Kurzbeschreibung

Dieser Text stellt die proletarische Familie als eine terrorisierende Institution dar, welche die kapitalistische Gesellschaft in ihrer irrationalsten Form widerspiegelt. Die Darstellung stützt sich auf die Memoiren einer armen deutschen Frau, genannt „Kathrin“, deren Nachnamen wir nicht kennen. Die Memoiren wurden von Eugen Bleuler (1857–1939) herausgegeben, einem Schweizer Psychiater und Kollegen von Sigmund Freud, der in einem Vortrag am 24. April 1908 den Begriff „Schizophrenie“ prägte. Kathrin beschreibt sich von frühester Kindheit an als Opfer ihrer familiären und sozialen Umstände, darunter ein sie misshandelnder Vater. Zweimal erlitt sie Totgeburten, zweimal versteckte sie die Leichen tagelang aus Scham und Angst vor öffentlicher Abstrafung. Beide Male wurde sie inhaftiert, und nach der zweiten Episode – die hier nicht beschrieben wird – wurde sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Eine proletarische Mutter und ihr totgeborenes Kind (1860-82)

Quelle

Geboren wurde ich in den Z. 30. Sept. 1860, da wurde ich nach C. verkostgeltet zu zwei alten Leuten, die keine Kinder hatten. Bei denen hatte ich es gut. War verkostgeltet, bis ich vier Jahre alt war. Von Z. zogen meine Eltern nach D., da gingen sie wieder in die Fabrik. Über Tag mußte ich meinen Bruder und meine Schwester pflegen, so gut ich konnte; meine Mutter machte jeden Morgen alles bereit, denn der Bruder war damals erst ein halbes Jahr alt, meine Schwester drei Jahre alt. Meine Mutter sagte und zeigte es mir, wie ich es machen müßte, bis sie wieder heim komme. Ich mußte immer auf einer Bank oben stehen, mochte lange nicht in das Wägelein hineinlangen, wo mein Bruder lag, es war manchmal keine schöne Ordnung. Dort waren wir etwa ein halbes Jahr, dann zogen sie nach W., auch dort gingen sie wieder an die gleiche Arbeit. Ich und meine Schwester mußten meinen Bruder wieder pflegen, bis ich fünf Jahre alt war. Da mußten wir Schwestern in den Wald mit einem Wägelein, den Bruder mußten wir auch allemal mitnehmen, jeden Tag, zwei- bis dreimal eine Stunde weit, manchmal mußten wir den ganzen Tag allein draußen sein und einen großen Haufen Holz suchen; am Abend kamen dann Vater und Mutter mit einem größeren Wägelein und holten uns. Einmal waren wir auch wieder den ganzen Tag allein im Wald, hatten nicht so gar einen großen Haufen Holz, wie es der Vater gern hatte. Da fragte der Vater, was wir heute getan haben; wir sagten nichts. Da nahm er mich über einen abgehauenen Stock, schlug mich mit einem vierfachen Seil, bis ich ganz blau war; nachher nahm er meine Schwester und gab ihr auch Schläge. Die Mutter wollte immer abwehren, aber er wollte sie auch schlagen.

Wir mussten manchmal, ohne gegessen zu haben, ins Bett, wenn wir nicht viel Holz hatten, und am Morgen mußten wir dann manchmal schon um halb 5 Uhr ungegessen ins Holz; meine Mutter gab uns manchmal im verstohlenen jedem ein großes Stück Brot, mit Butter und Honig und einen Krug voll warme Milch mit; wir verzehrten es dann, wenn wir etwa eine halbe Stunde gelaufen waren.

Als ich sechs Jahre alt war, mußte ich in die Schule, ging sehr gern, führte mich gut auf; ich weiß nie, daß ich wegen lachen oder schwätzen, oder sonst Dummheiten Schläge bekommen habe, ich weiß nur noch, daß mich der Lehrer gern hatte. Nebst der Schule mußten wir auch ins Holz. Im Winter mußte ich, als ich aus der Schule kam, in die Fabrik, dem Vater helfen weben, mußte auf ein Kistlein hinaufstehen, aufpassen; denn es waren Wechselstühle, und zwar für Nasstücher. Wenn es einen Fehler gab, da bekam ich links und rechts Püffe. Meine Mutter sagte oft zu ihm: Du bist doch grob! Zu Hause war er auch nicht der feinste mit der Mutter; denn er trank sehr gern Schnaps, fast jeden Tag einen halben Liter, an einem Sonntag noch mehr. Er aß selten mit uns zu Mittag, trank schon Morgens früh einen Rausch; wenn die Mutter sagte, Er solle mit uns essen, da sagte Er zu Ihr, ihr: leckt mir im Arsch und fing zu fluchen an. Sie mußte ihm dann Geld geben; gab sie keins, so trank er auf den Knebel, kam dann den ganzen Tag nicht heim, bis nachts 12, 1, 2, 3 Uhr. Dann, wann er spät heim kam und schon genug hatte, so mußten ich und meine Schwester aufstehen, und sollten ihm noch Schnaps holen in der Wirtschaft; wir mußten manchmal nachts um 12 Uhr noch gehen und die Leute wecken. Wir durften nicht zurückkommen, ohne daß wir etwas hatten. Wir zitterten am ganzen Leibe und fürchteten uns vor ihm.

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Auch an diesem Ort mußte ich in den Religionsunterricht nach R., es war etwa dreiviertel Stunden, ich ging gern, hörte gern das Wort Gottes an. Am Sonntag mußten wir mit unserer Mutter gehen in die Kirche, auch daheim mußten wir jeden Abend und jeden Morgen beten. Die Kleider waren immer sauber und ganz einfach, auch zu essen hatten wir genug und recht. Der Vater war auch wieder gut, er mochte uns das Essen gönnen; an einem Sonntag ging er auch oft mit uns morgens um 4 Uhr spazieren auf die Alpen, nahmen dann rauhe Eier mit und Brot, dann tranken wir von den Sennen Geißen-Milch. [Hier, als Kathrin neun Jahr alt war, machte ein Bauer, bei dem sie Milch im Stall holen mußte, den ersten Notzuchtsversuch. E. B.] Ich schrie und sagte, ich sage es dem Vater. Ich weiß nicht mehr, ob ich da Prügel bekommen habe; ich war damals neun Jahre alt. Durfte die Milch nicht mehr holen. Aber auch da gingen wir bald wieder fort. Meine Mutter schimpfte oft mit dem Vater, daß er an keinem Ort bleiben wollte. Er machte eben oftmals Blauen an einem Montag; dann kündeten ihn die Fabrikherren.

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[Mit 16 Jahren wird sie menstruiert, versteht nichts davon. Versteckt sich am Morgen im Bette. Als die Mutter nach wiederholten vergeblichen Rufen mit dem Stecken in ihre Kammer kommt, kriecht sie unter die Decke und schämt sich. E. B.]

Meine Schwester mußte bald auch in die Fabrik. Da konnten wir einen schönen neuen Hausrat anschaffen. An dem hatte ich Freude, putzte und ordnete gern. Wenn der Vater so gespart hätte wie die Mutter, so hätten wir ein paar tausend Franken in die Kasse legen können. Aber der Vater trieb es noch ärger. Er gab der Mutter manchmal fast nichts. Wir mußten fast alle 14 Tage 12 bis 15 Franken zahlen fürs Trinken, ohne das, was Er am Sonntag brauchte; die Mutter durfte jetzt gar nichts mehr sagen.

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Es war auch einmal an einem Abend, da war der Vater wieder etwas angestochen, als er heim kam; da wollte er mich immer ins Bett schicken. Da sagte ich zu ihm, ich könne ins Bett, wann ich wolle. Wann er mit mir machen könnte, was er wollte, so würde er mich nicht ins Bett schicken. Aber da mußte ich fliehen, denn er sprang mir mit der Axt nach. Ich konnte aber noch besser springen als er, mußte dann diese Nacht dann in einem Schopf übernachten, der beim Hause war. Ich weinte sehr, faßte zugleich den Entschluß, mir das Leben zu nehmen, es war bei unserem Hause ein Kanal. Ich ging immer auf und ab, wollte mich hineinstürzen, aber in demselben Augenblick war es mir, wie wenn mich jemand zerrte an meinem Rock und zuriefe: tue es nicht.

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( . . . 1881, nach dem Tod der Mutter, lernt Kathrin einen jungen Mann kennen, mit dem sie aus Pietät ein halbes Jahr lang ohne sexuelle Beziehung zusammenlebt. Dann gibt sie diese Einstellung auf. W. E.)

Es hatte aber schwere Folgen, ich wurde schwanger. Ich sagte es diesem Burschen; aber da war der Teufel los. Er schimpfte immer mit mir, ich müsse es vertreiben, aber nicht zu lange warten, bis es nichts mehr nütze. Ich wußte aber, daß man das nicht könne. Ich sagte dann: „Ja, ich mache es“ tat aber nichts dafür, nur damit er wieder schweige. Dachte aber während der ganzen Zeit nie an etwas Böses, das darf ich mit gutem Gewissen sagen, kam mir gar nicht in den Sinn, es auf die Seite zu machen. Ich habe die Kinder gern, dachte aber auch, es sei eine große Aufgabe, wenn man ein Kind recht auferziehen wolle. Es kam mir immer schwerer vor, dachte immer nach. Ich weinte oft, wenn ich allein war, wußte manchmal nicht warum, es war mir immer so schwer auf dem Herzen, aber da war ich eben auch nie gesund, es fehlte mir immer etwas, bald da, bald dort. Mochte aber auch nicht mehr lachen, es tat mir nur weh. Die Leute sagten manchmal zu mir, es müsse etwas los sein, ich sei immer so traurig und gar nicht mehr so lustig, man höre mich nicht mehr singen, wie vorher. []

Ich konnte es immer noch verdecken vor den Leuten, dachte, es sei dann noch früh genug, wenn ich es nicht mehr könne und ins Wochenbett komme und sie es vernehmen, daß ich ein Kind hätte. Aber er sagte immer zu mir, ich dürfe es den Leuten und seinen Eltern nicht sagen, sonst könne ich dann schauen, wie es mir gehe. Ich bekam Angst vor ihm, meinte, er tue mir etwas; weil er mir immer drohte, sagte, er mache sich fort. Ich wollte eben auch nicht mehr auf den Tanz, aber er sagte dann zu mir, wenn ich nicht komme, so gehe er allein. Ich stimmte bei mit der Bemerkung, wenn er nur nicht mit einer andern heimgehe. Ich war eben damals sehr eifersüchtig. Er fragte mich immer, ob ich nichts mache, ich werde immer dicker. Ich sagte dann ja war aber nicht wahr. Dann stritt er mit mir, ich wolle mit Fleiß machen, daß wir heiraten müssen: „Du kannst aber dann sehen, wie es dir geht, bekommst es nicht zu leicht.“ Ich mußte manchmal Tee trinken, damit er’s sehe. Ich machte aber immer nur Kamillentee, Wacholderbeeren-Tee, dieses tat mir nur noch gut. – Meine Schwester war immer böse mit mir, denn ich mochte eben nicht mehr so arbeiten wie sonst. Es kam mir alles so schwer an, was ich machte, konnte es mit dem besten Willen nicht besser tun, brachte es nicht mehr fertig.

(In dieser Zeit kommt einmal der Vater zu Besuch und übernachtet bei den Töchtern. Kathrin macht eine schlimme Entdeckung, sagt aber nichts, bis der Vater beim Morgenessen sie wegen ihres Zustandes verspottet. E. B.) Da überlief mich die Galle, packte aus, wie er sich aufgeführt habe … Der Vater höhnte mich, ich habe es halt lieber mit jungen Burschen als mit ihm. Ich dachte, da habe er schon recht, weiß aber, daß es weniger Sünde ist, als wenn man es mit dem eigenen Vater hätte.

Mein Schatz schimpfte immer mit mir, weil ich immer dicker wurde; mochte nichts ertragen, denn es tat mir zu weh, wenn er immer stritt mit mir. Wurde oft wie wahnsinnig, sagte eben auch manches, was er nicht gern hörte, wußte nachher nicht mehr, was ich gesagt, wenn er mich fragte. Ich durfte es nicht sagen, daß ich schwanger sei, vor Furcht. Je verrückter er tat mit mir, desto mehr fürchtete ich mich vor ihm. – Da sagte ich einmal zu einer Frau, es sei mir gar nicht mehr wohl. Diese sagte es seinen Geschwistern. Da kam er an diesem Abend ganz wütend zu mir: ob es wahr sei, daß ich zu jemand gesagt habe, ich sei in der Hoffnung. Da sagte ich, es sei nicht wahr, aber nur aus Furcht. Er glaubte es nicht, schlug mich links und rechts, gab mir einen Stoß, daß ich zu Boden fiel. Als ich wieder bei mir selber war, stand ich auf und ging ans Fenster, wollte mich hinausstürzen. Aber er war wieder etwas ruhiger geworden, wehrte es mir ab. – Ich sagte oft zu ihm, er mache schon noch, daß ich mir das Leben nehme. Ich wollte es manchmal tun, konnte es aber doch nicht; denn ich dachte dann wieder bei mir selber: „Nur kein Selbstmord, da findet man keine Gnade mehr vor Gott!“ []

So ging es immer fort, er sagte immer, ich müsse es vertreiben, bis ich eben gebar. Es war an einem Sonntag morgen im September, 1882. Etwa um 4 Uhr bekam ich da heftiges Bauchweh, mußte immer aufstehen und wieder ins Bett, mochte es aber im Bett nicht ertragen, so ging’s bis um 6 Uhr. Da kam meine Schwester in meine Kammer, fragte mich was ich habe. Sie müsse mir Tee machen, ich habe Bauchweh. Da sagte sie nur, es gehe mir recht, warum habe ich immer Tee getrunken. Da ging mir ein Stich durchs Herz, sie fühlte eben nicht, wie ich Schmerzen hatte; es kam immer ärger, so daß ich es fast nicht mehr aushalten konnte. Um 8 Uhr ging meine Schwester in die Kirche. Ich hatte immer mehr Bauchweh und der Schweiß lief über mich herab vor Angst, wußte nicht mehr, wo ich war. Ich ging wieder ins Bett, mußte sofort wieder hinaus, konnte aber nicht mehr weiter gehen. Da war ein Tisch bei meinem Bett, ich hielt mich am Bett und am Tisch; schaute auf meinen Leib, meinte eben, das Kind müßte beim Nabel herauskommen; es tat mir immer weh. Auf einmal platzte etwas auf den Boden, ich sah aber nicht was; denn es war mir ganz schwarz vor den Augen und sehr schlecht. Zugleich riß ich noch etwas hinaus, mußte mich ins Bett legen, hörte eben nicht schreien und sah noch viel weniger, daß es sich bewegte. Ich schlummerte nur, bis ich wieder zu mir selber kam. Ich merkte, daß ich so blutete, stand auf, sah es an, dachte aber dabei, ich wolle es dann anzeigen, damit es beerdigt werde. Aber sogleich bekam ich wieder Furcht, dachte, mein Schatz komme und bringe mich um. – Es mochte etwa 9 Uhr sein, ich legte das Kind unter das Bett auf ein sauberes Tuch, die Nachgeburt in den Abtritt. Der Boden war ganz blutig, ich wusch ihn auf. Ich war fertig, bevor meine Schwester aus der Kirche kam und schon wieder in der Stube als sie heimkam. Sie bemerkte aber nichts an mir, denn ich war immer noch etwas aufgetrieben, sagte nur zu mir, ich sei so bleich und mager im Gesicht. Da sagte ich, es sei mir schlecht, es war aber auch so. Mein Schatz kam am Mittag; ich war eben in der Kammer und schaute das Kind wieder an; ich dachte: Sie müssen einem doch lieb sein, wenn sie lebend zur Welt kommen. Fühlte aber auch, daß ich es doch nicht hätte liegen lassen können, daß ich wieder eher zu mir gekommen wäre, in dem Augenblick wo es auf den Boden fiel, wenn es geschrien oder sich bewegt hätte. Er rief mir, was ich so lang tue in der Kammer, ich ging hinunter, zitterte am ganzen Leibe, konnte fast nicht mehr reden. Er merkte aber nichts, sagte auch nichts zu mir. Am Abend weigerte ich mich, mit ihm zu verkehren, da ich wußte, daß man das nicht dürfe.

Am Montag Morgen ging ich wieder in die Fabrik, als ob nichts geschehen wäre. Aber auch andere Leute sagten nichts zu mir. Ich blutete etwa vier Tage, nachher nicht mehr. Das Kind hatte ich zwei Tage unter dem Bett, meine Schwester kam eben nicht viel in meine Kammer. Ich schaute das Knäblein jeden Abend an, bevor ich ins Bett ging, ich sah es eben gern, konnte es nicht genug anschauen. Auch am Mittag ging ich wieder in die Kammer, um es anzusehen, aber wenn ich jemand hörte, so ließ ich es fallen, meinte schon, es käme jemand und tue mir etwas. Vor dem Kind fürchtete ich mich nicht, mein Gewissen plagte mich nicht, konnte auch ruhig schlafen. Am dritten Tag, am Abend holte ich ein Körblein auf dem Schopf, legte das Kind eingewickelt in einem Tuch hinein, ging in den Schopf, der neben dem Hause stand, wo es immer kühl blieb. Es war noch heller Tag, der Schopf unverschlossen, es hätte da die Leiche ganz gut jemand entdecken können; ich wollte das Kleine aber nicht fortwerfen oder vergraben – nein! Ich dachte immer: morgen will ich’s anzeigen, durfte es aber doch nicht wagen, so ging es immer fort. Warum ich es in den Schopf tat, will ich auch schreiben. Ich dachte eben, damit es nicht so schnell verwese und man es noch anschauen dürfe, wenn es jemand entdecke. Ich ging jeden Tag hinunter, schaute, ob es noch da sei, schaute es auch an, aber es tat mir sehr weh. Meine Schwester fragte mich oft, warum ich immer weine. Auch in der Fabrik konnte ich es nicht verbergen. Sie sagten oft zu meiner Schwester, es drücke mich etwas, ich dürfe es nicht sagen. Wenn ich aber manchmal nicht nachschaute, ob es noch da sei, so konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen, meinte dann immer, es habe es mir jemand gestohlen, ich sei verloren für Zeit und Ewigkeit, daß ich es nicht besser aufbewahrt habe. Ich stand manchmal morgens schon um 4 Uhr auf, ging zuerst in den Schopf, schaute recht nach, ob das Kind noch da sei, dann wurde es mir wieder etwas wohler. []

Mein Schatz und meine Schwester wußten gar nichts von all dem, merkten auch nichts. Meine Schwester sagte oft zu mir, ich sei nicht mehr so gar dick. Auch andere Leute schauten mich später etwas an. Sie wußten, daß ich sonst nicht schlecht gewesen sei, dachten eben solches nicht von mir. []

Mein Schatz ging damals fort, in der Meinung, ich habe es vertrieben. Ich sagte ja, es sei so, damit war er schon zufrieden. – Ich ging manchmal in den Schopf, nahm das Körblein in die Hand, um es anzuzeigen, kam aber nicht weiter als bis zur Türe, mußte es wieder hinstellen, denn es kam mir immer jemand in den Weg. Neben unserm Holzbehälter hatte ein anderer Mann den seinigen. Dieser begegnete mir jedesmal, eben wenn ich es hinaustragen wollte. Er sagte oft zu mir, warum ich jedesmal so erschrecke, wenn er komme, ich sei ja kreideweiß. Ich konnte nicht antworten. So ging es oft.

Da zogen wir im November in eine andere Wohnung. Am Mittag holte ich das Körblein aus dem Schopf, stellte es unter einen kleinen Holzbehälter, der bei der Haustür war. Aber man könnte da das Körblein nehmen. Es gingen andere Leute vorbei, ich dachte, ich wolle es dann am Abend aus der Fabrik holen, und es wieder in die neue Wohnung nehmen. Es war mir eben ganz gleich, ob es jemand entdecke, ich dachte, einmal müsse es doch auskommen, ob früher oder später. Mein Gewissen sagte es mir auch, es ließ mir eben keine Ruhe mehr. Am Nachmittag kam der Polizist, faßte mich ab nach K., ich gestand es sofort. Aber da hatte ich wieder ein ruhiges Gewissen. Ich bereute aber auch meine Tat, dachte immer, wenn ich es nur sofort angezeigt hätte.

Ich konnte es aber nicht mehr ändern, obschon ich es gerne getan hätte, faßte aber auch den festen Vorsatz, solches in meinem Leben nicht mehr zu tun, betete aufrichtig zu Gott um Verzeihung. Dachte, ich wolle lieber von der Welt verstoßen werden, als von Gott. Es war mir nun auch wohler. Ich wurde zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, sie fragten mich immer, warum ich das getan habe. Ich konnte aber nichts anderes sagen: als „aus Furcht“, nicht absichtlich, Gott bewahre.

Quelle: Eugen Bleuler, Hrsg., “Dulden”. Aus der Lebensbeschreibung einer Armen. München: Ernst Reinhardt Verlag, 1910, S. 7–13, 15–18, 24–26, 29–36; abgedruckt in Wolfgang Emmerich, Hrsg., Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, 2 Bände, Band 1, Anfänge bis 1914. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1974, S. 168–76.