Quelle
Das „Bunte Lamm“ lag mitten in der Stadt und war nur eine gewöhnliche Schankwirtschaft. Die Feier mußte darum in der Wirtsstube stattfinden, die jedoch sehr groß war und mehr als hundert Leute aufnehmen konnte. Als wir ankamen, war die Stube schon voller Männer. In einer Ecke, von der man die ganze, etwas winklige Stube übersehen konnte, war ein kleiner Tisch mit einer weißen Decke aufgestellt, während die anderen Tische unbedeckt waren. Hinter dem Tische, an der Wand, hing eine große rote Fahne mit einer Inschrift aus aufgeklebtem Goldpapier, sie lautete: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Links und rechts von der Fahne hingen zwei Bilder, auf denen ebenfalls rote Fahnen gezeichnet waren. Auf dem einen war ein Mann abgebildet, der den Fuß auf ein Tier setzte, das offenbar von einem danebenstehenden Postament gestürzt war, und der um den Leib eine rote Schärpe und in der Hand eine rote Fahne trug. Auf dem anderen Bild war eine weißgekleidete Frauengestalt zu sehen, die eine rote Fahne in der Hand hielt; darunter stand ein langer Spruch, den ich jedoch nicht lesen konnte. An der gegenüberliegenden vorspringenden Ecke war eine große Wanduhr aufgehängt, die Zwölf auf dem Zifferblatt war mit einem goldenen Stern überklebt, seitwärts von der Uhr hing eine Küchenlampe, deren Schein offenbar die Uhr beleuchten sollte, was aber nur mangelhaft gelungen war. […]
Es kamen zwei Polizeidiener in die Stube und gingen zu dem gedeckten Tisch, in dessen Nähe Lambert Schmitt saß. Sie sprachen mit ihm und ließen sich von ihm ein Schriftstück zeigen. Darauf schwiegen sie und setzten sich in der Nähe des Tisches nieder.
Danach klingelte Lambert Schmitt mit einer kleinen Glocke und sagte, der Unterhaltungsabend werde jetzt beginnen. Man möge sich einstweilen nur selbst nach Belieben unterhalten, die Hauptsache könne erst nach zwölf Uhr gesagt werden. Diese Worte weckten einen kleinen Jubel und mannigfache Zurufe. […]
Über Singen und Erzählen rückte der Zeiger der Uhr vor, und bald nahte die Mitternachtsstunde. Je näher die Zeit herankam, umso stiller wurde es, und umso öfter sahen die Männer nach der Wanduhr oder nach ihren Taschenuhren. Endlich stand der Zeiger dicht vor dem glänzenden Stern, der die zwölf verbarg. Längst hatten sich die Gesichter nach dem gedeckten Tische gekehrt, bei dem Lambert Schmitt saß. Der blickte starr nach der Uhr.
Da erhob er sich. Er hatte einen kleinen Zettel vor sich liegen und sah noch einmal darauf, dann fing er an zu sprechen. Er nannte die Anwesenden Freunde und sagte, nun sei die Stunde gekommen, die alle so lange ersehnt hätten. Mit dem Glockenschlag um zwölf breche ein Regiment zusammen, das die Arbeiterklasse in Fesseln geschlagen habe. Viel Unglück habe es über die wenigen Getreuen gebracht, und oft habe es ausgesehen, als ob der Geist der Freiheit zertreten werden sollte, aber schließlich habe man über alle Gewalt triumphiert. Aber hätte es anders sein können? Auch die ersten Christen habe man verfolgt, geächtet und getötet, aber den Geist habe man nicht töten können, der sei lebendig geblieben und habe sich die Welt untertan gemacht.
Je länger Lambert Schmitt sprach, umso mehr merkte man, daß ihm das Reden schwer fiel, und die Leute an unserem Tische fragten sich leise, was das wohl heute mit ihm sei. Bald kamen die Worte nur noch mühsam aus seinem bärtigen Munde, er blickte wie hilfesuchend umher, schwieg dann und setzte sich nieder.
Die Gesellschaft aber kannte Lambert genau und wußte, daß ihn nur die innere Bewegung übermannt hatte. Auch ihn hatte die Hand des Gesetzes schwer getroffen, lange Zeit war er gehetzt worden, ehe er in unserer Stadt ein Bleiben fand, und hier hatten ihm Anstrengungen und Mangel hart zugesetzt.
Nun war die Zeit erfüllt, und da verstand man, daß dieser kranke Mann in seiner Ergriffenheit die Herrschaft über das Wort verlor, das er sonst so trefflich meisterte.
Aber gerade im Augenblick des betroffenen Schweigens der ganzen Gesellschaft schnarrte die alte Wanduhr los und ließ rasselnd zwölf Schläge hören. Da schwiegen alle – ganz still war es, nur der Atem der vielen Menschen ging schwer durch den Raum.
Als die Schläge verklungen waren, erhob sich alles, und gleichzeitig brach ein Jubel los, der in seinem Zusammenklang wie ein einziger, langer, tiefer Schrei durch die Stube brauste. An den Tischen reichte man sich die Hände, viele umarmten sich, die Rufe tönten durcheinander, alle Augen glänzten. Ich stand hinter meinem Bruder, preßte dessen Arm, und mein Herz klopfte rasch und heftig. Eine Gruppe umringte Lambert Schmitt, der nun lächelte und die vielen Hände drückte, die sich ihm entgegenstreckten.
Nur die beiden Polizeidiener saßen unbewegt an ihrem Tische, hatten den Helm aufgesetzt und wußten nicht, was dort vor ihren Augen geschah.
Quelle: August Winnig, Frührot. Ein Buch von Heimat und Jugend. Stuttgart: J. G. Cotta, 1924, S. 188–94. Eine Ausgabe dieses Textes aus dem Jahr 1926 ist online verfügbar unter: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=wu.89038311916&view=1up&seq=1. Abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C. H. Beck, 1982, S. 401–3.