Kurzbeschreibung

Die folgende Textpassage stammt aus Theodor Fontanes 1899 veröffentlichtem Roman Der Stechlin. Es handelt sich um ein fiktives Werk, doch die hier vorliegende Schilderung beleuchtet viele Aspekte ländlicher Wahlen im kleinstädtischen Deutschland der Bismarckzeit. Fontanes Hauptcharakter, Dubslav von Stechlin, ist ein Adliger aus der Mark Brandenburg. Er wird Reichstagskandidat der Konservativen Partei für den Wahlkreis Rheinsberg-Wutz, einer traditionellen Hochburg der Konservativen. Als Politiker dazu gezwungen, die Unterstützung der gewöhnlichen Leute zu suchen, ist Stechlin darin weder erfahren noch besonders bereit dazu, doch ist er vor Ort bekannt und hat in einer Zeit, als persönliche Politik erst von Parteimaschinerien abgelöst werden musste, gute Chancen, gewählt zu werden. Die konkurrierenden Kandidaten vertreten die Fortschrittspartei und die Sozialdemokraten. Stechlin lehnt es ab, einen aktiven Wahlkampf zu führen: sein Charakter ist seine Plattform. Doch sowohl Stechlin als auch Fontane wissen, dass die Zeiten sich ändern und ein modernerer Stil der politischen Wahlkampfführung sich auszuzahlen beginnt. Stechlin verliert die Wahl und der Sozialdemokrat gewinnt.

Theodor Fontane beschreibt eine konservative Wahlkampagne im ländlichen Brandenburg (1880er Jahre)

  • Theodor Fontane

Quelle

Wahl in Rheinsberg-Wutz

Siebzehntes Kapitel

Es war so, wie die Tante geschrieben: Dubslav hatte sich als konservativen Kandidaten aufstellen lassen, und wenn für Woldemar noch Zweifel darüber gewesen wären, so hätten einige am Tage darauf von Lorenzen eintreffende Zeilen diese Zweifel beseitigt. Es hieß in Lorenzens Brief:

„Seit Deinem letzten Besuch hat sich hier allerlei Großes zugetragen. Noch am selben Abend erschienen Gundermann und Koseleger und drangen in Deinen Vater, zu kandidieren. Er lehnte zunächst natürlich ab; er sei weltfremd und verstehe nichts davon. Aber damit kam er nicht weit. Koseleger, der was ihm auch später noch von Nutzen sein wird - immer ein paar Anekdoten auf der Pfanne hat, erzählte ihm sofort, daß vor Jahren schon, als ein von Bismarck zum Finanzminister Ausersehener sich in gleicher Weise mit einem ‚Ich verstehe nichts davon‘ aus der Affaire ziehen wollte, er der bismarckisch-prompten Antwort begegnet sei: ‚Darum wähle ich Sie ja gerade, mein Lieber‘ - eine Geschichte, der Dein Vater natürlich nicht widerstehen konnte.

Kurzum, er hat eingewilligt. Von Herumreisen ist selbstverständlich Abstand genommen worden, ebenso vom Redenhalten. Schon nächsten Sonnabend haben wir Wahl in Rheinsberg, wie immer, fallen die Würfel. Ich glaube, daß er siegt. Nur die Fortschrittler können in Betracht kommen und allenfalls die Sozialdemokraten, wenn vom Fortschritt (was leicht möglich ist) einiges abbröckelt. Unter allen Umständen schreibe Deinem Papa, daß Du Dich seines Entschlusses freutest. Du kannst es mit gutem Gewissen. Bringen wir ihn durch, so weiß ich, daß kein Besserer im Reichstag sitzt und daß wir uns alle zu seiner Wahl gratulieren können.

Er sich persönlich allerdings auch. Denn sein Leben hier ist zu einsam, so sehr, daß er, was doch sonst nicht seine Sache ist, mitunter darüber klagt. Das war das, was ich Dich wissen lassen mußte. ‚Sonst nichts Neues vor Paris.‘ Krippenstapel geht in großer Aufregung einher; ich glaube, wegen unsrer auf Donnerstag in Stechlin selbst angesetzten Vorversammlung, wo er mutmaßlich seine herkömmliche Rede über den Bienenstaat halten wird. Empfiehl mich Deinen zwei liebenswürdigen Freunden, besonders Czako. Wie immer, Dein alter Freund Lorenzen.“

Woldemar, als er gelesen, wußte nicht recht, wie er sich dazu stellen sollte. Was Lorenzen da schrieb, „daß kein Besserer im Hause sitzen würde“, war richtig: aber er hatte trotzdem Bedenken und Sorge. Der Alte war durchaus kein Politiker, er konnte sich also stark in die Nesseln setzen, ja vielleicht zur komischen Figur werden. Und dieser Gedanke war ihm, dem Sohne, der den Vater schwärmerisch liebte, sehr schmerzlich. Außerdem blieb doch auch immer noch die Möglichkeit, daß er in dem Wahlkampf unterlag.

Diese Bedenken Woldemars waren nur allzu berechtigt. Es stand durchaus nicht fest, daß der alte Dubslav, so beliebt er selbst bei den Gegnern war, als Sieger aus der Wahlschlacht hervorgehen müsse. Die Konservativen hatten sich freilich daran gewöhnt, Rheinsberg-Wutz als eine „Hochburg“ anzusehen, die der staatserhaltenden Partei nicht verlorengehen könne, diese Vorstellung aber war ein Irrtum, und die bisherige Reverenz gegen den alten Kortschädel wurzelte lediglich in etwas Persönlichem. Nun war ihm Dubslav an Ansehen und Beliebtheit freilich ebenbürtig, aber das mit der ewigen persönlichen Rücksichtnahme mußte doch mal ein Ende nehmen, und das Anrecht, das sich der alte Kortschädel ersessen hatte, mit diesem mußt es vorbei sein, eben weil sich’s endlich um einen Neuen handelte. Kein Zweifel, die gegnerischen Parteien regten sich, und es lag genau so, wie Lorenzen an Woldemar geschrieben, „daß ein Fortschrittler, aber auch ein Sozialdemokrat gewählt werden könne“.

Wie die Stimmung im Kreise wirklich war, das hätte der am besten erfahren, der im Vorübergehen an der Comptoirtür des alten Baruch Hirschfeld gehorcht hätte.

„Laß dir sagen, Isidor, du wirst also wählen den guten alten Herrn von Stechlin.“

„Nein, Vater. Ich werde nicht wählen den guten alten Herrn von Stechlin.“

„Warum nicht? Ist er doch ein lieber Herr und hat das richtige Herz.“

„Das hat er; aber er hat das falsche Prinzip.“

„Isidor, sprich mir nicht von Prinzip. Ich habe dich gesehn, als du hast scharmiert mit dem Mariechen von nebenan und hast ihr aufgebunden das Schürzenband, und sie hat dir gegeben einen Klaps. Du hast gebuhlt um das christliche Mädchen. Und du buhlst jetzt, wo die Wahl kommt, um die öffentliche Meinung. Und das mit dem Mädchen, das hab ich dir verziehen. Aber die öffentliche Meinung verzeih ich dir nicht.“

„Wirst du, Vaterleben; haben wir doch die neue Zeit. Und wenn ich wähle, wähl ich für die Menschheit.“

„Geh mir, Isidor, die kenn ich. Die Menschheit, die will haben, aber nicht geben. Und jetzt wollen sie auch noch teilen.“

„Laß sie teilen, Vater.“

„Gott der Gerechte, was meinst du, was du kriegst? Nicht den zehnten Teil.“

Und ähnlich ging es in den andern Ortschaften. In Wutz sprach Fix für das Kloster und die Konservativen im allgemeinen, ohne dabei Dubslav in Vorschlag zu bringen, weil er wußte, wie die Domina zu ihrem Bruder stand. Ein Linkskandidat aus Cremmen schien denn auch in der Wutzer Gegend die Oberhand gewinnen zu sollen. Noch gefährlicher für die ganze Grafschaft war aber ein Wanderapostel aus Berlin, der von Dorf zu Dorf zog und die kleinen Leute dahin belehrte, daß es ein Unsinn sei, von Adel und Kirche was zu erwarten. Die vertrösteten immer bloß auf den Himmel. Achtstündiger Arbeitstag und Lohnerhöhung und Sonntagspartie nach Finkenkrug - das sei das Wahre.

So zersplitterte sich’s allerorten. Aber wenigstens um den Stechlin herum hoffte man der Sache noch Herr werden und alle Stimmen auf Dubslav vereinigen zu können. Im Dorfkruge wollte man zu diesem Zwecke beraten, und Donnerstag sieben Uhr war dazu festgesetzt.

Der Stechliner Krug lag an dem Platze, der durch die Kreuzung der von Wutz her heranführenden Kastanienallee mit der eigentlichen Dorfstraße gebildet wurde, und war unter den vier hier gelegenen Eckhäusern das stattlichste. Vor seiner Front standen ein paar uralte Linden, und drei, vier Stehkrippen waren bis dicht an die Hauswand herangeschoben, aber alle ganz nach links hin, wo sich Eckladen und Gaststube befanden, während nach der rechten Seite hin der große Saal lag, in dem heute Dubslav, wenn nicht für die Welt, so doch für Rheinsberg-Wutz, und wenn nicht für Rheinsberg-Wutz, so doch für Stechlin und Umgegend proklamiert werden sollte. Dieser große Saal war ein fünffenstriger Längsraum, der schon manchen Schottischen erlebt, was er in seiner Erscheinung auch heute nicht zu verleugnen trachtete. Denn nicht nur waren ihm alle seine blanken Wandleuchter verblieben, auch die mächtige Baßgeige, die jedesmal wegzuschaffen viel zu mühsam gewesen wäre, guckte, schräg gestellt, mit ihrem langen Halse von der Musikempore her über die Brüstung fort.

Unter dieser Empore, quer durch den Saal hin, stand ein für das Komitee bestimmter länglicher Tisch mit Tischdecke, während auf den links und rechts sich hinziehenden Bänken einige zwanzig Vertrauensmänner saßen, denen es hinterher oblag, im Sinne der Komiteebeschlüsse weiterzuwirken. Die Vertrauensmänner waren meist wohlhabende Stechliner Bauern, untermischt mit offiziellen und halboffiziellen Leuten aus der Nachbarschaft: Förster und Waldhüter und Vormänner von den verschiedenen Glas- und Teeröfen. Zu diesen gesellte sich noch ein Torfinspektor, ein Vermessungsbeamter, ein Steueroffiziant und schließlich ein gescheiterter Kaufmann, der jetzt Agent war und die Post besorgte. Natürlich war auch Landbriefträger Brose da samt der gesamten Sicherheitsbehörde: Fußgensdarm Uncke und Wachtmeister Pyterke von der reitenden Gensdarmerie. Pyterke gehörte nur halb mit zum Revier (es war das immer ein streitiger Punkt), erschien aber trotzdem mit Vorliebe bei Versammlungen der Art. Es gab nämlich für ihn nichts Vergnüglicheres, als seinen Kameraden und Amtsgenossen Uncke bei solcher Gelegenheit zu beobachten und sich dabei seiner ungeheuren, übrigens durchaus berechtigten Überlegenheit als schöner Mann und ehemaliger Gardekürassier bewußt zu werden. Uncke war ihm der Inbegriff des Komischen, und wenn ihn schon das rote, verkupferte Gesicht an und für sich amüsierte, so doch viel, viel mehr noch der gefärbte Schuhbürstenbackenbart, vor allem aber das Augenspiel, mit dem er den Verhandlungen zu folgen pflegte. Pyterke hatte recht; Uncke war wirklich eine komische Figur. Seine Miene sagte beständig: „An mir hängt es.“ Dabei war er ein höchst gutmütiger Mann, der nie mehr als nötig aufschrieb und auch nur selten auflöste.

Der Saal hatte nach dem Flur hin drei Türen. An der Mitteltür standen die beiden Gensdarmen und rückten sich zurecht, als sich der Vorsitzende des Komitees mit dem Glockenschlag sieben von seinem Platz erhob und die Sitzung für eröffnet erklärte.

Dieser Vorsitzende war natürlich Oberförster Katzler, der heute, statt des bloßen schwarz-weißen Bandes, sein bei St. Marie aux Chênes erworbenes Eisernes Kreuz in Substanz eingeknöpft hatte. Neben ihm saßen Superintendent Koseleger und Pastor Lorenzen, an der linken Schmalseite Krippenstapel, an der rechten Schulze Kluckhuhn, letzterer auch dekoriert, und zwar mit der Düppelmedaille, trotzdem er bei Düppel in der Reserve gestanden. Er scherzte gern darüber und sagte, während er seine beneidenswerten Zähne zeigte: „Ja, Kinder, so geht es. Bei Alsen war ich, aber bei Düppel war ich nich, und dafür hab ich nu die Düppelmedaille.“

Schulze Kluckhuhn war überhaupt eine humoristisch angeflogene Persönlichkeit, Liebling des alten Dubslav, und trat immer, wenn sich die alten Kriegerbundleute von sechsundsechzig und siebzig aufs hohe Pferd setzen wollten, für die von vierundsechzig ein. „Ja, vierundsechzig, Kinder, da fing es an.“

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Wie Gundermann immer der Sozialdemokratie das „Wasser abstellen“ wollte, so verglich Kluckhuhn alles zur Sozialdemokratie Gehörige mit dem schwarzen Ungetüm im Alsensund. „Ich sag euch, was sie jetzt die soziale Revolution nennen, das liegt neben uns wie damals ‚Rolf Krake‘; Bebel wartet bloß, und mit eins fegt er dazwischen.“

Schulze Kluckhuhn war in der ganzen Stechliner Gegend sehr angesehen, und als er jetzt mit seiner Medaille so dasaß, dicht neben Koseleger, war er sich dessen auch wohl bewußt. Aber gegen Krippenstapel, den er als Schulpauker und Bienenvater eigentlich nicht für voll ansah, kam er bei dieser Gelegenheit doch nicht an; Krippenstapel hatte heute ganz seinen großen Tag, so sehr, daß selbst Kluckhuhn seinen Ton herabstimmen mußte.

Katzler, ein entschiedener Nichtredner, begann, als er sich mit seinem Notizenzettel, auf dem verschiedene Satzanfänge standen, erhoben hatte, mit der Versicherung, daß er den so zahlreich Anwesenden, unter denen vielleicht auch einige Andersdenkende seien, für ihr Erscheinen danke. Sie wüßten alle, zu welchem Zweck sie hier seien. Der alte Kortschädel sei tot, „er ist in Ehren hingegangen“, und es handle sich heute darum, dem alten Herrn von Kortschädel im Reichstag einen Nachfolger zu geben. Die Grafschaft habe immer konservativ gewählt; es sei Ehrensache, wieder konservativ zu wählen. „Und ob die Welt voll Teufel wär.“ Es liege der Grafschaft ob, dieser Welt des Abfalls zu zeigen, daß es noch „Stätten“ gäbe. Und hier sei eine solche Stätte. „Wir haben, glaub ich“, so schloß er, „niemand an diesem Tisch, der das Parlamentarische voll beherrscht, weshalb ich bemüht gewesen bin, das, was uns hier zusammengeführt hat, schriftlich niederzulegen. Es ist ein schwacher Versuch. Jeder tut, soviel er kann, und der Brombeerstrauch hat eben nur seine Beeren. Aber auch sie können den durstigen Wanderer erfrischen. Und so bitte ich denn unsern politischen Freund, dem wir außerdem für die Erforschung dieser Gegenden soviel verdanken, ich bitte Herrn Lehrer Krippenstapel, uns das von mir Aufgesetzte vorlesen zu wollen. Ein Promemoria. Man kann es vielleicht so nennen.“

Katzler, unter Verneigung, setzte sich wieder, während sich Krippenstapel erhob. Er blätterte wie ein Rechtsanwalt in einer Anzahl von Papieren und sagte dann: „Ich folge der Aufforderung des Herrn Vorsitzenden und freue mich, berufen zu sein, ein Schriftstück zur Verlesung zu bringen, das unser aller Gefühlen - ich bin dessen sicher und glaube von den Einschränkungen, die unser Herr Vorsitzender gemacht hat, absehen zu dürfen - zu kräftigstem Ausdruck verhilft.“

Und nun setzte Krippenstapel seine Hornbrille auf und las. Es war ein ganz kurzes Schriftstück und enthielt eigentlich dasselbe, was Katzler schon gesagt hatte. Die Betonungen Krippenstapels sorgten aber dafür, daß der Beifall reichlicher war und daß die Schlußwendung, „und so vereinigen wir uns denn in dem Satze: was um den Stechlin herum wohnt, das ist für Stechlin“, einen ungeheuren Beifall fand. Pyterke hob seinen Helm und stieß mit dem Pallasch auf, während Uncke sich umsah, ob doch vielleicht ein einzelner Übelwollender zu notieren sei. Nicht um ihn direkt anzuzeigen, aber doch zur Kenntnisnahme. Brose, der (wohl eine Folge seines Berufs) unter dem ungewohnten langen Stillstehen gelitten hatte, nahm im Vorflur, wie zur Niederkämpfung seiner Beinnervosität, eine Art Probegeschwindschritt rasch wieder auf, während Kluckhuhn sich von seinem Stuhl erhob, um Katzler erst militärisch und dann unter gewöhnlicher Verbeugung zu begrüßen, wobei seine Düppelmedaille dem Katzlerschen Eisernen Kreuz entgegenpendelte. Nur Koseleger und Lorenzen blieben ruhig. Um des Superintendenten Mund war ein leiser ironischer Zug.

Dann erklärte der Vorsitzende die Sitzung für geschlossen[.]

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Neunzehntes Kapitel

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Dubslav war in ausgezeichneter Laune. Das prachtvolle Herbstwetter, dazu das bunte Leben, alles hatte seine Stimmung gehoben, am meisten aber, daß er unterwegs und beim Passieren der Hauptstraße bereits Gelegenheit gehabt hatte, verschiedene gute Freunde zu begrüßen. Von der Kirche her schlug es zehn, als er vor dem als Wahllokal etablierten Gasthause „Zum Prinzregenten“ hielt, in dessen Front denn auch bereits etliche mehr oder weniger verwogen aussehende Wahlmänner standen, alle bemüht, ihre Zettel an mutmaßliche Parteigenossen auszuteilen.

Drinnen im Saal war der Wahlakt schon im Gange. Hinter der Urne präsidierte der alte Herr von Zühlen, ein guter Siebziger, der die groteskesten Feudalansichten mit ebenso grotesker Bonhomie zu verbinden wußte, was ihm, auch bei seinen politischen Gegnern, eine große Beliebtheit sicherte. Neben ihm, links und rechts, saßen Herr von Storbeck und Herr van dem Peerenboom, letzterer ein Holländer aus der Gegend von Delft, der vor wenig Jahren erst ein großes Gut im Ruppiner Kreise gekauft und sich seitdem zum Preußen und, was noch mehr sagen wollte, zum „Grafschaftler“ herangebildet hatte. Man sah ihn aus allen möglichen Gründen - auch schon um seines „van“ willen - nicht ganz für voll an, ließ aber nichts davon merken, weil er der bei den meisten Grafschaftlern stark ins Gewicht fallenden Haupteigenschaft eines vor soundso viel Jahren in Batavia geborenen holländisch-javanischen Kaffeehändlers nicht entbehrte. Seines Nachbarn von Storbeck Lebensgeschichte war durchschnittsmäßiger. Unter denen, die sonst noch am Komiteetisch saßen, befand sich auch Katzler, den Ermyntrud (wie Dubslav ganz richtig vermutet) mit der Bemerkung, „daß im modernen bürgerlichen Staate Wählen so gut wie Kämpfen sei“, von ihrem Wochenbette fortgeschickt hatte. „Das Kind wird inzwischen mein Engel sein, und das Gefühl erfüllter Pflicht soll mich bei Kraft erhalten.“ Auch Gundermann, der immer mit dabeisein mußte, saß am Komiteetisch. Sein Benehmen hatte was Aufgeregtes, weil er - wie Lorenzen bereits angedeutet wirklich im geheimen gegen Dubslav intrigiert hatte. Daß er selber unterliegen würde, war klar und beschäftigte ihn kaum noch, aber ihn erfüllte die Sorge, daß sein voraufgegangenes doppeltes Spiel vielleicht an den Tag kommen könne.

Dubslav wollte die Sache gern hinter sich haben. Er trat deshalb, nachdem er sich draußen mit einigen Bekannten begrüßt und an jeden einzelnen ein paar Worte gerichtet hatte, vom Vorplatz her in das Wahllokal ein, um da so rasch wie möglich seinen Zettel in die Urne zu tun. Es traf ihn bei dieser Prozedur der Blick des alten Zühlen, der ihm in einer Mischung von Feierlichkeit und Ulk sagen zu wollen schien: „Ja, Stechlin, das hilft nu mal nicht: man muß die Komödie mit durchmachen.“ Dubslav kam übrigens kaum dazu, von diesem Blicke Notiz zu nehmen, weil er Katzlers gewahr wurde, dem er sofort entgegentrat, um ihm durch einen Händedruck zu dem siebenten Töchterchen zu gratulieren. An Gundermann ging der Alte ohne Notiznahme vorüber. Dies war aber nur Zufall: er wußte nichts von den Zweideutigkeiten des Siebenmühlners, und nur dieser selbst, weil er ein schlechtes Gewissen hatte, wurde verlegen und empfand des Alten Haltung wie eine Absage.

Als Dubslav wieder draußen war, war natürlich die große Frage: „Ja, was jetzt tun?“ Es ging erst auf elf, und vor sechs war die Geschichte nicht vorbei, wenn sich’s nicht noch länger hinzog. Er sprach dies auch einer Anzahl von Herren aus, die sich auf einer vor dem Gasthause stehenden Bank niedergelassen und hier dem Liqueurkasten des „Prinzregenten“, der sonst immer erst nach dem Diner auftauchte, vorgreifend zugesprochen hatten.

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Gegen vier war man von dem Ausfluge zurück und hielt wieder vor dem „Prinzregenten“, auf einem mit alten Bäumen besetzten Platz, der wegen seiner Dreiecksform schon von alter Zeit her den Namen „Triangelplatz“ führte. Die Wahlresultate lagen noch keineswegs sicher vor; es ließ sich aber schon ziemlich deutlich erkennen, daß viele Fortschrittlerstimmen auf den sozialdemokratischen Kandidaten, Feilenhauer Torgelow, übergehen würden, der, trotzdem er nicht persönlich zugegen war, die kleinen Leute hinter sich hatte. Hunderte seiner Parteigenossen standen in Gruppen auf dem Triangelplatz umher und unterhielten sich lachend über die Wahlreden, die während der letzten Tage teils in Rheinsberg und Wutz, teils auf dem platten Lande von Rednern der gegnerischen Parteien gehalten worden waren. Einer der mit unter den Bäumen Stehenden, ein Intimus Torgelows, war der Drechslergeselle Söderkopp, der sich schon lediglich in seiner Eigenschaft als Drechslergeselle eines großen Ansehns erfreute. Jeder dachte: der kann auch noch mal Bebel werden. „Warum nicht? Bebel is alt, und dann haben wir den.“ Aber Söderkopp verstand es auch wirklich, die Leute zu packen. Am schärfsten ging er gegen Gundermann vor. „Ja, dieser Gundermann, den kenn ich. Brettschneider und Börsenfilou; jeder Groschen is zusammengejobbert. Sieben Mühlen hat er, aber bloß zwei Redensarten, und der Fortschritt ist abwechselnd die ‚Vorfrucht‘ und dann wieder der ‚Vater‘ der Sozialdemokratie. Vielleicht stammen wir auch noch von Gundermann ab. So einer bringt alles fertig.“

Uncke, während Söderkopp so sprach, war von Baum zu Baum immer näher gerückt und machte seine Notizen. In weiterer Entfernung stand Pyterke, schmunzelnd und sichtlich verwundert, was Uncke wieder alles aufzuschreiben habe.

Pyterkes Verwunderung über das „Aufschreiben“ war nur zu berechtigt, aber sie wär es um ein gut Teil weniger gewesen, wenn sich Unckes aufhorchender Diensteifer statt dem Sozialdemokraten Söderkopp lieber dem Gespräch einer nebenstehenden Gruppe zugewandt hätte. Hier plauderten nämlich mehrere „Staatserhaltende“ von dem mutmaßlichen Ausgange der Wahl und daß es mit dem Siege des alten Stechlin von Minute zu Minute schlechter stünde. Besonders die Rheinsberger schienen den Ausschlag zu seinen Ungunsten gehen zu sollen.

„Hole der Teufel das ganze Rheinsberg!“ verschwor sich ein alter Herr von Kraatz, dessen roter Kopf, während er so sprach, immer röter wurde. „Dies elende Nest! Wir bringen ihn wahr und wahrhaftig nicht durch, unsern guten alten Stechlin. Und was das sagen will, das wissen wir. Wer gegen uns stimmt, stimmt auch gegen den König. Das ist all eins. Das ist das, was man jetzt solidarisch nennt.“

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Zwanzigstes Kapitel

Um sechs stand das Wahlresultat so gut wie fest; einige Meldungen fehlten noch, aber das war aus Ortschaften, die mit ihren paar Stimmen nichts mehr ändern konnten. Es lag zutage, daß die Sozialdemokraten einen beinahe glänzenden Sieg davongetragen hatten; der alte Stechlin stand weit zurück, Fortschrittler Katzenstein aus Gransee noch weiter. Im ganzen aber ließen beide besiegte Parteien dies ruhig über sich ergehen; bei den Freisinnigen war wenig, bei den Konservativen gar nichts von Verstimmung zu merken. Dubslav nahm es ganz von der heiteren Seite, seine Parteigenossen noch mehr, von denen eigentlich ein jeder dachte: „Siegen ist gut, aber zu Tische gehen ist noch besser.“

Und in der Tat, gegessen mußte werden. Alles sehnte sich danach, bei Forellen und einem guten Chablis die langweilige Prozedur zu vergessen. Und war man erst mit den Forellen fertig und dämmerte der Rehrücken am Horizont herauf, so war auch der Sekt in Sicht. Im „Prinzregenten“ hielt man auf eine gute Marke.

Durch den oberen Saal hin zog sich die Tafel: der Mehrzahl nach Rittergutsbesitzer und Domänenpächter, aber auch Gerichtsräte, die so glücklich waren, den „Hauptmann in der Reserve“ mit auf ihre Karte setzen zu können. Zu diesem gros d’armée gesellten sich Forst- und Steuerbeamte, Rentmeister, Prediger und Gymnasiallehrer. An der Spitze dieser stand Rektor Thormeyer aus Rheinsberg[.]

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Um halb sieben (Lichter und Kronleuchter brannten bereits) war man unter den Klängen des Tannhäusermarsches die hie und da schon ausgelaufene Treppe hinaufgestiegen. Unmittelbar vorher hatte noch ein Schwanken wegen des Präsidiums bei Tafel stattgefunden. Einige waren für Dubslav gewesen, weil man sich von ihm etwas Anregendes versprach, auch speziell mit Rücksicht auf die Situation. Aber die Majorität hatte doch schließlich Dubslavs Vorsitz als ganz undenkbar abgelehnt, da der Edle Herr von Alten-Friesack, trotz seiner hohen Jahre, mit zur Wahl gekommen war: der Edle Herr von Alten-Friesack, so hieß es, sei doch nun mal und von einem gewissen Standpunkt aus auch mit Fug und Recht - der Stolz der Grafschaft, überhaupt ein Unikum, und ob er nun sprechen könne oder nicht, das sei, wo sich’s um eine Prinzipienfrage handle, durchaus gleichgültig. Überhaupt, die ganze Geschichte mit dem „Sprechenkönnen“ sei ein moderner Unsinn. Die einfache Tatsache, daß der Alte von Alten-Friesack dasäße, sei viel, viel wichtiger als eine Rede, und sein großes Präbendenkreuz ziere nicht bloß ihn, sondern den ganzen Tisch.

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Und nun schwieg der von einem Thormeyerschen Unterlehrer gespielte Tannhäusermarsch, und als eine bestimmte Zeit danach der Moment für den ersten Toast da war, erhob sich Baron Beetz und sagte: „Meine Herren. Unser Edler Herr von Alten-Friesack ist von der Pflicht und dem Wunsch erfüllt, den Toast auf Seine Majestät den Kaiser und König auszubringen.“ Und während der Alte, das Gesagte bestätigend, mit seinem Glase grüßte, setzte der in seiner alter-ego-Rolle verbleibende Baron Beetz hinzu: „Seine Majestät der Kaiser und König lebe hoch!“ Der Alten-Friesacker gab auch hierzu durch Nicken seine Zustimmung, und während der junge Lehrer abermals auf den auf einer Rheinsberger Schloßauktion erstandenen alten Flügel zueilte, stimmte man an der ganzen Tafel hin das „Heil dir im Siegerkranz“ an, dessen erster Vers stehend gesungen wurde.

Das Offizielle war hierdurch erledigt, und eine gewisse Fidelitas, an der es übrigens von Anfang an nicht gefehlt hatte, konnte jetzt nachhaltiger in ihr Recht treten. Allerdings war noch immer ein wichtiger und zugleich schwieriger Toast in Sicht, der, der sich mit Dubslav und dem unglücklichen Wahlauspange zu beschäftigen hatte. Wer sollte den ausbringen? Man hing dieser Frage mit einiger Sorge nach und war eigentlich froh, als es mit einem Male hieß, Gundermann werde sprechen.

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„Meine Herren. Als ich vor soundso viel Jahren in Berlin studierte“ („Nanu.“), „als ich vor Jahren in Berlin studierte, war da mal ’ne Hinrichtung,..“

„Alle Wetter, der setzt gut ein.“

„...war da mal ’ne Hinrichtung, weil eine dicke Klempnermadam, nachdem sie sich in ihren Lehrburschen verliebt, ihren Mann, einen würdigen Klempnermeister, vergiftet hatte. Und der Bengel war erst siebzehn. Ja, meine Herren, soviel muß ich sagen, es kamen damals auch schon dolle Geschichten vor. Und ich, weil ich den Gefängnisdirektor kannte, ich hatte Zutritt zu der Hinrichtung, und um mich rum standen lauter Assessoren und Referendare, ganz junge Herren, die meisten mit ’nem Kneifer. Kneifer gab es damals auch schon. Und nun kam die Witwe, wenn man sie so nennen darf, und sah soweit ganz behäbig und beinahe füllig aus, weil sie, was damals viel besprochen wurde, ’nen Kropf hatte, weshalb auch der Block ganz besonders hatte hergerichtet werden müssen. Sozusagen mit ’nem Ausschnitt.“

„Mit ’nem Ausschnitt ...; gut, Gundermann.“

„Und als sie nun, ich meine die Delinquentin, all die jungen Referendare sah, wobei ihr wohl ihr Lehrling einfallen mochte...“

„Keine Verspottung unsrer Referendare...“

„... Wobei ihr vielleicht ihr Lehrling einfallen mochte, da trat sie ganz nahe an den Schafottrand heran und nickte uns zu (ich sage ‚uns‘, weil sie mich auch ansah) und sagte: ‚Ja, ja, meine jungen Herrens, dat kommt davon ...‘ Und sehen Sie, meine Herren, dieses Wort, wenn auch von einer Delinquentin herrührend, bin ich seitdem nicht wieder losgeworden, und wenn ich so was erlebe wie heute, dann muß einem solch Wort auch immer wieder in Erinnerung kommen, und ich sage dann auch, ganz wie die Alte damals sagte: ‚Ja, meine Herren, dat kommt davon.‘ Und wovon kommt es? Von den Sozialdemokraten. Und wovon kommen die Sozialdemokraten?“

„Vom Fortschritt. Alte Geschichte, kennen wir. Was Neues!“

„Es gibt da nichts Neues. Ich kann nur bestätigen, vom Fortschritt kommt es. Und wovon kommt der? Davon, daß wir die Abstimmungsmaschine haben und das große Haus mit den vier Ecktürmen. Und wenn es meinetwegen ohne das große Haus nicht geht, weil das Geld für den Staat am Ende bewilligt werden muß - und ohne Geld, meine Herren, geht es nicht“ (Zustimmung: „Ohne Geld hört die Gemütlichkeit auf“) -, „nun denn, wenn es also sein muß, was ich zugebe, was sollen wir, auch unter derlei gern gemachten Zugeständnissen, anfangen mit einem Wahlrecht, wo Herr von Stechlin gewählt werden soll und wo sein Kutscher Martin, der ihn zur Wahl gefahren, tatsächlich gewählt wird oder wenigstens gewählt werden kann. Und der Kutscher Martin unsers Herrn von Stechlin ist mir immer noch lieber als dieser Torgelow. Und all das nennt sich Freiheit. Ich nenn es Unsinn, und viele tun desgleichen. Ich denke mir aber, gerade diese Wahl, in einem Kreise, drin das alte Preußen noch lebt, gerade diese Wahl wird dazu beitragen, die Augen oben helle zu machen. Ich sage nicht, welche Augen.“

„Schluß, Schluß!“

„Ich komme zum Schluß. Es hieß Anno siebzig, daß sich die Franzosen als die ‚glorreich Besiegten‘ bezeichnet hätten. Ein stolzes und nachahmenswertes Wort. Auch für uns, meine Herren. Und wie wir, ohne uns was zu vergehen., diesen Sekt aus Frankreich nehmen, so dürfen wir, glaub ich, auch das eben zitierte stolze Klagewort aus Frankreich herübernehmen. Wir sind besiegt, aber wir sind glorreich Besiegte. Wir haben eine Revanche. Die nehmen wir. Und bis dahin in alle Wege: Herr von Stechlin auf Schloß Stechlin, er lebe hoch!“

Alles erhob sich und stieß mit Dubslav an. Einige freilich lachten, und von Molchow, als er einen neuen Weinkübel heranbestellte, sagte zu dem neben ihm sitzenden Katzler: „Weiß der Himmel, dieser Gundermann ist und bleibt ein Esel. Was sollen wir mit solchen Leuten? Erst beschreibt er uns die Frau mit ’nem Kropf, und dann will er das große Haus abschaffen. Ungeheure Dämelei. Wenn wir das große Haus nicht mehr haben, haben wir gar nichts: das ist noch unsre Rettung und die beinah einzige Stelle, wo wir den Mund (ich sage Mund) einigermaßen auftun und was durchsetzen können. Wir müssen mit dem Zentrum paktieren. Dann sind wir egal raus. Und nun kommt dieser Gundermann und will uns auch das noch nehmen. Es ist doch ’ne Wahrheit, daß sich die Parteien und die Stände jedesmal selbst ruinieren. Das heißt, von ‚Ständen‘ kann hier eigentlich nicht die Rede sein; denn dieser Gundermann gehört nicht mit dazu. Seine Mutter war ’ne Hebamme in Wriezen. Drum drängt er sich auch immer vor.“

Bald nach Gundermanns Rede, die schon eine Art Nachspiel gewesen war, flüsterte Baron Beetz dem Alten-Friesacker zu, daß es Zeit sei, die Tafel aufzuheben. Der Alte wollte jedoch noch nicht recht, denn wenn er mal saß, saß er; aber als gleich danach mehrere Stühle gerückt wurden, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich anzuschließen, und unter den Klängen des „Hohenfriedbergers“ - der „Prager“, darin es heißt, „Schwerin fällt“, wäre mit Rücksicht auf die Gesamtsituation vielleicht paßlicher gewesen - kehrte man in die Parterreräume zurück wo die Majorität dem Kaffee zusprechen wollte, während eine kleine Gruppe von Allertapfersten in die Straße hinaustrat, um da unter den Bäumen des Triangelplatzes, sich bei Sekt und Cognac des weiteren bene zu tun.

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In der Stadt war schon alles still; aber draußen auf der Landstraße kam man an großen und kleinen Trupps von Häuslern, Teerschwelern und Glashüttenleuten vorüber, die sich einen guten Tag gemacht hatten und nun singend und johlend nach Hause zogen. Auch Frauensvolk war dazwischen und gab allem einen Beigeschmack.

So trabte Dubslav auf den als halber Weg geltenden Nehmitzsee zu. Nicht weit davon befand sich ein Kohlenmeiler, Dietrichs-Ofen, und als Martin jetzt um die nach Süden vorgeschobene Seespitze herumbiegen wollte, sah er, daß wer am Wege lag, den Oberkörper unter Gras und Binsen versteckt, aber die Füße quer über das Fahrgeleise.

Martin hielt an. „Gnädiger Herr, da liegt wer. Ich glaub, es ist der alte Tuxen.“

„Tuxen, der alte Süffel von Dietrichs-Ofen?“

„Ja, gnädiger Herr. Ich will mal sehen, was es mit ihm is.“

Und dabei gab er die Leinen an Dubslav und stieg ab und rüttelte und schüttelte den am Wege Liegenden. „Awer Tuxen, wat moakst du denn hier? Wenn keen Moonschien wiehr, wiehrst du nu all kaputt.“

„Joa, joa“, sagte der Alte. Aber man sah, daß er ohne rechte Besinnung war.

Und nun stieg Dubslav auch ab, um den ganz Unbehilflichen mit Martin gemeinschaftlich auf den Rücksitz zu legen. Und bei dieser Prozedur kam der Trunkene einigermaßen wieder zu sich und sagte: „Nei, nei, Martin, nich doa: pack mi lewer vörn upp’n Bock.“

Und wirklich, sie hoben ihn da hinauf, und da saß er nun auch ganz still und sagte nichts. Denn er schämte sich vor dem gnädigen Herrn.

Endlich aber nahm dieser wieder das Wort und sagte: „Nu sage mal, Tuxen, kannst du denn von dem Branntwein nich lassen? Legst dich da hin: is ja schon Nachtfrost. Noch ’ne Stunde, dann warst du dod. Waren sie denn alle so?“

„Mehrschtendeels.“

„Und da habt ihr denn für den Katzenstein gestimmt.“

„Nei, gnäd’ger Herr, för Katzenstein nich.“

Und nun schwieg er wieder, während er vorn auf dem Bock unsicher hin und her schwankte.

„Na, man raus mit der Sprache. Du weißt ja, ich reiß keinem den Kopp ab. Is auch alles egal. Also für Katzenstein nich. Na, für wen denn?“

„För Torgelown.“

Dubslav lachte. „Für Torgelow, den euch die Berliner hergeschickt haben. Hat er denn schon was für euch getan?“

„Nei, noch nich.“

„Na, warum denn?“

„Joa, se seggen joa, he will wat för uns duhn un is so sihr för de armen Lüd. Un denn kriegen wi joa ’n Stück Tüffelland. Un se seggen ook, he is klöger, as de annern sinn.“

„Wird wohl. Aber er is doch noch lange nich so klug, wie ihr dumm seid. Habt ihr denn schon gehungert?“

„Nei, dat grad nich.“

„Na, das kann auch noch kommen.“

„Ach, gnäd’ger Herr, dat wihrd joa woll nich.“

„Na, wer weiß, Tuxen. Aber hier is Dietrichs-Ofen. Nu steigt ab und seht Euch vor, daß Ihr nicht fallt, wenn die Pferde anrucken. Und hier habt Ihr was. Aber nich mehr für heut. Für heut habt Ihr genug. Und nu macht, daß Ihr zu Bett kommt, und träumt von ‚Tüffelland‘.“

Einundzwanzigstes Kapitel

Woldemar erfuhr am andern Morgen aus Zeitungstelegrammen, daß der sozialdemokratische Kandidat, Feilenhauer Torgelow, im Wahlkreise Rheinsberg-Wutz gesiegt habe. Bald darauf traf auch ein Brief von Lorenzen ein, der zunächst die Telegramme bestätigte und am Schlusse hinzusetzte, daß Dubslav eigentlich herzlich froh über den Ausgang sei. Woldemar war es auch. Er ging davon aus, daß sein Vater wohl das Zeug habe, bei Dressel oder Borchardt mit viel gutem Menschenverstand und noch mehr Eulenspiegelei seine Meinung über allerhand politische Dinge zum besten zu geben; aber im Reichstage fach- und sachgemäß sprechen, das konnt’ er nicht und wollt’ er auch nicht. Woldemar war so durchdrungen davon, daß er über die Vorstellung einer Niederlage, dran er als Sohn des Alten immerhin wie beteiligt war, verhältnismäßig rasch hinwegkam, pries es aber doch, um ebendiese Zeit mit einem Kommando nach Ostpreußen hin betraut zu werden, das ihn auf ein paar Wochen von Berlin fernhielt. Kam er dann zurück, so waren Anfragen in dieser Wahlangelegenheit nicht mehr zu befürchten, am wenigsten innerhalb seines Regiments, in dem man sich, von ein paar Intimsten abgesehen, eigentlich schon jetzt über den unliebsamen Zwischenfall ausschwieg.

Quelle: Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, herausgegeben von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Zweiundzwanzig Dünndruckbände in vier Abteilungen. Abteilung I, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 5 © 1980 Carl Hanser Verlag: München, S. 162–69, 184–85, 188–95, 201–03.