Quelle
I.
Es dürfte nachgerade wirklich an der Zeit sein, die Frage: „Bedarf Deutschland der Colonien?“ zur öffentlichen Verhandlung zu bringen. Schon einmal, unter dem ersten Freudenrausch über das neu gebildete Deutsche Reich, im Jahre 1871/72, durchflogen unsere Presse flüchtige Rufe nach Colonien, die in ein Paar Brochuren bestimmtere Gestalt anzunehmen versuchten. Sowohl die Reichs-Regierung, wie die öffentliche Meinung verhielten sich damals ablehnend, so daß der schwache Anlauf rasch wieder verflogen war.
Heute liegen die Dinge wesentlich anders. Wie uns scheint, drängt Vieles auf die ernste Erwägung der vorstehend aufgeworfenen Frage; wie uns scheint, ist die öffentliche Stimmung in Folge unserer gesammten Entwicklung während der letzten Jahre gegenwärtig völlig geneigt, der Frage, ob dem Deutschen Reiche Colonial-Besitz noth thue, mit lebhafter Theilnahme sich zuzuwenden. Die Gründe für diesen Stimmungswechsel sind unschwer zu erkennen. Vornämlich drei Gesichtspunkte dürften in fraglicher Richtung bestimmend wirken: unsere wirthschaftliche Lage, die Krisis unserer Zoll- und Handels-Politik, und unsere sich mächtig entwickelnde Kriegs-Marine.
Wir sind nachgerade im neuen Reiche in eine wirthschaftliche Lage gerathen, die drückend, die wirklich bedenklich ist. Es ist ein leidiger Trost, daß die nun schon so lange währende Handels-Krisis mehr und minder auf allen Cultur-Staaten mit schwerem Drucke lastet. Deutschland ist verhältnißmäßig – wir lassen Rußland und Oesterreich hier außer Betracht – wohl in der ungünstigsten Lage. So mächtig der Wohlstand in den letzten Jahrzehnten bei uns gegen früher gewachsen ist, so sind wir doch im Ganzen noch arm, und die Kraft und der Nachhalt unseres nationalen Wohlstandes steht zu der politischen Machtfülle, die wir gewonnen haben, in einer erheblichen Dissonanz. Daraus dürften sich für die gesunde Weiter-Entwicklung unseres großen nationalen Gemeinwesens leicht beträchtliche Schwierigkeiten ergeben. Die Sache ist auch um so empfindlicher, da wir, als wir uns eben unter der Nachwirkung des Milliarden-Rausches sehr reich dünkten, plötzlich nachdrücklich an unsere Armuth erinnert wurden. Es ist mit Recht gesagt worden, daß Deutschland von der furchtbaren Katastrophe des dreißigjährigen Krieges erst in diesem Jahrhundert sich wirthschaftlich wieder erholt habe. Wir waren eben tüchtig daran, uns in den letzten Jahrzehnten heraufzuarbeiten, als kurz nach unserer nationalen Erhebung jene Geschäftsstockung begann, die nun Jahre währt und deren Ende noch nicht absehbar ist. Man wird annehmen dürfen, daß wohl fast ein Vierttheil unseres National-Vermögens in den letzten Jahren verschwunden, d.h. unproduktiv geworden ist. Und unser nationaler Wohlstand war im Ganzen noch schwach, es fehlte ihm die allmählig, aber stetig fortgehende Steigerung, die England seit zwei Jahrhunderten, die Holland, die Nord-Amerika, die auch Frankreich nach Ueberwindung der Erschütterungen der Revolutions-Epoche erfahren. Vom größten Einfluß auf unsere so ungünstig sich gestaltende wirthschaftliche Lage ist aber die rapid sich steigernde Vermehrung der Bevölkerung in Deutschland, eine Thatsache von der weitgreifendsten wirthschaftlichen Bedeutung, die aber als solche noch sehr ungenügend erkannt, zu deren Bewältigung daher so gut, wie nichts, bis jetzt geschehen ist.
[…]
Es war noch eine zweite Vorbedingung nöthig, um aufmerksam und unbefangen an die aufgeworfene Frage herantreten zu können. Als vor sieben Jahren einige vereinzelte Rufe nach der Erwerbung von Colonien durch die deutsche Presse schwirrten, wurden sie mit Geringschätzung als veraltete Gesichtspunkte abgewiesen. Die öffentliche Meinung, vom Manchesterthum beherrscht, glaubte in unbedingtester Handels-Freiheit den wirthschaftlichen Stein der Weisen für alle Zeiten gefunden und festgestellt zu haben. Wir gehören nicht zu den vielen heutigen Lästerern der Manchester-Schule. Wir glauben vielmehr, daß die in Geltung gekommene Lehre vom Freihandel in vielen Stücken befreiend und förderlich auf die gesammte Cultur-Entwicklung unseres Jahrhunderts gewirkt hat. Aber über zwei Punkte könnten alle ruhig und besonnen Denkenden heute doch wohl im Klaren sein. Erstlich, daß unsere Wirthschafts-Politik in der Aneignung der Manchester-Theorie mehr und mehr dem einseitigsten Doktrinarismus gehuldigt hat. Es ist eine alte, in der Geschichte oft sich bezeugende Noth, daß neu aufgefundene Wahrheiten leicht diesem Schicksale verfallen. Ohne sorgfältige Beachtung ihrer natürlichen Vorbedingungen werden sie allmählig zu einer allein seligmachenden Doktrin aufgebauscht, die es dann nach der herrschenden Strömung nur möglichst rasch in ihre äußersten Consequenzen zu verfolgen gilt. […] Es ist aber begrieflich, daß, wenn diese Irrungen sich erst empflindlich fühlbar mache, das öffentliche Urtheil dann umschlagen und der lange gefeierte Unfehlbare rasch zu einem Erzbösewicht gestempelt warden wird. Das ist der zweite Punkt, der heute als Thatsache vorliegt. Denn daß dieser Rückschlag der öffentlichen Meinung gegenüber der Manchester-Schule gegenwärtig wirklich in hohem Maaße eingetreten ist, läßt sich von Niemandem leugnen, auch nicht von denen, die denselben, wo nicht als ein Unglück, doch als eine Gefahr betrachten. Inzwischen hat dieser Rückschlag der öffentlichen Meinung in den letzten Wochen so gewaltige Dimensionen angenommen, daß er bereits zu einem höchst beachtenswerthen völkerpsychologischen Phänomen geworden ist. […]
Ein dritter Grund, der die öffentliche Meinung der Erörterung der Frage, ob dem neuen Reiche Colonial-Besitz noththue, heute geneigt machen dürfte, liegt in der ebenso raschen, wie mächtigen Entwicklung unserer deutschen Kriegs-Marine. Wir gestehen, daß wir zu denen gehörten, welche es bezweifelten, ob das Deutsche Reich richtig handle, indem es die Schaffung einer großen und starken Kriegs-Marine unter seine ersten Aufgaben stellte. Und auch heute sind wir noch nicht überzeugt, daß unsere Zweifel unberechtigt gewesen. Angesichts der enormen Kosten, welche unsere Landheere trotz der sorgfältigsten und in manchem Betracht auch wirklich sparsamen Verwaltung unseres Militairwesens uns auferlegen, Angesichts der Nothwendigkeit, es auf lange Zeit allen europäischen Großmächten in Zahl der Mannschaften, wie in Schlagfertigkeit zuvorzuthun, halten wir Deutschland in der That zu arm, um auf die Dauer auch als Seemacht mit anderen Großmächten zu concurriren. Ohne Zweifel liegt auch die Entscheidung für die politische Machtstellung Deutschlands für alle Zeit in der Tüchtigkeit und in den Erfolgen seiner Landheere. Denken wir uns eine deutsche Kriegsmarine selbst von dem Umfange und der tüchtigen Beschaffenheit der brittischen, was würde ihr Loos sein an dem Tage, an dem unsere Landheere in entscheidender Weise geschlagen, und im Gefolge solcher Niederlagen eine Milliarden-Contribution dem Deutschen Reiche aufgelegt werden würde? Wir müßten unweigerlich unsere Schlachtenflotte in unseren Häfen verfaulen lassen, oder im besseren Falle, sie weit unter Kostenpreis zu unserer Liquidation verwenden. Und diese traurige Nothwendigkeit würde uns auch dann nicht erspart werden, wenn unsere Kriegsflotte in demselben Augenblicke, wo unsere Landheere unterlägen, die glorreichsten Siege davontrüge. Schon diese Eventualität zeigt, wie uns deucht, klar genug, daß das Bestreben, Deutschland mit einer großen und mächtigen Kriegsflotte auszurüsten, ein ziemlich gewagtes, weil bis jetzt nicht natürliches Unternehmen, und daher in gewissem Umfange wirklich ein Luxus ist.
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Und wo hätten wir solche denn dann in fernen, überseeischen Ländern?
Freilich gibt es eine stark entwickelte deutsche Handels-Marine, die alle Meere durchfurcht, und welcher einen gewissen Schutz zu gewähren unser Interesse, wie unsere nationale Pflicht gebietet. Wir theilen daher vollständig das Verlangen, daß die deutsche Kriegsflagge sich in allen Meeren zeige, daß sie in Ost-Asien, in der Südsee, in Mittel- und Süd-Amerika, wo immer halbbarbarische Zustände es erheischen, zu Demonstrationen und, wenn nöthig, zu kleinen, raschen Aktionen bereit sei. Aber diese Interessen verlangen keine Schlachtenflotten, keine viele Millionen verschlingende Panzer-Colosse, die für die fraglichen Aufgaben ja auch völlig unbrauchbar sind. Ein Paar Dutzend tüchtige, schnellsegelnde, kleinere Kriegsfahrzeuge würden hierzu wohl völlig ausreichen. Außer diesen wäre natürlich ein vollständiger Schutz unserer im Ganzen ziemlich schwer zugänglichen deutschen Küsten, mit den besten Vertheidigungs-Mitteln ausgerüstet, unter allen Umständen nöthig gewesen. Bekanntlich geht aber unser Flotten-Gründungsplan über diese Bedürfnisse weit hinaus; und überdies fallen unsere gewaltigen Rüstungen zur See in einen Zeitpunkt, wo das ganze Seekriegswesen in einer höchst kritischen Lage sich befindet. Die Frage: ob Panzer? ob Geschütz? ob Stärke? ob Schnelligkeit? ist noch nicht abgeschlossen, wird sich aber, trügt nicht Alles, immer mehr zu Gunsten der Letzteren entscheiden. […]
Oft leitet ein Stadium des Unbewußten, des Halbbewußten die folgenreichsten Entwicklungen ein, und man sieht erst nach einiger Zeit aus der Retrospektive, warum die Dinge eigentlich so kommen mußten. Wir hoffen dies auch von unserm Flotten-Gründungsplan, der ja heute kein Plan mehr ist, sondern eine bald völlig ausgeführte Thatsache, mit der man als solcher zu rechnen hat. Auch wir würden uns gerne gewöhnen, die vollendete Thatsache freudig zu begrüßen, wenn unser umfassender Flotten-Gründungsplan mit dazu führte, unseren Seemacht-Bestrebungen einen realen, praktisch greifbaren, unserm staatlichen Gemeinwesen wahrhaft förderlichen Hintergrund zu geben. Einen solchen aber kann das Deutsche Reich nur in der Inangriffnahme einer einsichtsvollen und energischen Colonial-Politik gewinnen. Dies wäre, wie wir überzeugt sind, der einzige Weg, unsere ausgedehnte Kriegs-Marine auf die Dauer haltbar, d.h. die bedeutenden, auf sie fallenden Kosten productiv zu machen. […]
Wir könnten noch einen vierten Gesichtspunkt, der der Behandlung der hier aufgeworfenen Frage förderlich ist, beifügen. Man hat die Gegenwart wohl auch ein Zeitalter der Reisen und geographischen Studien genannt. In diesen Stücken sind wir Deutschen in letzter Zeit denn auch wacker an der Arbeit. In allen Welttheilen sind Landsleute auf wissenschaftlichen Forschungsreisen thätig. Die Zahl unserer meist recht tüchtigen geographischen Zeitschriften, wie unserer geographischen Gesellschaften ist in stetem Wachsen; der Sinn für geographische, ethnographische und anthropologische Studien ist durch wissenschaftliche Forschungen und populäre illustrirte Darstellungen kräftig geweckt und heute ungleich weiter, als in früheren Jahrzehnten, unter uns verbreitet. Das ist gewiß erfreulich. Aber sollen wir auch in diesen Gebieten nur die für alle Welt sammelnden und forschenden Theoretiker sein und bleiben? Sollen wir fortwährend von der Studirstube aus in allen Welttheilen wohl zu Hause sein, ohne irgendwo in überseeischen Gebieten ein nationales Heim wiederzufinden? Ist das eine Lage, die, wir wollen nicht sagen, mit unserer nationalen Ehre, sondern mit dringenden nationalen Bedürfnissen sich auf die Dauer verträgt? […] Sollte Kaiser und Reich, sollten Reichskanzler, Bundesrath und Reichstag nicht auch daran denken, das Ihrige zu thun, um dem neuen Reiche ein Stück der alten Handelsmacht wieder zu gewinnen? und ihm, wenn auch verspätet, zu colonialem Besitz, dessen es zu seinem ökonomischen Bestande auf die Dauer gar nicht entrathen kann, zu verhelfen?
[…]
Daß solche organisirte Auswanderung, wie wir sie bedürfen, neben ihrer wirthschaftlichen Bedeutung zugleich gewichtige nationale Gesichtspunkte in sich schließt, wollen wir nur im Vorbeigehen andeuten und fragen: Sollen unsere Brüder und Landsleute, die über See ziehen, mit raschem Verlust von Sprache und Nationalität sich nur immer wieder unter unsere angelsächsischen Vettern unterschieben, oder in den verlotterten überseeischen Gemeinwesen romanischen Stammes sogar, wie unberechtigte Eindringlinge, oft noch unwürdig sich behandeln lassen? Ist hier nicht auch in nationaler Beziehung eine Lebensfrage für das Deutsche Reich gegeben? Wäre die deutsche Reichs-Regierung auf die Dauer unfähig oder unwillig, mit Verständniß und Energie auf diese Frage der Organisation und Leitung unseres Auswanderungswesens einzutreten, so würde sie ohne Zweifel die normale Entwicklung unseres nationalen Wohlstandes und unserer politischen Machtstellung aufs tiefste beschädigen.
Was heißt aber Leitung, Organisation unserer Auswanderung? Da man derselben unmöglich ihre Ziele vorschreiben kann, so besagt diese Forderung nichts anderes, als: wo möglich unter deutscher Flagge in überseeischen Ländern unserer Auswanderung die Bedingungen schaffen, unter welchen sie nicht nur wirthschaftlich gedeihen, sondern unter Wahrung ihrer Sprache und Nationalität auch in reger nationaler und ökonomischer Wechselwirkung mit dem Mutterlande verbleiben kann. Mit anderen Worten: die verständnißvolle und energische Inangriffnahme einer wirklichen Colonial-Politik ist das einzig wirksame Mittel, die deutsche Auswanderung aus einem Kräfte-Abfluß in einen wirthschaftlichen, wie politischen Kräfte-Zufluß zu verwandeln.
[…]
Verschiedene culturhistorisch bedeutungsvolle Gesichtspunkte ergeben sich aus dieser kurzen Beleuchtung des eigenthümlichen Wesens und der Entwicklung von Ackerbau-Colonien. Erstlich, daß hier eine durchaus der Neuzeit eigenthümliche Form colonialer Bildung vorliegt. Zweitens, daß nur ein Mutterland, das beträchtliche überschüssige Arbeitskräfte in stetiger Folge abzugeben vermag, zur Gründung von Ackerbau-Colonien berufen ist; daß demnach diese neuere Form colonialer Schöpfung heute lediglich dem germanischen Stamme zukommt. Auch das richtige System der Verwaltung dürfte durch Englands glücklichen Vorgang bereits festgestellt sein. Da das Schwergewicht dieser subtropischen Colonien ganz auf der weißen Einwanderung ruht, so findet durch diese eine Zurückdrängung der meist spärlichen Reste farbiger Eingeborenen nothwendig statt. Vor dem Gesetze, jedoch nicht völlig in politischen Rechten, dem Weißen gleichgestellt, sind sie entweder als Arbeiter über die Colonie verstreut, oder in bestimmte Lokationen eingeschränkt. Ein Zustand, der, wo er gleichzeitig von humanen Bestrebungen für die intellektuelle und moralische Entwicklung der Eingebornen begleitet wird, sachlich durchaus richtig gegriffen sein dürfte. Im Uebrigen gilt in diesen brittischen Ackerbau-Colonien das Princip: möglichst wenig Regierens aus der Heimath, vielmehr, sowie die Colonie dazu erstarkt ist, möglichst vollständige Selbstregierung auf Grund politisch freier Institutionen. Jeder Gedanke, aus solchen Colonien irgendwelche directe Einnahme-Quellen für das Mutterland zu gewinnen, wäre ein grober nationalökonomischer Fehler. Vielmehr wird dieses, namentlich in den Anfängen, mancherlei Subventionen zu leisten haben. Aber das Mutterland wird diese auch bald mit den reichlichsten Zinsen wieder empfangen. Wir denken dabei nicht an jene Colonialen, die je und dann mit reichem Erwerb in das Mutterland wieder zurückkehren, obwohl auch diese Form der Vermehrung des nationalen Wohlstandes keine unwichtige ist. Sie ist in Ackerbau-Colonien aber doch eigentlich nur Ausnahme. Viel gewichtvoller ist jedenfalls das gesammtökonomische Verhältniß zwischen Mutterland und Colonie. Der Austausch der colonialen Produkte gegen die Industrie-Erzeugnisse des Mutterlandes wird nicht nur in steigender Progression sich entwickeln, die Rhederei des letzteren stärken, sondern, was ja bei Handels-Beziehungen von so großer Bedeutung, ein festes und stetiges Wechsel-Verhältniß zwischen dem beiderseitigen Consum und Absatz herstellen. Sowohl die Rhederei, wie die Industrie anderer Staaten wird selbst bei völliger Handels-Freiheit oder doch mäßigen colonialen Zollschranken gegenüber diesem festem Verhältniß zu dem Mutterlande mit erfolgreicher Concurrenz einzudringen sich vergeblich bemühen. Das zeigen die brittischen Colonien in zahlreichen handelsstatistischen Thatsachen. Angesichts derselben, im Blick auf unsere deutsche Auswanderung, im Blick auf unsere industrielle und wirthschaftliche Lage könnte, so scheint es uns, eigentlich wohl nur der Unwissende oder der durchaus Voreingenommene leugnen, daß Ackerbau-Colonien dem neuen Deutschen Reiche dringend noth seien.
[…]
Unter den wirthschaftlichen Gründen, welche das Aufkommen und die rasche, mächtige Ausbreitung der Social-Demokratie bei uns reichlich gefördert haben, steht neben unserer ungesund schnell entwickelten Industrie mit ihrem Gefolge von Krisen, von Ueberproduktion und Arbeitslosigkeit die rasche Bevölkerungs-Zunahme (besonders in den Industrie-Bezirken) gewiß mit vorne an. Freilich sind die wirthschaftlichen Gründe längst nicht die einzigen, ja heute nicht einmal die vornehmsten für das Entstehen und die Entwicklung der socialdemokratischen Bewegung. Wie überall im Leben der Menschheit, sind auch hier die moralischen Faktoren, die an den wirthschaftlichen ihre Grundlage suchen und finden, die eigentlich entscheidenden. Allein mit dem Nachweis, auch wenn er noch so treffend und scharfsinnig geführt wird, daß die wirthschaftlichen Forderungen der Social-Demokratie unerfüllbar und im letzten Grunde eine Utopie seien, ist daher noch wenig ausgerichtet. Ist das Christenthum mit seiner versöhnenden Kraft in weiten Kreisen bei uns leider in Unkenntniß, ja in Haß und Verachtung gerathen, sind die moralischen, sind die allgemeinsten religiösen Ueberzeugungen erschüttert, ist die materialistische Doktrin an ihre Stelle getreten, so kann Niemand den Menschen aufhalten, an dieses Erdenleben Forderungen zu stellen, welche es niemals zu befriedigen vermag. In der schreienden Dissonanz dieses selbstgemachten Hoffnungsbildes zu der gegebenen nackten Wirklichkeit entzündet sich dann jener grimmige Haß gegen alles Bestehende, welcher sich unter Anderem vorspiegelt, nur durch einen gewaltsamen, blutigen Umsturz lasse sich Besserung der Lage erreichen. In diesen psychologischen Stimmungen liegt der Angelpunkt unserer socialdemokratischen Agitation und ihres Erfolges. Vermöchte Jemand, unseren Social-Demokraten den Begriff von menschlichem Glück, den sie im letzten Jahrzehnt in ihre Einbildungskraft energisch aufgenommen haben, zu entkräften, das Geheimniß der Zufriedenheit ihnen aufzuschließen und ein neues Hoffnungsbild in ihnen zu erwecken, so würde unsere socialdemokratische Krisis im Wesentlichen gelöst, d.h. es würde die Stimmung geschaffen sein, auf Grund deren die wirthschaftlichen Reformen und Hülfen, auf welche unser Arbeiterstand mit vollem Rechte Anspruch hat, mit Erfolg sich durchführen ließen. Ohne jene Stimmung, zu deren Erweckung freilich vor Allem ein vielfach leider noch fehlendes, aufrichtiges Wohlwollen und ernste Opferwilligkeit von Seite der besitzenden Classen nothwendig ist, werden auch die bestgemeinten Versuche wirthschaftlicher Hülfeleistung gewöhnlich nur mit abstoßendem Undank belohnt werden. Sollte nun die Colonial-Frage, resp. eine Organisation und Leitung der deutschen Auswanderung, nicht auch nach dieser Richtung bedeutungsvoll wirken können? Ja, müßte sie dies nicht thun? Ist unsere Social-Demokratie nicht das geworden, was sie ist, gerade in der Zeit, in welcher mit dem Beginn unserer wirthschaftlichen Krisis die vorhandene Uebervölkerung sich nachdrücklich fühlbar zu machen begann? Ich meine aber nicht bloß die Auswanderung, als eine Art Sicherheits-Ventil. Viel höher schätze ich zunächst den psychologischen Eindruck, den eine gut geleitete, in größerem Style ausgeführte und in ihren Erfolgen günstige Auswanderung auf die Einbildungskraft – deren große Bedeutung in allen Gebieten des Denkens und Strebens meist viel zu wenig erkannt wird – unseres Volkes bald in weiten Kreisen erwecken würde. Wenn auch wohl nicht bei den Grimmigen, so doch bei der Mehrzahl der mehr Irregeleiteten und wirklich sich gedrückt Fühlenden würde solche Auswanderung ein neues, nicht unerreichbares Hoffnungsbild erwecken, und schon damit wäre der um sich fressenden Unzufriedenheit eine Schranke gesetzt[1]).
[…]
Es ist im neuen Reiche Vieles bereits so verbittert, von unfruchtbarem Parteihader versäuert und vergiftet, daß die Eröffnung einer neuen, verheißungsvollen Bahn nationaler Entwicklung wohl auf Vieles wie befreiend, weil den Volksgeist nach neuen Seiten mächtig anregend, zu wirken vermöchte. Auch das wäre erfreulich und ein Gewinn. Gewichtiger freilich noch ist die Erwägung, daß ein Volk, das auf die Höhe politischer Macht-Entwicklung geführt ist, nur so lange seine geschichtliche Stellung mit Erfolg behaupten kann, als es sich als Träger einer Cultur-Mission erkennt und beweist. Dies ist zugleich der einzige Weg, der auch Bestand und Wachstum des nationalen Wohlstandes, die nothwendige Grundlage dauernder Macht-Entfaltung, verbürgt. Die Zeiten, in denen Deutschland fast nur durch intellektuelle und literarische Thätigkeit an den Aufgaben unseres Jahrhunderts mitgearbeitet hat, sind vorüber. Wir sind politisch und sind auch mächtig geworden. Aber die politische Macht, wo sie als Selbstzweck in den Vordergrund der Strebungen einer Nation sich drängt, führt zur Härte, ja zur Barbarei, wenn sie nicht den ideellen, den sittlichen, wie ökonomischen Cultur-Aufgaben ihrer Zeit zu dienen bereit und willig ist. Der französische National-Oekonom Leroy Beaulieu schließt sein Werk über Colonisation mit den Worten: „Diejenige Nation ist die größte in der Welt, welche am meisten colonisirt; wenn sie es heute nicht ist, wird sie es morgen sein“. Niemand kann in Abrede stellen, daß in dieser Richtung England allen anderen Staaten weit überlegen ist. Man hat freilich, zumal in Deutschland, während des letzten Jahrzehntes oft von „der sinkenden Macht Englands“ reden hören. Wer die Machtstellung eines Staates nur mehr, wie es in unserem eisernen Zeitalter allerdings fast üblich geworden, nach der Zahl seiner kriegsbereiten Heeres-Mannschaft zu schätzen versteht, mag solche Meinung leicht begründet achten. Wer aber über die Erdkugel seine Blicke streifen läßt und den fortwährend sich mehrenden mächtigen Colonial-Besitz Groß-Britanniens überschaut, wer die Kräfte, die es aus denselben zieht, das Geschick, mit welchem es ihn verwaltet, bedenkt, überhaupt die herrschende Stellung, welche der angelsächsische Stamm in allen überseeischen Ländern einnimmt, beobachtet, dem wird jene Rede wie das Raisonnement eines Spießbürgers erscheinen. Daß aber England seine weltumspannenden Besitzungen, seine über alle Meere dominirende Machtstellung mit einer Truppenzahl aufrecht erhält, welche kaum ein Vierttheil der Heeresmannschaften einer unserer continentalen Militair-Staaten ausmacht, ist nicht nur ein großer wirthschaftlicher Vortheil, sondern zugleich der schlagendste Beleg von der soliden Macht, von der culturellen Kraft Englands. Von continentalen Massenkriegen wird sich Groß-Britannien freilich heute möglichst ferne halten, oder doch nur mit Verbündeten in die Aktion treten, was aber der Machtstellung des insularen Reiches keinerlei Schaden bringen wird. Jedenfalls wäre es gut, wenn wir Deutsche von dem colonialen Geschick unserer angelsächsischen Vettern zu lernen und in friedlichem Wetteifer ihnen nachzustreben begännen. Als das Deutsche Reich vor Jahrhunderten an der Spitze der Staaten Europas stand, war es die erste Handels- und See-Macht. Will das neue Deutsche Reich seine wiedergewonnene Machtstellung auf längere Zeiten begründen und bewahren, so wird es dieselbe als eine Cultur-Mission zu erfassen und dann nicht länger zu zögern haben, auch seinen colonisatorischen Beruf aufs Neue zu bethätigen.
Anmerkungen
Quelle: Friedrich Fabri, Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomische Betrachtung, 3. Ausg. Gotha: Friedrich Andreas Perthes, 1883. Die erste Ausgabe dieses Textes aus dem Jahr 1879 ist online verfügbar unter: https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb11388766/bsb:BV010502721?page=5. Deutscher Originaltext und Englische Übersetzung abgedruckt in Friedrich Fabri, Bedarf Deutschland der Colonien? / Does Germany Need Colonies? Eine politische-ökonomische Betrachtung von D[r. Theol.] Friedrich Fabri, herausgegeben, übersetzt, und eingeleitet von E. C. M. Breuning und Muriel Evelyn Chamberlain, Studies in German Thought and History, Nr. 2. Lewiston, NY: Edwin Mellen Press, 1998, S. 46–59, 78–79, 82–85, 148–53, 178–81.