prof. Dr. Held. Prof. Dr. Hildebrandt. Prof. Dr. v. Holtzendorff. Dr. Max Hirsch. L. Jacobi, Geh. Regierungsrat. Prof. Dr. Knapp. Prof. Dr. Knies. Dr. Löwe-Kalbe. Dr. Meitzen. Geh. Regierungsrat. Dr. Mithoff. Prof. Dr. Nasse. Rud. Ranisch. Frhr. v. Roggenbach, Staatsminister a. D. Prof. Dr. Roscher, Geh. Hofrat. Prof Dr. Schmoller. Sombart (Ermsleben). J. Schulte, Handelskammersekretär. Prof. Dr. v. Sybel. Thorade, Bankdirektor. Tiedemann, Landrat. Prof. Dr. Wagner. v. Wedell-Malchow. Prof. Dr. Wirth.

B. Aus der Eröffnungsrede Schmollers nach seiner Wahl zum Vereinsvorsitzenden auf der Frankfurter Tagung von 1890

Als wir im Jahre 1872 unsere Vereinstätigkeit begannen, war unsere Aufgabe eine einfache. Einer Regierung und einer Reichstagsmajorität gegenüber, welche in der Geldflut der Gründerjahre sich nur des ungeheuren Fortschritts der Technik und des Wohlstands freute, die soziale Frage leugnete, jede soziale Reform ablehnte, die große, schon tiefgreifende Bewegung der Arbeiterklasse verkannte, galt es auf das Berechtigte in den Forderungen der Arbeiter hinzuweisen, Stimmung überhaupt für soziale Reformen zu machen. Mit kühnem, jugendlichen Mut stellte unser Verein damals die größten und schwierigsten Fragen auf seine Tagesordnung; wir debattierten über Fabrikgesetzgebung, Arbeitsvertrag, Gewerkvereine, Lehrlingswesen, Schiedsgerichte, Einigungsämter, Hilfskassenwesen, gerechte Besteuerung, Reform der Gewerbeordnung und anderes. Die Verantwortung für das einzelne in unseren Beschlüssen war insofern noch keine große, als die praktische Ausführung derselben noch in weiter Ferne stand. Wir kamen dann von den Jahren 1877 bis 1880 an dadurch in wesentlich andere Lage, traten in die zweite Epoche unseres Daseins, daß ein tiefgreifender Umschwung unserer staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik eintrat, teilweise unter dem Einflusse unserer Bestrebungen, jedenfalls unter Beifall und Zustimmung von vielen unserer Mitglieder. Aber eine Beeinflussung jener Politik im einzelnen lag außerhalb unserer Vereinstätigkeit. Die neue Sozialpolitik des Deutschen Reiches war ausschließlich oder überwiegend vom Fürsten Bismarck bestimmt. Unser Verein hatte mit dieser Wendung die Aufgabe verloren, die ihm in den ersten Jahren gestellt war. Wir wandten unsere ganze Kraft der Schriftenpublikation zu, suchten über eine Reihe der wichtigsten sozialpolitischen Fragen, Vorarbeiten, Gutachten, gesammelte Darstellungen der Tatsachen zu publizieren; wir können heute stolz sein auf die stattliche Reihe unserer 46 Bände. In unseren Generalversammlungen ließen wir entsprechend der sozialpolitischen Lage die großen prinzipiell wichtigsten Fragen zurücktreten und begnügten uns, sozialpolitische Gegenstände zu besprechen, denen die aktive Regierungspolitik sich zunächst noch weniger zugewandt hatte, wie die internationale Fabrikgesetzgebung, den Wucher, die Verschuldung des Bauernstandes und sein Erbrecht, die innere Kolonisation und derartiges.

Nun ist die Sachlage wieder eine wesentlich andere geworden. Unsere innere Politik ist nicht mehr so wie bisher von der Allmacht eines großen führenden Staatsmannes bestimmt. Damit ist den vorhandenen verschiedenen Strömungen und Richtungen der Interessen, der Parteien und Überzeugungen ein freies Spiel der Betätigung eingeräumt; sie kämpfen jetzt energischer als je um den Vorrang, um die Herrschaft in der öffentlichen Meinung, im Parlament, in der Regierung; die Probleme aber, die es zu lösen gilt, erscheinen trotz allem, was die deutsche Sozialpolitik schon geleistet, kaum leichter, als in den siebziger Jahren. Freilich stehen wir nicht, wie damals, einer manchesterlichen Regierung gegenüber, die alle Sozialreform ablehnt; alle Parteien und Interessengruppen geben zu, daß noch einiges zu geschehen habe. Aber über das „Was“ und „Wie viel“ ist auch heute gleich erbitterter Streit. Die Resultate unserer großen Hilfskassengesetzgebung mag man noch so hoch schätzen, wir sehen das eine heute doch ganz klar, daß sie den Kern der sozialen Frage, die Ordnung des Arbeitsverhältnisses, nicht berührt. Die Reform unserer Gewerbeordnung und der Fabrikgesetzgebung 1878 bis 1883 war ein erheblicher Fortschritt, aber daß sie nicht genügte, gibt jetzt fast jeder zu; über das Maß, der weiteren Reform herrscht ein täglich noch anwachsender Kampf. Der Frage eines Arbeitsvereinsgesetzes ist man bisher scheu aus dem Wege gegangen; die Zunahme der Arbeitseinstellungen, der Koalitionen, der Verbände hat man dadurch nicht gehindert. Die verschobenen Probleme der Steuerreform, der Landgemeindereform pochen mit einer größeren Dringlichkeit an unsere Tore. Die lange volkswirtschaftliche Krisis ist vorbei, die Preise haben sich gehoben, wir haben bereits eine Hausseperiode hinter uns; aber die große Frage der Produktionsregulierung durch Kartelle, Schutzzölle und andere Mittel ist nicht verschwunden; sie hängt aufs engste mit der Regulierung des Arbeitsangebots, mit den Arbeitseinstellungen usw. zusammen. Wir stehen mit diesen Problemen vor der – ich möchte sagen – ungeheuren Frage, ob die ganze Art der freien Konkurrenz und ein gutes Teil individueller Freiheit, wie sie seit 100 Jahren als die sichersten Postulate der Doktrin und des praktischen Lebens aufgestellt, geglaubt, ins Leben eingeführt wurden, nicht mehr oder weniger verschwinden werden.

Der Ausschuß hat von diesen großen schwierigen Fragen zwei auf unsere diesmalige Tagesordnung gestellt: die Fortbildung des Arbeitsvertrages und die Reform der ländlichen Kommunalverfassung im Osten der preußischen Monarchie; wir haben die Debatten durch fünf Bände publizierter und an die Mitglieder versandter Schriften vorbereitet; der Ausschuß hat allen den Herren seinen verbindlichen Dank zu sagen, die hiezu mitgewirkt haben. Je bedeutungsvoller diese beiden Gegenstände sind, desto größere Beachtung werden unsere Debatten finden, zumal, wenn wir sie in jenem Geiste ruhiger wissenschaftlicher Objektivität führen, den unsere Traditionen fordern. Wir sind keine Partei- und keine Interessentenversammlung. Wir sind Patrioten, Gelehrte, Geschäftsleute, Beamte, die sich gegenseitig und durch ihre Debatten andere belehren und aufklären wollen. Wir sind ein wissenschaftlicher Verein, der zugleich eine Wirkung auf die öffentliche Meinung, wie der beste Teil unserer Presse, ausüben will. Wir wollen, wie der Chor der antiken Tragödie die leidenschaftlichen Handlungen der Bühne begleitet, ruhig und leidenschaftslos zur Seite stehend, für das Wahre und Gute, für das Billige und das Gerechte eintreten, und versuchen, diesen höchsten Mächten des Menschenlebens ein größeres Gewicht zu verschaffen. Lassen sie uns hoffen, daß wir, wie bisher, so auch heute und morgen in diesem Geiste unsere Verhandlungen führen. Unsere Verantwortlichkeit ist heute eine größere als jemals früher, weil es sich heute nicht mehr, wie in den siebziger Jahren, darum handelt, überhaupt nur Stimmung für soziale Reformen zu machen, sondern abzuwägen, welche Schritte im einzelnen möglich, welche die besten und segensreichsten für unser Vaterland sein werden! –

C. Schmollers Eröffnungsrede zum 25-jährigen Bestehen des Vereins auf der Kölner Tagung von 1897

Zur Eröffnung unserer Verhandlungen darf ich daran erinnern, daß wir mit unserer diesjährigen Generalversammlung zugleich das 25 jährige Bestehen des Vereins feiern. In den ersten Oktobertagen 1872 trat in Eisenach eine Anzahl Männer aller politischen Parteien zu einer Beratung über die wichtigsten sozialen Fragen der Zeit, Fabrikgesetzgebung, Gewerkvereine und Wohnungsfrage, zusammen. Daraus entstand unser Verein. Man darf ohne Zweifel die Epoche von 1862 bis 1875 die wichtigste Zeit unseres Jahrhunderts für unser Vaterland nennen; das neue Deutsche Reich entstand, die deutsche Volkswirtschaft reckte zum erstenmal ihre Glieder so, daß man ihre Ebenbürtigkeit neben Westeuropa erkannte; die neue soziale Schichtung der Gesellschaft war das Ergebnis der ungeheueren technischen und volkswirtschaftlichen Fortschritte; die sozialen Probleme pochten an die Pforte der Gesetzgebung, der moderne Arbeiterstand erwachte zum Selbstbewußtsein. Die Gesetzgebung arbeitete fieberhaft, aber noch steckten den Deutschen der philisterhaft kleinstaatliche Sinn, die Traditionen der alten Zeit, die einseitigen Ideale der individualistischen Aufklärung in allen Gliedern. Neue Ideale mußten sich bilden, neue soziale Ordnungen und Institutionen entstehen.

Ein Ausdruck dieser Gärung, dieses Strebens war die Bildung des Vereins für Sozialpolitik. Zwischen den Elementen, welche aus dem politischen Radikalismus und Republikanismus der vierziger und fünfziger Jahre erwachsen, utopischen und revolutionären, jedenfalls die ganze gegenwärtige Gesellschaftsordnung vernichtenden sozialen Idealen zuneigten, und denen, welche optimistisch und zufrieden alles Bestehende vortrefflich fanden, die Arbeiterfrage leugneten, in der freien Konkurrenz die Lösung aller sozialen Rätsel fanden, standen zahlreiche Denker und Politiker, Geschäftsleute und Journalisten, Menschenfreunde und Nationalökonomen, welche von Klasseninteresse, doktrinärer Parteischablone und hergebrachter national-ökonomischer Lehrmeinung frei neben einem politischen an einen sozialen Fortschritt glaubten, ihn suchen wollten, mit offenem Blick für die sozialen Mißstände und Kämpfe die soziale Wirklichkeit erkennen, an das Bestehende anknüpfend für die soziale Reform eintreten wollten.

Es war stets eine kleine Gruppe von Männern; sie haben keine parlamentarische oder sonstige Partei bilden, nicht ausschließlich in den Dienst einer Partei oder eines Klasseninteresses sich stellen wollen; daher konnten sie nicht die Massen um ihre Fahne sammeln. Sie wollten nur durch ihre Tätigkeit aufklären, die Wahrheit ins Licht stellen, durch ihre Reden und Schriften, ihre Versammlungen und Publikationen in alle Parteien und Klassen eine größere Erkenntnis der sozialen Dinge hereinbringen, den berechtigten praktischen Idealen einer durchführbaren sozialen Reform die Wege bahnen. Wir haben unserer Mitglieder nie auf ein soziales Programm eingeschworen, wir haben bald in unseren Generalversammlungen nicht mehr abgestimmt. Wir haben nur vertraut, durch gute Gründe und Beweise, durch die Macht der Wahrheit und Gerechtigkeit auf weitere Kreise zu wirken.

Unser Ausschuß ist seit den 25 Jahren jährlich ein- bis zweimal zusammengetreten, hat die Schriften und Generalversammlungen vorbereitet. Solche haben wir nur 13 bisher abgehalten. Aber in den 74 Bänden unserer Schriften haben wir unsere Gedanken und Ideale, unsere Vorschläge und Beiträge zur Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit niedergelegt. In ihnen liegt der Schwerpunkt unserer Wirksamkeit. Es läßt sich mit wenigen Worten sagen, worauf unsere wichtigsten Schriften und daran anknüpfend unsere Verhandlungen sich bezogen haben.

Eine erste Gruppe beschäftigte sich mit der Handels-, Auswanderungs-, Währungs- und Steuerpolitik, diesen allgemeinsten Fragen der Volkswirtschat. Hauptsächlich haben wir an den zwei großen Wendepunkten unserer deutschen Handelspolitik 1879 bis 1892 die einschlägigen Fragen erörtert, 1892 bis 1894 ein großes Sammelwerk geschaffen, das die Handelspolitik aller Kulturstaaten von 1860 bis 1892 darstellt. Wir glaubten damit von dem sozialen Kern unserer Aufgabe nicht abzuschweifen. Jeder Tieferblickende weiß, wie sehr von der staatlichen Macht, dem handelspolitischen Einfluß, dem Zolltarif und den Handelsverträgen gerade auch die Lage der unteren Klassen der Arbeiter in jedem Lande abhängt. Man könnte sagen, es sei bedauerlich, daß dies in Deutschland noch nicht genug, noch nicht so wie zum Beispiel in England erkannt werde. Wir gehen einem handelspolitischen Ansturm der großen Weltreiche gegen die mittleren und kleineren Kulturstaaten entgegen, der für unsere soziale Zukunft und die Lage auch der unteren Klassen in Deutschland vielleicht für länger eine der wichtigsten Lebensfragen sein wird.

Die zweite Gruppe unsere Schriften bezieht sich auf die Unternehmung, hauptsächlich auf die gewerblichen Unternehmungsformen. Wir haben über das Aktiengesellschaftswesen verhandelt, und die damals von uns und anderen gegebenen Anregungen führten zur Reform des Aktiengesetzes im Jahre 1884. Wir haben eine Reihe von Bänden über die deutsche Hausindustrie und jetzt neuen Bände über das deutsche und zwei über das österreichische Handwerk und seine Konkurrenzfähigkeit veröffentlicht, über welche wir heute noch verhandeln werden. Über die Kartelle haben wir vor einigen Jahren eine Sammlung von Berichten publiziert, dann über sie debattiert. Es gibt in der Literatur nichts Besseres darüber, als unsere Schriften und was sich daran anschloß.

Neben diesen gewerblichen stehen die agrarisch-sozialen Fragen, die wir als dritte Gruppe unserer Tätigkeit bezeichnen können. Die agrarische Krisis, das Erbrecht am Grundeigentum, die Erhaltung des Bauernstandes, die innere Kolonisation, der Wucher, die ländlichen Kreditfragen, endlich die ländliche Arbeiterfrage, all das hat uns wiederholt beschäftigt. Enge schlossen sich an diese Gegenstände unserer Schriften und Debatten die über die ländliche Gemeindeverfassung an, welche die endliche Ordnung dieser wichtigen Materie in den Jahren 1891 bis 1892 vorbereiten halfen. Wir werden morgen zur ländlichen Kreditfrage zurückkehren und damit zu einer der wichtigsten in bezug auf die Erhaltung des Bauernstandes, des Klein- und Mittelbetriebes auf dem Lande. Die neuen Gestaltungen, die sich in dieser Richtung seit 30 Jahren in Deutschland entwickelt haben, zumal die neueste Ausbildung des ländlichen Genossenschaftswesens können in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden.

Die letzte und wichtigste Gruppe unserer Schriften und Debatten bezieht sich auf den engeren Kreis der gewerblich-sozialen Frage. Wir haben Schriften veröffentlich und verhandelt über die Fabrikgesetzgebung und die Reform der Gewerbeordnung, über die Wohnungsfrage und die Gewinnbeteiligung der Arbeiter, über den Arbeitsvertrag und seine Fortbildung, über Arbeitseinstellungen und Gewerkvereine, über Schiedsgerichte und Einigungsämter, über Haftpflicht und Arbeiterversicherung, über Alters- und Invalidenkassen. Wir werden am dritten Tage unserer diesjährigen Generalversammlung zu der wichtigen Frage des Arbeiter-, Vereins- und Koalitionsrechtes zurückkehren.

Aus diesem kurzen Bilde unserer Tätigkeit ergibt sich schon ungefähr, was wir gewollt und erstrebt haben. Wir wollten nie die Volkswirtschaft von Grund aus umgestalten, nie den Plan einer vollendeten sozialen Zukunft vorlegen. Wir wollten nur mit der Leuchte der Wissenschaft den Wegen der Praxis vorangehen, uns selbst und womöglich das Vaterlang über das Einzelne und Konkrete der sozialen Tatsachen und der Reformen belehren, in den Kämpfen des Tages, der Interessen und Leidenschaften der Stimme der Billigkeit, der Vernunft, der Wissenschaft Gehör verschaffen.

Ist unsere Tätigkeit in diesen 25 Jahren umsonst gewesen? Hat sie Gutes und Nützliches gewirkt? Es ist bekannt, daß von rechts uns zugerufen wird, wir seien unpraktische Doktrinäre, die nur geschadet, von links, wir seien feige Vermittler, welche keine großen und neuen Ideen vorbereitet hätten. Wir sind zeitweise von der sozialdemokratischen, zeitweise von der bürgerlichen Presse aufs heftigste geschmäht worden. Das ist natürlich; ich möchte sagen, es wäre schlimm, wenn es nicht geschehen wäre. Es beweist das eben für unsere Wirksamkeit. Andererseits ist aber auch wohl begreiflich, daß dieselben Feinde, die uns heute als gefährlich oder feige angriffen, morgen uns sagten, unserer ganze Tätigkeit sei überhaupt belanglos gewesen, habe die sozialpolitischen Geschickte unseres Vaterlandes nicht irgendwie beeinflußt.

Die Sozialdemokratie hat immer wieder betont, ihre Tätigkeit, nicht unsere, habe den Stein der sozialen Reform ins Rollen gebracht, Das ist in gewissem Sinne wahr. Ihre Tätigkeit hat eine politische organisierte Macht zur Grundlage; die Sozialdemokratie vertritt ein mächtiges Klasseninteresse. Wir sind ein Häufchen Gelehrter und humaner Praktiker. So wie die Sozialdemokratie konnten und wollten wir gar nicht wirken. Aber beweist das, daß wir nicht in anderer Weise gewirkt haben?

Das Unternehmertum hat uns immer wieder der zu großen Arbeiterfreundlichkeit beschuldigt. Arbeiterfreundlich sind wir gewesen und wollen wir noch sein, sofern wir die Hebung der unteren Klassen für eine Lebensbedingung unserer Gesellschaft und unseres Staates, die zu große soziale Kluft in Gesittung und Einkommen für eine der größten Gefahren der Gegenwart ansehen. Aber wir sind deshalb nicht den Unternehmern feindlich, deren Verdienst als Führer und Offiziere der volkswirtschaftlichen Armee wir stets anerkannt haben. In der letzten Session des preußischen Abgeordnetenhauses wurde der Vorwurf gegen uns erhoben, sogar mit Berufung auf einen Geheimen Rat – als ob das unbedingt beweise – wir hätten keinen einzigen Baustein geliefert, welcher direkt der sozialen Reformgesetzgebung Deutschlands zugute gekommen wäre. Wir haben, da wir keine politische Partei sein wollen, natürlich auch keinen Gesetzentwurf ausgearbeitet, wie die Geheimen Räte und Parlamentarier. Aber die geistig soziale Bewegung, die von uns ausging, hat als Sauerteig die weitesten Kreise beeinflußt. Wir können ohne Überhebung sagen, daß wenn heute eine andere soziale Gedankenwelt Deutschland durch alle Schichten hindurch beherrscht, als 1866 bis 1872, wenn heute niemand mehr Manchestermann heißen will, jedermann über die sozialen Pflichten und Rechte des Staates anders denkt als damals, wenn die Grundzüge unserer Arbeiterversicherung, unserer Arbeitsschutzgesetzgebung, unseres ganzen modernen sozialen Rechtes doch eigentlich von keiner Partei mehr ernstlich bestritten werden – , dies zwar nicht Folge unseres Vereins, aber der großen geistigen und wissenschaftlichen Bewegung sei, deren Fäden am meisten in unserem Verein zusammenlaufen.

[]

Quelle: Franz Boese, Geschichte des Vereins für Sozialpolitik. Berlin: Duncker & Humblot, 1939, S. 248–49, 250–52, 253–57.

Erik Grimmer-Solem, The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany, 1864–1894. Oxford: Oxford University Press, 2003.

Der Verein für Sozialpolitik (1872–1897), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-5076> [26.04.2024].