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Der Frühling dieses Jahres [1866] brachte endlich die lange drohende Katastrophe zum Ausbruch. Jedermann weiß, wie die Dinge seit der Mitte März sich gestalteten. Das Verhältnis zwischen Preußen und Österreich, zwischen Preußen und den Mittelstaaten drängte zur Entscheidung. Die innere Lage Preußens und Deutschlands schien für ein Unternehmen, wie es Graf Bismarck sich vorgenommen hatte, die ungünstigste von der Welt, die europäische Lage dagegen lockte mit der seltensten Gunst. Die inneren Verhältnisse ließen es allerdings voraussehen, daß die öffentliche Meinung sich der preußischen Politik mit aller Macht entgegenstemmen werde. Aber einmal hatte eine mehrjährige Erfahrung bewiesen, daß diese Meinung einen entschlossenen Willen nicht zu hemmen vermöge, und dann boten eben diese Schwierigkeiten doch auch wieder gewisse Vorteile. Die Politik der konservativen Partei in Preußen ruhte auf dem guten Einvernehmen mit Österreich. Preußen hatte nur zwei Wege vor sich: entweder zusammen mit Österreich die deutschen Dinge zu leiten, oder sich trotz Österreich der deutschen Macht allein zu bemächtigen. Der letztere Weg, da er die Mittelstaaten unbedingt auf die österreichische Seite trieb, schloß für Preußen die zwingende Notwendigkeit in sich, an die populären Kräfte zu appellieren, sogar vor mehr oder weniger revolutionären Schritten nicht zurückzuscheuen. Graf Bismarck hatte früh in den fünfziger Jahren die Überzeugung gewonnen, daß die Eintracht mit Österreich nur möglich sei für ein Preußen, das sich resigniere, zu bleiben was es war, die zweite abhängige Macht in Deutschland, die letzte in Europa. Er wollte Preußen aus dieser wenig würdigen und befriedigenden Stellung befreien; er sah dafür nur die angegebene Möglichkeit, und er akzeptierte dieselbe, so wenig sie mit seiner ursprünglich konservativen Richtung harmonierte.
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Graf Bismarck hatte den Mut, das große Spiel zu wagen, und er bewies die Kraft und die Klugheit, welche dem Staatsmann erlaubt zu wagen. Fast alles war gegen ihn. Die Konservativen hielten ihre Opposition stiller, um desto mehr unter der Hand zu tun, die Liberalen erhoben ein Friedensgeschrei, das über die Gesinnung des Volkes keinen Zweifel ließ. Das preußische, wie jedes gebildete, in geordneten Zuständen lebende Volk wird immer gegen einen Krieg sein, dessen absolute Notwendigkeit nicht offen zutage liegt. Nicht allein die Liberalen und die Konservativen, sondern auch jene sehr große Zahl von Menschen, für welche Parteigesichtspunkte nicht entscheiden, sahen diesen Krieg in der ungeheuren Mehrheit für eine große Kalamität an. Für Preußen stand unendlich viel dabei auf dem Spiel. Er verlangte von jedem einzelnen die größten Opfer. Er widersprach allem, was man seit Jahren von deutscher Einigkeit und Brüderlichkeit gesagt und gesungen hatte. Die Kameraden von Schleswig, die Kameraden von Leipzig sollten die Waffen gegeneinander kehren. Da Preußen augenscheinlich der offensive Teil war, traf alle Gehässigkeit des Bruderkrieges seine Politik. Die Situation gestaltete sich bald so, daß Österreich mit beiden Händen eine unvergleichliche Gelegenheit meinte ergreifen zu müssen, um Preußen für immer unschädlich zu machen.
Ich bin weit davon entfernt, meine liberalen Parteigenossen deshalb tadeln zu wollen, daß sie nicht gleich von vornherein entschieden Partei nahmen für die Bismarcksche Politik. Es gehörte dazu vielleicht eine Unbefangenheit des Urteils und eine Kenntnis der Sachlage, die man nicht von der Masse einer Partei verlangen darf. Daß sie aber noch im Mai, ja noch im Juni mit wenigen Ausnahmen daran festhielten, gegen Bismarck Chorus zu machen mit allem, was in Deutschland reaktionär und antinational war, mit dem dynastischen Partikularismus, mit der in Bequemlichkeit aufgewachsenen und vor preußischer Zucht und Arbeit zitternden Bürokratie der Kleinstaaten, mit dem engherzigen Philistertum, dem es vielleicht recht wäre, wenn die Zahl der deutschen Residenzen verdoppelt würde, mit jenem wirklich traurigen Junkertum, das mit richtigem Instinkt in Preußen den revolutionären Emporkömmling haßt, mit jenen Ultramontanen, deren Liebe zum Hause Habsburg für alle Patrioten ein ausreichender Grund zu der entgegengesetzten Empfindung sein sollte, daß die meisten Vertreter einer freisinnigen deutschen Politik auch dann noch Arm in Arm gingen mit ihren unversöhnlichsten Gegnern, als es längst auf der Hand lag, daß der Sieg Preußens der Sieg einer liberalen und einer nationalen Politik werden müsse, der Sieg Österreichs die Vernichtung aller liberalen und nationalen Hoffnungen, das, ich gestehe es, war das Traurigste, was ein aufrichtig liberaler Mann erleben konnte. Es sprach über die bisher in Deutschland übliche Art von Liberalismus ein Todesurteil, von dem es keine Appellation mehr gab. Es bewies, daß die Partei, an welche sich bisher die Hoffnungen der Nation geknüpft hatten, weder die politische Einsicht, noch die Kraft besaß, durch die allein ein großes Volk zu seinem Heil geführt werden kann.
Ich will, wie gesagt, die Frage nicht diskutieren, ob die nationalliberale Partei von vornherein die Gelegenheit, den unerläßlichen Kampf mit Österreich endlich auszufechten, mit beiden Händen ergreifen oder an ihrer früheren Ansicht, die deutschen Verhältnisse mit der Kraft der liberalen Meinung in friedlichem Weg zu ordnen, festhalten mußte. Ich will zugeben, daß eine Reihe gewichtiger Gründe damals noch gegen die Bismarcksche Politik angeführt werden konnte. Aber seit dem Anfang des Mai lag diese Frage nicht mehr vor. Es handelte sich damals nicht mehr darum, ob der Krieg wünschenswert sei oder nicht, sondern lediglich darum, auf welche Seite sich die Partei in dem unvermeidlich gewordenen Krieg stellen solle. Ich will zugeben, daß auch diese Entscheidung im März erhebliche Schwierigkeiten gehabt hätte, zu einer Zeit, wo man behaupten konnte, daß in dem Kampf auf preußischer Seite lediglich Ziele verfolgt würden, welche die Partei zurückweisen müsse. Aber was von Preußen seit dem Antrag vom 9. April auf Berufung des Parlaments geschehen war, ließ eine solche Behauptung nicht mehr zu. Wer sehen wollte, mußte jetzt sehen, daß in dem bevorstehenden Kampf nicht nur entschieden werden müsse, ob Preußen oder Österreich die leitende Macht in Deutschland sein werde, sondern daß Preußen, indem es diese Entscheidung herbeiführe, durch die unwiderstehliche Macht der Verhältnisse gezwungen werde, die Kraft der Nation für sich aufzurufen gegen die engverbundene Phalanx aller auf der Zerrissenheit und Unfreiheit der Nation ruhenden Interessen. Wenn aber die preußische Politik diese Wendung nahm trotz der heftigen Opposition des Liberalismus und der darin gelegenen Nötigung, sich so viel als möglich in Preußen auf die konservative Richtung zu stützen, so war es doch eine Sache der einfachsten politischen Berechnung zu erkennen, daß diese Politik frank und frei auf den Boden eines liberalen Programms sich stellen werde, sobald nur die Liberalen aufhörten, ihr das unmöglich zu machen. Die Wehrufe des Rundschauers auf der einen und die unumwundensten Erklärungen der Bismarckschen Organe auf der anderen Seite legten dieses Verhältnis auch für ein ungeübtes Auge bloß, wenn es nur überhaupt sehen wollte.
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Es ist traurig zu sagen, daß die mächtigste Fraktion des preußischen Liberalismus, die Fortschrittspartei, sich dieser handgreiflichen Pflicht vollständig versagt und durch ihre Haltung im Gegenteil die schwere Schuld auf sich geladen hat, die Freunde Preußens in den Kleinstaaten noch mehr zu verwirren, die einen im Moment der größten Entscheidung, die wir seit fünfzig Jahren erlebt haben, zu tatloser Passivität, die andern gar zu aktiver Teilnahme für Österreich zu bestimmen. Und nicht nur die Fortschrittspartei, auch das linke Zentrum folgte größtenteils einer so unbegreiflichen Politik, und nur die Mehrzahl der Altliberalen stand an dem Platz, den Pflicht und Klugheit jedem freisinnigen Patrioten anwies. Ich habe damals gegen die Mitte Mai meinem geängstigten Herzen Luft gemacht in einer den norddeutschen Liberalen gewidmeten Flugschrift[1], deren Argumente natürlich für Preußen doppelt und dreifach galten. Ich verzichte auf die Genugtuung zu berichten, wie dieser aus dem Süden kommende Ruf für Preußen in der preußischen Hauptstadt von einzelnen zurückgewiesen wurde. Es gehörte damals einiger Mut dazu, seinen Dissens von der Masse der Partei unumwunden auszusprechen.
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So standen die Dinge am 14. Juni. Drei Wochen später war die ganze deutsche Welt von Grund aus verwandelt. Österreich lag am Boden. Die Mittelstaaten hatten sich als einfache Kleinstaaten enthüllt ohne jede selbständige Leistungsfähigkeit. Preußen stand über dieser Armseligkeit der Kleinstaaterei wie ein Riese voll strotzender Kraft. Das prahlerische Österreich hatte es in acht Tagen zerschmettert. Und nicht nur wie die gesunde Macht neben der in allen Gliedern kranken, sondern auch wie die hochzivilisierte Macht neben einer wesentlich barbarischen stand es da. Die „deutschen Brüder“ in Österreich übernahmen es, die süddeutschen Enthusiasten gründlich zu kurieren. Welche schamlosen Lügen in ihrer Presse, welche stumpfsinnige Brutalität auf den Verbandplätzen, in den Lazaretten, in der Gefangenschaft, welche Treulosigkeit gegen die Verbündeten, welche Unterwürfigkeit gegen den fremden Imperator! Jetzt erlebten die Großdeutschen in Bayern und Schwaben, was es mit dieser habsburgischen Herrlichkeit auf sich habe, jetzt sahen es die Blinden, daß das Haus Habsburg Österreich nicht viel weniger bis ins Mark vergiftet habe als einst Spanien und daß die brüderlichen Phrasen der Deutschösterreicher nichts waren als eine plumpe Schlinge für die Gimpel im Reich. Über alle Erwartung klein und arm erwiesen sich sämtliche Teilnehmer des großen Bündnisses zur Züchtigung Preußens, arm an Gedanken, an Kenntnissen wie an wirklicher Begeisterung, klein auf dem Schlachtfeld wie im Kabinett. Und über alle Erwartung groß und reich stand das viel geschmähte Preußen da, groß in jeglicher Leistung, reich an jeglicher Kraft. Die erstaunte Welt wußte nicht, was sie an diesem Staat mehr bewundern sollte, die einzige Organisation seiner Streitkraft oder die sittliche Hingebung seiner Bevölkerung, die unvergleichliche Gesundheit seiner wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Solidität seiner Volksbildung, die Größe seiner Siege oder die Bescheidenheit seiner Siegesberichte, die Tapferkeit seiner jungen Soldaten oder die Pflichttreue seines greisen Königs. Alles, alles zeigte sich in diesem Staat, den man seit Jahren als die sichere Beute der Revolution zu betrachten gelernt hatte, von wunderbarer Echtheit, und je mehr man die rätselhafte Erscheinung prüfte, desto mehr fand man zu bewundern. Dieses Volk in Waffen stürmte mit unaufhaltsamer Gewalt auf einer Siegesbahn ohnegleichen vorwärts und blieb doch ein Volk des Friedens, ganz unberührt von dem Rausch des Kriegsruhms, zurückverlangend nach der stillen Arbeit, fast mehr trauernd über die Gefallenen als jubelnd über den Sieg. Es entwickelte eine unvergleichliche Bravour in einem Kampf, den es lange mit aller Anstrengung von sich ferngehalten hatte. Es stellte alle seine Kraft einer Regierung zur Verfügung, gegen die es vier Jahre den erbittertsten Krieg geführt hatte.
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Noch eben waren wir in einem Wirrwarr widerstreitender Kräfte begraben, dessen Lösung sich unzählige Parteinuancen nach subjektiver Richtung, nach lokalem Interesse, nach einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Zuneigungen und Abneigungen so oder so ausdenken konnten. Für unsere politische Unart war das die gefährlichste aller Situationen. Scheinbar hatten wir uns allerdings in einige große Gruppen gesammelt. Aber diese Parteibildungen ruhten auf höchst bedenklichen Täuschungen. Der scheinbar so wohl disziplinierte Nationalverein schloß Gegensätze in sich, die sich wohl der Phrase einstimmig votierter Resolutionen unterordnen konnten, aber die Vereinsgenossen nach allen Seiten zersprengt haben würden, wenn sie je in die Lage gekommen wären, statt auf dem geduldigen Papier in der politischen Realität zu operieren. Der kleindeutsche Patriot hatte in Hannover eine andere Herzensmeinung als in Braunschweig, in Hamburg als in Bremen, in Kurhessen als in Hessen-Darmstadt, und die besten Großdeutschen, so warm sie „Gesamtdeutschland“ im Busen trugen, dachten sich die praktische Lösung ihres schönen Programms doch sehr verschieden, ob sie im Westen oder Osten des Schwarzwaldes, im Westen oder Osten des Lech wohnten.
Der Kern unserer deutschen Phantasien war Partikularismus, der hatte Fleisch und Bein. Wir hofften einmal Deutsche zu werden, aber wir waren leibhaftige Hannoveraner, Badener, Bayern. Und die ungeheure Masse der Bevölkerung war nur das. Und auch derjenige, der sich seines Deutschtums aufrichtig bewußt, dem es eine ernste Herzensangelegenheit war, dieser Unwürdigkeit der Gegenwart mit seiner besten Kraft entgegenzuarbeiten, die Macht aller realen Verhältnisse band ihn nichtsdestoweniger unlöslich fest an das kleine Sonderwesen, dem er angehörte. Ihm steuerte, ihm gehorchte, ihm diente er. Wo war das große Ganze, nach dem er sehnsüchtig die Arme ausstreckte? In den Lüften! Es lebte in seiner Phantasie, in seinen Träumen. Er konnte es besingen, er konnte ihm donnernde Hochs ausbringen, er konnte sich dafür begeistern, aber er konnte wenig oder nichts dafür tun. Hatte eine unpolitische, wesentlich von religiösen, literarischen, privaten Interessen erfüllte Vergangenheit uns daran gewöhnt, die einfachsten politischen Fragen durch unsere Theorien und Doktrinen zu verwirren, so konnte es nicht ausbleiben, daß die komplizierteste aller Fragen, die deutsche, unter uns eine wahrhaft babylonische Sprachverwirrung anrichtete.
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All dieser verzweifelten Not sind wir nun mit einem Schlag enthoben. Heute sind die Zweifel über das, was in Deutschland möglich sei, nicht nur den Denkenden, sondern mehr fast der Masse der Nation genommen. Sie greift die existente deutsche Macht mit Händen. Sie hat ihre Taten gesehen und empfunden, und diese Taten sind nach der langen trübseligen Misere unserer Ohnmacht von so unwiderstehlicher Gewalt, daß die Denkweise der Deutschen in Monaten Veränderungen erfahren hat, die wir vor Dezennien nicht hoffen durften. Alle die unlösbaren Probleme, mit denen wir uns seit achtzehn Jahren quälten, sind plötzlich aus unserem Gesichtskreis gerückt, und es ist ein einziges Problem geblieben, das freilich noch viele Arbeit machen wird, dessen Bewältigung wir aber deshalb hoffen dürfen, weil die tatsächlichen Verhältnisse alle Gedanken und Bestrebungen jetzt ebenso auf denselben Punkt zusammenführen, wie sie dieselben früher nach allen Windrichtungen auseinanderrissen. Jetzt handelt es sich lediglich darum, wie die Kleinstaaten zu dem unbestritten dominierenden Preußen ein gesundes Verhältnis finden können. Daß Preußen die deutsche Macht, alle übrigen Länder haltlose Bruchteile sind, welche nur durch einen innigen, ehrlichen Anschluß an jene ihre eigene Existenz sichern können, das ist eine Tatsache, an welcher der eigensinnigste schwäbische Demokrat nur sich selber weismacht, zweifeln zu können. Diese wohltuende Vereinfachung unserer Lage, dieses Glück, daß wir endlich festen sicheren Boden unter den Füßen fühlen, wird aber sicher in kurzem eine Menge unserer politischen Unarten zurückdrängen, und die kernige Gesundheit, deren wir uns gottlob auf anderen Lebensgebieten erfreuen, endlich auch unserer Politik zustatten kommen lassen. Die Schwätzer, welche bisher die Breite der Bühne besetzt hielten, werden in der scharfen klaren Luft, in der wir uns jetzt bewegen, kein Glück mehr machen. Nachdem wir im größten Maßstab erlebt haben, was Handeln ist, werden wir keine Freude mehr daran finden, uns das Ohr mit hochtrabenden Redensarten kitzeln zu lassen. Da die Arbeit der politischen Dilettanten so gründlich mißlungen ist, werden wir fordern, daß in dem großen Staatswesen, durch das wir eingetreten sind in das Weltleben, der ganze Ernst und die männliche Tüchtigkeit bewährt werde, die sich auf allen anderen Gebieten längst für uns von selbst versteht. Nachdem wir erlebt haben, daß in einem monarchischen Staat der Adel einen unentbehrlichen Bestandteil ausmacht, und nachdem wir gesehen haben, daß diese viel geschmähten Junker für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben wissen trotz dem besten Liberalen, werden wir unsere bürgerliche Einbildung ein wenig einschränken und uns bescheiden, neben dem Adel eine ehrenvolle Stelle zu behaupten. Wir meinten, mit unserer Agitation die deutsche Welt von Grund aus umzukehren: nun, lediglich uns selber hinauszukehren waren wir im besten Zuge; ich denke, wir werden diese Erfahrung beherzigen. An den größten Erlebnissen, die unsere Augen gesehen haben, sind wir gewahr geworden, wie höchst hinfällig doch selbst diejenigen Hypothesen waren, auf die wir wie auf Felsengrund unsere nationale und liberale Politik in den letzten Jahren gebaut hatten. Fast alle Elemente unseres politischen Systems sind durch die Tatsachen als irrtümlich erwiesen.
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Ob wir auf die Krone, auf die Minister, auf den Adel, das Militär oder ob wir auf die Abgeordneten, die Magistrate, die Zeitungen blicken, sie alle sind anders geworden, sie haben alle Großes gelernt. Und dieses Lernen hat seine Macht nicht nur in den Vorstellungen des Verstandes, sondern in den Regungen des Herzens. Sie denken nicht nur anders, sie fühlen anders. Vor drei Monaten tönte dem Ruf: Partei oder Vaterland? von allen Seiten die wilde Antwort entgegen: Partei! Heute geben sie alle dem Vaterland die Ehre.
Wahrlich, da ist es eine Lust geworden, für öffentliche Interessen zu arbeiten. Bisher war es ein harter, trauriger Dienst, dem sich nur die Pflicht unterzog: jetzt lockt der schönste Lohn, und jetzt haben wir eigentlich nur eine Arbeit zu vollbringen, die, gewisse Vorurteile zu überwinden, gewisse Schwächen abzutun, welche sich uns in einer unglücklichen Vergangenheit angehängt haben. Sobald der deutsche Liberalismus für die großen Tatsachen, welche er anerkennt, mit voller Hingebung, unbeirrt durch untergeordnete Bedenken, eintritt, so kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß uns das nächste Jahrzehnt den deutschen Staat bringen wird, der für unsere Wissenschaft, Kunst, Moral ein ebenso zwingendes Bedürfnis geworden ist wie für unsere politische Entwicklung und nationale Machtstellung. Nur wir können diesen heilsamen Prozeß hemmen, nur wir könnten uns selber in das alte Elend zurückstoßen.
Indem ich diese Betrachtungen schließe, tritt mir von neuem das Bedenken entgegen, welches mich von der Arbeit so lange zurückhielt, über der Arbeit so oft meine Feder hemmte, das Bedenken, ob eine Selbstkritik, wie ich sie wage, nicht sich auf einen besseren persönlichen Beruf stützen sollte, als ich ihn für mich in Anspruch nehmen darf. Wahrlich, ich hätte gern darauf verzichtet, eine für meine Schultern vielleicht zu schwere Last auf mich zu nehmen. Da aber, obwohl die Zeit drängt, niemand Hand anlegte, glaubte ich, meiner gewissenhaften Überzeugung mehr gehorchen zu müssen als jeder persönlichen Rücksicht. Ich habe das Gefühl, eine schwere, undankbare, aber notwendige Pflicht erfüllt zu haben. Ich bin gefaßt darauf, von vielen getadelt, von manchen vielleicht heftig angegriffen zu werden; ich will die mit der Arbeit verbundenen Unannehmlichkeiten gern tragen, wenn sie nur dem Vaterland und der Partei, der sie gewidmet ist, einigen Nutzen bringt. Niemand, denke ich, wird mir die Einbildung zutrauen, als hätte ich mit meiner Erörterung den Gegenstand irgend erschöpft: ich wollte nichts als zur ernsten Selbstprüfung auffordern, eine Anregung geben zu einer Diskussion, die wir uns nicht schenken dürfen, und nichts würde mich mehr freuen, als wenn weitersehende Männer eine Aufgabe würdiger lösen wollten, die ich mich verpflichtet hielt auf die Tagesordnung zu bringen.
Es wird vielleicht nicht an solchen fehlen, welche Verrat an der Partei nennen, was zu tun mich nur treue Hingebung an die Partei bestimmen konnte. Läge mir nichts an dem Liberalismus, nun, ich würde mich nicht so sehr um ihn bemüht haben. Ich bin der festen Überzeugung, daß eine befriedigende Lösung unserer politischen Aufgaben nur dann gelingen wird, wenn der Liberalismus aufhört, vorwiegend Opposition zu sein, wenn er dazu gelangt, gewisse unendlich wichtige Anliegen der Nation, für die nur er ein volles und aufrichtiges Verständnis hat, in eigener gouvernementaler Tätigkeit zu befriedigen, wenn wir einen wohltätigen erfrischenden Wechsel liberaler und konservativer Regierungen bekommen. Der Liberalismus muß regierungsfähig werden. Wer darin eine Verkümmerung der liberalen Größe findet, daß er, statt als Opposition ein Unbegrenztes zu fordern, als Regierung ein Geringes tun soll, dem kann ich freilich nicht helfen. Aber einen Abfall vom Liberalismus wird doch wohl niemand die Forderung zu nennen wagen, daß der Liberalismus endlich eine seine Gedanken selbst realisierende Macht werde. Ich bin weit davon entfernt, eine Grenze ziehen zu wollen, über die er diese Macht nicht ausdehnen solle: soweit seine Macht wirklich reicht, soll er sie mit allem Nachdruck üben; ich wünschte nur, er hörte auf, sich durch Illusionen über den Umfang seiner Kräfte um alle wirkliche Macht zu bringen.
Anmerkungen
Quelle: Hermann Baumgarten, „Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik“, in Preußische Jahrbücher, Jg. 18 (November–Dezember 1866), S. 455–515, 575–629; abgedruckt in Hermann Baumgarten, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, herausgegeben und eingeleitet von Adolf M. Birke. Frankfurt a.M.: Ullstein, 1974, S. 23–150, hier S. 132–49.