Kurzbeschreibung

Als noch kein umfassendes Sozialsystem geschaffen war, brachte die Verletzung oder der Tod des Ernährers finanziell schwache Arbeiterfamilien leicht an den Rand des Ruins. Dieser Auszug aus den Erinnerungen eines vaterlosen Feilenhauers malt ein erschütterndes Bild der Schwierigkeiten verwitweter Arbeiterfrauen und ihrer Kinder, die man häufig bei Verwandten oder Fremden unterbringen musste, um das Überleben der Familie zu sichern.

Ein Feilenhauer erinnert sich an seine vaterlose Kindheit (1879–1909)

  • Alwin Hussels

Quelle

Als Sohn der Eheleute Karl Hussels und Emma Hussels, geb. Conrads, wurde ich am

7. Februar 1879 zu Tattscheid, Kreis Solingen geboren. Meine Mutter war bis dahin Fabrikarbeiterin. Mein Vater Plüschweber u. Witwer mit einem Kinde. Als ich ein Jahr drei Monate alt geworden, starb mein Vater an Tuberkulose. Nun stand meine Mutter mit zwei Kindern allein da, weil Sie auch Plüschweben gelernt hatte, versuchte Sie anfangs den eigenen Haushalt weiter zu führen, aber durch den kargen Lohn, etwa 6 bis 8 Mark pro Woche, mußte Sie zu anderen Mitteln greifen. Sie vermietete sich nun zuerst bei einen Butterhändler, und von da ab bei Kleinbauern. Daß machte Sie acht Jahre lang, während dieser Zeit wurde ich bei Bekannte u. Verwandte untergebracht, dagegen mein Halbbruder kam in fremde Hände, er war nun ganz verlassen, ist aber auch frühzeitig an Schwindsucht gestorben. Vom 6. bis zum 9. Jahre besuchte ich vier der verschiedensten Volksschulen, ich war auf mich selbst angewiesen, und mußte mich so gut durch arbeiten, wie eben möglich. Meine Verwandte waren auch froh daß Sie von einem Tag an den anderen kamen. Im Jahre 1888 trat eine Änderung ein, meine Mutter war daß Schuften bei den Kleinbauern satt geworden, u. hatte jedenfalls wieder Sehnsucht nach einem eigenen Heim bekommen, u. nun heiratete Sie den Feilenhauer G.H., dieser hatte ein kleines altes Häuschen, war Witwer u. hatte drei Kinder. Ohnedem noch verwachsen, aber ein sehr fleißiger Mann. Nun war ich noch weiter von meiner Mutter getrennt, wenn ich auch früher nicht bei ihr war. Sie besuchte mich aber alle zwei bis drei Wochen, brachte mir viel mit, dadurch hing ich arg an Ihr. Um diese Zeit war ich bei meinen Großeltern, da sollte ich nun auch bleiben, aber für mich gab es kein Halt mehr und mußte auch ins neue Heim, meine Mutter nahm mich auch endlich mit, vor lauter Weinen was ich tat. So gerne ich auch nun bei meiner Mutter war, aber im neuen Heim, traten mir die Bilder des Elends in verschärftem Maße entgegen. Es war auf einmal eine sechsköpfige Familie geworden, ein Jahr später kam noch ein kleines Brüderchen hinzu. Da waren es sieben an der Zahl. Unsere Familie war in drei kleinen Räumen untergebracht. Kochküche, Arbeitsraum, ein kleines Schlafzimmer, wo nur zwei Bett stehen konnten. In einem Bett schliefen vier, im anderen drei, aber daß war noch daß wenigste. Mein Stiefvater war durch sein Unglück was Ihn getroffen hatte, in Schulden geraten, etwa zwei bis dreihundert Mark, nun brach auch 1890 ein Feilenhauerstreik aus, überhaupt eine schlechte Zeit trat ein, keine Arbeit u. die Schulden wurden immer größer. Schwermut u. Bedrücktheit griffen nun Platz. Die Ehe war nicht mehr wie zu Anfang, als Elfjähriger Junge mußte ich sehen, wie sich Meine Mutter und Stiefvater schlugen, u. schimpften. Aber diese Zeit änderte sich auch noch mal, Arbeit gab es wieder, nun wurde aber auch von früh bis spät gearbeitet. Ich und mein Stiefbruder wurden auch zur Gewerblichen Arbeit herangezogen, Morgens vor der Schule mußten wir Feilen kippen, Mittags u. Abends, Sonntags Kegel aufsetzen um aus der bedrückten Lage mal wieder heraus zu kommen. Aus der Schule entlassen, kam ich auch in die Haustube. Feilenhauer war zu dieser Zeit meist Heimarbeit, von Morgens 6 Uhr bis Abends 9 Uhr wurde gearbeitet. Sonntags beschäftigte ich mich mit Kegel u. Kartenspiel. Mein Stiefbruder dagegen, beschäftigte sich hauptsächlich mit Lesen. Er bekam die Elberfelder Freie Presse, er holte sich Bücher aus der Bibliothek, des Sozialdemokratischen Volks-Vereins Wermelskirchen und nun erzählte er mir fortwährend was er gelesen hatte, dieses trieb mich auch bald von meinem Spiel ab, ich kam mehr ans Nachdenken und führte mich bald zur Organisation, in den Feilenhauer-Verein, Lokalgewerkschaft, später zur Partei, u. in den Deutschen Metallarbeiter Verband.

Quelle: Alwin Hussels in Adolf Levenstein, Hrsg., Proletariers Jugendjahre. Berlin, 1909, S. 53–54; abgedruckt in Klaus Saul, Jens Flemming, Dirk Stegmann und Peter-Christian Witt, Hrsg., Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871–1914. Düsseldorf: Droste, 1982, S. 38–40.