Kurzbeschreibung

Deutschlands sprunghaft ansteigendes Bevölkerungswachstum machte die Wohnungsbeschaffung zu einem sozialen Problem enormen Ausmaßes. In den 1860er Jahren wurden Mietwohnungen zuerst in Berlin, dann in anderen größeren Städten errichtet. Doch vier von fünf ungelernten Arbeitern in Berlin lebten noch immer in winzigen Wohnungen mit nur einem beheizten Zimmer. Viele Wohnungen mussten zusätzlich einem Schlafgänger oder einem Kostgänger als Unterkunft dienen. Der vorliegende Textausschnitt beschreibt solche Lebensbedingungen. Der Verfasser dieses Berichts ist Paul Göhre (1864–1928), ein protestantischer Pastor und Sozialreformer, der drei Monate als Fabrikarbeiter in Chemnitz verbrachte, um das Arbeiterdasein zu erleben und die Klassenbeziehungen zu untersuchen. Seine Beobachtungen wurden in dem Buch Dreieinhalb Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie veröffentlicht. Hier schildert Göhre die Wohnbedingungen, auf die er stieß, und erörtert die Wirkung von Schlaf- und Kostgängern auf die Familien, die sie aus wirtschaftlicher Notwendigkeit aufnehmen mussten.

Arbeiterwohnungen in Chemnitz und Berlin (1890)

  • Paul Göhre

Quelle

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Wie es nun innen in den Wohnungen aussah? Gut, mittelmäßig, schlecht – das kam auf viele verschiedene Ursachen an. Ein Sofa, ein häufig runder Tisch, eine Kommode, ein größerer Spiegel, mehrere Rohr- und noch mehr Holzstühle sowie einige Bilder pflegten wohl fast immer vorhanden zu sein; nicht selten auch eine Nähmaschine, eine Hängelampe und ein hübscher, äußerlich eleganter, wenn auch sehr oberflächlich fabrizierter Kleiderschrank oder Vertikow. In der Ecke oder an der Seite, wo der zum Kochen benutzte Ofen stand, pflegte das wenige Küchengeschirr zu hängen; Töpfe, das „Geschühte“ und sonstiges Gerümpel, vielleicht auch noch irgend ein Schrank befanden sich dann in dem anstoßenden Zimmerchen, das im übrigen fast vollständig mit Bettgestellen besetzt war. Einem jungverheirateten Paare fehlte häufig eins oder mehrere der oben genannten Stücke, etwa das Sofa, der Spiegel, die Uhr: man war da eben noch nicht in der Lage gewesen, sie sich schaffen zu können, denn da unten heiratet man ja ohne Mitgift. Ob aber in einem solchen Haushalt Ordnung, Reinlichkeit, verständnisvolles Arrangement und bei aller Enge und größter Einfachheit ein freundlich einladender Geist herrschte oder nicht, das bestimmten die Zahl der Kinder, ihr Alter, das Verdienst und die Haltung des Mannes, die Beschäftigung und vor allem natürlich der Charakter, die Anlage, die Vergangenheit der Frau. Ich war bei Arbeitskollegen im Hause, die kaum ein paar Pfennige mehr für die Arbeitsstunde hatten als ich und genug Kinder und wenig gute Möbel, und bei denen man doch nur gerne blieb; ich war bei Stoßern und Bohrern, die auf Akkord arbeiteten und 40 bis 50 Mark die Woche verdienten, wo es nicht einfacher aussah als in meines Vaters Haus, und weiße Decken den Tisch, das Sofa und die Kommode, weiße Gardinen die blumenbestandenen Fenster, manches Bild die reinlichen Wände schmückten, und ich sah auch das Gegenteil bei Leuten sowohl mit großem als mit geringem Verdienste, mit vielen und wenigen Kindern, mit neuem und altem Hausgerät. Jedenfalls – und ich betone das scharf und nachdrücklich – war die Zahl der Familien, die bei aller Beschränktheit der Lebenshaltung und Wohnung so gut als möglich auf Adrettheit und Anstand zu halten versuchten und auch thatsächlich hielten, unendlich größer, als diejenigen, bei denen das aus irgend einem Grunde nicht der Fall war.

Das Traurige an dem ganzen Wohnungswesen dieser Leute war vielmehr ein andres, schon oft beklagtes: das Mißverhältnis zwischen der Enge der Räume und der Zahl ihrer Bewohner. Solche eben geschilderte Wohnräume genügten wohl jungen, erst verheirateten Leuten mit ein oder zwei Kindern zu einem halbwegs gesunden, zufriedenen Wohnen: wo sich aber eins, zwei, drei Kinder mehr einstellten, und wo man um des bessern Auskommens willen noch gar Fremde in Kost und Logis zu nehmen gezwungen war, gab es dann Zustände, die sich leicht nachfühlen, aber schwer beschreiben lassen. Das aber war selbstverständlich die Regel. Weitaus die meisten Familien hatten eine Schar Kinder, hatten Schlafleute und Kostgänger. Tadellose Wohnungsverhältnisse gab es darum nur da, wo weder die einen noch die andern vorhanden waren: wenn kinderlose oder auch ältere Ehepaare, deren Kinder bereits erwachsen und versorgt waren, leidliches oder gar gutes Einkommen hatten, blieb man gern für sich und machte es sich freundlich, gemütlich daheim. So bei einem Stoßer, den ich mehrmals besuchte, dessen Jüngster eben aus der Schule war. Hier wars einfach reizend. Auch das waren noch günstige Verhältnisse, wo, wie in der Familie eines aus unsrer Kolonne, der in einem solchen ehemaligen zum Miethause umgewandelten Bauernhause wohnte, Vater, Mutter, eine erwachsene Tochter aus erster Ehe der Frau und drei kleine Kinder aus der jetzigen Ehe eine geräumige Eckstube, einen einfenstrigen Alkoven und eine Bodenkammer inne hatten: Da schlief das Mädchen in der letzteren allein; die übrigen im Alkoven, und zwar das Kleinste in der umfangreichen Wiege, die zwei andern in einem und die Eltern auch in einem Bette. Solches allnächtliches Zusammenschlafen einmal der Eltern und dann von Geschwistern, auch schon größern, und dann auch von Bruder und Schwester in einem Bette war übrigens nach meinen Erfahrungen weitaus die Regel: nur bei zwei kinderlosen Ehepaaren fand ichs auch in diesem Punkt anders und besser; da hatten die Gatten je ein Bett für sich. Ungünstiger schon als bei der eben geschilderten Familie lagen die Dinge bei einer andern mir befreundet gewordenen, die aus den jungen Eltern, einem zweijährigen und einem halbjährigen Kinde und einem erwachsenen fremden Fabrikmädchen bestand, und die sich nur mit einem einzigen engen Zimmer zur ebnen Erde und der Dachkammer, wo jene Fremde schlief, begnügen mußte. In dieser einzigen Stube, die natürlich Wohnzimmer, Schlafzimmer, Besuchszimmer und Küche zugleich war, stand ein einziges Bett für die Eltern, ein Kinderwagen, ein Tisch, ein paar Stühle, eine Kommode, ein Kleiderschrank und Küchenzeug eng zusammen. Aber auch so wars noch verhältnismäßig gut. Es kommt noch schlimmer. Wieder ein Handarbeiter meiner Kolonne, bei dem ich am häufigsten war, der eine energische, fleißige Frau, ehemalige Köchin, zwei von ihm und ihr herzlich geliebte und sorgsam gehütete Kinder, ein Mädchen von etwa neun und einen Jungen von sechs Jahren hatte, bewohnte in einem mit Menschen vollgestopften Hintergebäude mit drei jungen Schlossergesellen aus unsrer Fabrik ebenfalls nur ein enges zweifenstriges Zimmer, einen Alkoven und eine Bodenkammer. Auch hier schliefen Eltern und Kinder je in einem Bette zusammen, und zwar so, daß diese zwei Betten fast den ganzen Raum einnahmen, die drei Burschen in der etwas geräumigern Bodenkammer ebenfalls nur in zwei Betten, also zwei einander fremde zusammen in einem Bette, und nur einer allein, wofür er natürlich entsprechend mehr zu bezahlen hatte. Wie verbreitet diese Sitte war, beweist die geringfügige Thatsache, daß ich, wenn ich auf meinen Wohnungssuchen meinen Wunsch zu erkennen gab, ich möchte gern „für mich“, wie ich meinte, in einem Zimmer allein, schlafen, wohl fast immer dahin verstanden wurde, allein in einem Bette.

Das ärgste von Wohnungsnot aber, was ich erlebte, war bei einem andern Mann aus meiner Fabrik. Das war thatsächlich nicht mehr menschenwürdig. Der Mann war ein alter, langjähriger Arbeiter und hatte eine Maschine zu bedienen. Er war nicht mehr jung, knapp über die fünfzig, ein kleiner, biedrer, guter Kerl, mit dem ich mich besonders viel und gern unterhielt. Er hatte eine kränkliche, halbgelähmte, blutflüssige Frau, deren Lebens- und Liebesgeschichte er mir wie seine eigne in der ganzen Massivheit, wie sie sich unter diesen Leuten abspielt, und mit der ganzen naiven Offenheit und kameradschaftlichen Vertraulichkeit, wie sie da unten auch zwischen ältern und jüngern schnell entsteht, doch nicht ohne poetischen Schimmer ausführlich erzählte. Ihre Kinder waren bereits erwachsen und verheiratet; sie hatten nur eine von ihnen herzlich gepflegte Enkelin noch bei sich, dagegen fünf fremde Schlafleute! Dieses Mannes Wohnung nun bestand aus folgenden Gelassen: aus einer Stube, einem wirklichen Alkoven, einer einfenstrigen Kammer und einer Dachkammer. In der einfenstrigen Kammer standen zwei Betten, in deren einem ein Pferdebahnkutscher, und in deren anderm zwei böhmische Maurer nächtigten. Im Alkoven, in einem Bette für sich, schlief die kränkliche Frau allein; ihr Mann seit drei Jahren, seit seine Frau niemand mehr neben sich liegen haben konnte, auf dem Sofa derselben Wohnstube, die vom frühen Morgen bis nach zehn Uhr abends, das heißt für diese Leute bis tief in die Nacht und in die Schlafenszeit hinein, von sämtlichen schwatzenden, essenden, rauchenden Haushaltungsmitgliedern frequentiert wurde. Denn die beiden Maurer mußten schon früh ½5 Uhr weg und vorher noch ihren in eben dieser Stube gekochten Kaffee getrunken haben, und der Pferdebahnkutscher kam erst abends ½10 Uhr von seinem schweren Dienst zurück und wollte dann noch Abendbrot essen. Wo war da eine wirklich erquickende Nachtruhe für Mann und Frau möglich? Aber das Ärgste kommt noch. In der noch übrig bleibenden Bodenkammer standen ebenfalls zwei Betten: in dem einen schlief ein ganz junges Ehepaar, das hier zur Aftermiete wohnte, tagsüber auf Arbeit war und wohl nichts sein Eigen nannte, und in dem andern das zwölfjährige Mädchen, das Enkelkind. Man macht sich leicht ein Bild von dem, was dies Kind nächtlicherweile hören und erleben konnte, wie es überhaupt in diesem und ähnlichen Haushalten selbst bei dem besten Willen aller Bewohner zugehen mußte.

Kamen nun obendrein noch Verwandte oder Bekannte zu Besuch, so war ihre Beherbergung mit weitern großen, fast unglaublichen Einschränkungen verknüpft. Jenen letztgenannten Arbeiter, bei dem so jammervolle Wohnungszustände herrschten, besuchte einmal mit zwei ihrer Kinder seine nach Thüringen verheiratete Tochter, „eine Schlange, die ihre Eltern auszunutzen sucht“, wie der Vater in einer mürrischen Stunde einmal meinte. Da schliefen auch diese beiden Kleinen noch bei den Großeltern, und zwar in der Dachkammer, mit der Zwölfjährigen zu dritt in einem Bette, während die Tochter bei Verwandten in der Nachbarschaft untergebracht war. Und alle solche Zustände herrschten unter einer Arbeiterschaft, die vorher als eine verhältnismäßig gutgestellte bezeichnet werden mußte!

Die meisten und größten dieser Übel kamen jedenfalls durch das Schlafstellen- und Kostgängerunwesen. Das ist der Ruin der deutschen Arbeiterfamilie. Aber es ist für sie in den allermeisten Fällen eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Der geringe materielle Vorteil, der dabei herauskommt, ist ein ersehnter Zuschuß zum Wirtschaftsgeld der Arbeiterfrau. Daß die Arbeiter sich nur zum Spaße mit solchen Fremden herumplagen, braucht niemand zu glauben. Im Gegenteil machte ich häufiger die Erfahrung, daß, wer es durchsetzen kann, womöglich sich diese Leute vom Halse und aus dem Hause hält. Wenn man es aber thut, nimmt man jedenfalls immer lieber junge Männer als junge Mädchen.

Es gab ganz bestimmte, von einander verschiedene Arten von Schlafstellen, bessere und schlechtere. Die traurigsten, moralisch und sanitär gefährlichsten hat glücklicherweise eine verständige und nachahmungswerte Verordnung des Chemnitzer Amtshauptmanns unmöglich gemacht. Durch diese Verordnung wurde für jeden Schläfer ein nach Kubikmetern bestimmter notwendiger Raum vorgeschrieben und den einzelnen Familien das gleichzeitige Halten von Schlafburschen und Schlafmädchen streng untersagt. Bei meinen Besuchen und Gängen fand ich etwa noch folgende Arten an:

a) Schlafstellen unter dem Dache, in den obengeschilderten Bretterverschlägen. Hier pflegte fast jede Familie ein bis drei Betten stehen zu haben. Und keine Etage des ganzen Hauses war des Nachts oft dichter besetzt, als diese Dachräume, deren schiefe Decke Dachsparren und die nackten Ziegel bildeten. In alten Häusern mußten es, namentlich im heißen Sommer, nächtliche Marterkästen sein; in solider gebauten waren es mit die besten Schlafräume. Jedenfalls hatte diese Art von Schlafstellen den großen Vorzug, daß sie des Nachts den Fremden von der ihn beherbergenden Familie isolierte. Sie waren ungemein zahlreich und je nach ihrer Güte teurer oder billiger. Die geringwertigere Sorte bevorzugten mit Vorliebe die anspruchslosen böhmischen Maurer und Erdarbeiter, die nur den Sommer über hier auf Arbeit waren. Der wöchentliche Durchschnittspreis war etwa zwei Mark; dafür bekam man noch den Morgenkaffee. Bei kleinen Meistern schlafen die Lehrjungen, ab und zu auch einer ihrer Gesellen hier, manchmal mit einem oder mehreren fremden Schlafburschen zusammen. In kleinen Beamten-, Kaufmanns- oder ähnlichen Familien, wo ein Dienstmädchen nötig gebraucht wird, und die Wohnräume knapp sind, wird auch deren Bett mitunter, dann natürlich allein, hier aufgestellt. Außer der Bettstelle und einigen Nägeln in der Wand giebts gewöhnlich kein Mobiliar in diesem Gelaß, es sei denn, der Fremde brächte sich eine Kommode oder eine Kiste mit. Jenes passiert selten, dies häufig. Die paar Kleider, die so ein Menschenkind zu besitzen pflegt, werden dann an die eingeschlagenen Nägel gehängt, die Wäsche und die andern Siebensachen in der Kiste und das andre Paar Stiefel in einer Ecke der Bodenkammer untergebracht. Wer ganz billige Unterkunft haben wollte oder mußte, mietete sich solchen Bretterverschlag mit einem Bette mit einem Freunde zusammen.

b) Die zweite Reihe Schlafstellen befindet sich in den Wohnräumen der Familie selbst. Die bedenklichsten darunter, die mit der Familie in einem Raume gemeinsamen, sind nebst den durch die angeführte Verordnung untersagten heute wenn auch noch nicht ganz beseitigt, so doch selten. Wer in einem Alkoven (in der Stadt wird oft auch die Küche dazu benutzt) mit mehreren andern zusammenschläft, pflegt wöchentlich eine Mark zu zahlen; wer in einem leeren, d. h. nur mit einem Bette ausgestatteten Alkoven allein schläft, mindestens zwei Mark. Dann kommen die beiden besten, aber auch seltensten Kategorien: schlicht möblierte Stübchen mit zwei und drei Betten, die namentlich unter einander befreundete junge Schlosser aus bessern Familien für je zwei Mark die Woche gemeinsam bewohnen, und ebensolche mit einem Bette, die freilich wegen ihrer Kostspieligkeit (drei Mark für die Woche) weniger verlangt werden und bereits den Übergang zu den in studentischen Kreisen üblichen schlichten Garçonwohnungen bilden.

Die angeführten Wohnungspreise sind natürlich nur, aber ziemlich sichere, Durchschnittsangaben. Sie verstehen sich immer mit Morgenkaffee, häufig auch mit Abendkaffee. Sie sind nicht hoch; für den jungen Burschen, der meist eben so viel als ein verheirateter Mann verdient und für niemand zu sorgen hat, mit die geringste Ausgabe für notwendige Bedürfnisse. Dennoch kommt es nicht selten vor, daß einer mit dem Logisgeld durchbrennt. Der Chemnitzer Lokalanzeiger brachte fast täglich eine derartige Notiz, wobei zu bedenken ist, daß nur ein kleiner Teil der Fälle von den Betroffenen zur Anzeige gebracht wird. Dann pflegt man gewöhnlich eine verschlossene, aber leere, mit einigen Steinen beschwerte Kiste als Pfand zurückzulassen. Namentlich Arbeitslose manövrieren gern so. Sie spiegeln ihren neuen Wirtsleuten vor, daß sie Arbeit hätten, gehen des Morgens zur vorgeschriebenen Stunde weg, vertreiben sich den Tag teils auf der Herberge, teils mit Spaziergängen, teils mit Arbeitsuchen und kommen zur Feierabendzeit ins Quartier zurück. Wenns paßt, fliegt dann der Vogel einmal aus – auf Nimmerwiedersehen. Das ist dann immer eine herbe Einbuße für die Familie.

Quelle: Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Leipzig: Grunow, 1891, S. 20–26. Online verfügbar unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN1701936127.