Kurzbeschreibung

Gustav Freytag (1816–1895) war einer der beliebtesten deutschen Romanschriftsteller der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; er arbeitete außerdem als Journalist, Historiker und Politiker und als langjähriger Herausgeber der liberalen Zeitschrift Die Grenzboten. Im Februar 1867 wurde er als Abgeordneter für die Nationalliberale Partei in den Norddeutschen Reichstag gewählt. Er blieb Abgeordneter bis 1870. In diesem Briefwechsel mit Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (1818–1893) – einem Schirmherrn des deutschen Nationalvereins und Bruder von Prinz Albert, dem Gemahl Queen Victorias – schildert Freytag einen Wahlkampf, der ihn in den Reichstag brachte und bei dem es sich um den ersten handelte, der nach allgemeinem Männerwahlrecht ausgetragen wurde. Freytag fühlt sich offensichtlich unbehaglich im Hinblick auf viele Facetten der Massenpolitik, wenngleich er seinem Bericht eine Spur Ironie und Humor verleiht.

Gustav Freytag beschreibt einen Wahlkampf der Liberalen in Erfurt (21. und 30. Januar 1867)

  • Gustav Freytag

Quelle

I. Freytag an den Herzog.

Leipzig, 21. Januar 1867.

Mein theurer gnädigster Herr!

Auf einem Zettel habe ich die Namen verzeichnet, welche in dem neuen Parlament Hauptvertreter der nationalen Partei sein dürften. Es sind immer wieder die alten Namen vom Nationalverein, und von der preußischen Opposition.

Den rechten Zeitpunkt, sie zusammenzuladen, werden Ew. Hoheit am besten beurtheilen. Wird die Sache hinausgeschoben, so captiviren immer Mehre ihre eigenen Abstimmungen, indem sie zu früh Position nehmen. Wer sich einmal öffentlich ausgesprochen hat, fühlt sich an seine Erklärungen gebunden.

Andrerseits ist kaum möglich, daß die Geladenen einen Beschluß über die einzuschlagende Politik fassen, so lange sie die neue Reichsverfassung nicht kennen. Und der in Ew. Hoheit Händen befindliche Entwurf ist doch, abgesehen von der Gefahr, ihn den preußischen Geladenen mitzutheilen, nicht ganz maßgebend, weil Graf Bismarck jeden Augenblick weitere Concessionen — z. B. im Budgetrecht für opportun halten kann, und in solchem Fall ohne Bedenken einfügen wird.

Es wäre deshalb von entscheidender Bedeutung zu erfahren, ob Graf Bismarck gewillt ist, den Entwurf vor Eröffnung des Reichstages, resp. vor dem 12ten Februar als dem festgesetzten Wahltag, zu publiciren. Wäre dies der Fall, so würde mir als passender Termin zur Einladung die Zeit unmittelbar nach Bekanntmachung des Verfassungsentwurfes erscheinen. Will Graf Bismarck den Entwurf in Geheimniß hüllen, dann ist der nächste Termin der Einladung der beste.

Es müßte ein Sontag sein, damit die Berliner, welche mit Kammersitzungen beschäftigt sind, kommen könnten.

Mit den Wahlen wird es Ernst. Und doch ist dies allgemeine Wahlrecht das leichtsinnigste aller Experimente, welche Graf B. jemals gewagt hat. Niemand weiß, ob er gewählt wird. Und das wird in den nächsten Jahren noch schlimmer sein. Denn die Wahl liegt in den Städten in der Hand der Arbeiter, auf dem Land in der der kleinen Leute, Tagelöhner und Knechte.

[]

Ew. Hoheit
treugehorsamster
Freytag.

II. Freytag an den Herzog.

Leipzig, 30. Januar 1867.

Mein theurer gnädigster Herr!

Es findet gegenwärtig ein so allgemeines Wahlfieber statt und die Stilübungen der Wahlcandidaten machen sich in der Presse so unbillig breit, daß ich meines lieben Herrn Geduld wahrscheinlich stark in Anspruch nehme, wenn ich von demselben Thema zu berichten wage.

Da meine liebe Hoheit aber so gütig sich für meine Erfurter Candidatur interessirt haben, will ich doch zuerst von einer lustigen Fahrt dorthin erzählen. Nach manchen Vorverhandlungen fand sich endlich, daß die Conservativen Graf Keller, die Liberalen außer mir noch Dr. med. Lucius Rittergutsbesitzer, Mann einer Frankfurter Souché mit 5 Millionen Mitgift und Sohn einer alten katholischen Patricierfamilie Erfurts, zur Wahl gestellt hatten. Das souveräne Volk von Erfurt sollte über uns entscheiden. Ohne innere Dankbarkeit für die lästige Situation, in welche mich das Comité erst nach meiner Annahme gesetzt hatte, fuhr ich von Leipzig zum Volksfest nach Erfurt. Empfang durch das Comité auf dem Bahnhofe, neugierig sahen wir einander an, sie mir fremd, ich ihnen. Marsch nach einem großen wüsten Saal, in welchem die Wähler rauchend und Bier trinkend ehrbar saßen. Bereits lag ein gewisser blauer Nebel über der Versammlung. Das Comité nahm auf einer Erhöhung in großer Nische Platz, Candidat erhielt dort ebenfalls ein Stühlchen. Ich sah, daß unsere Tribüne das Podium eines ausgeräumten Theaters war, und über mir hing noch der zusammengerollte Vorhang. Diese Entdeckung war für meinen Rivalen ungünstig, denn die Geister dieser Stätte standen in meinem Dienst. Hr. Lucius selbst war kein gewöhnlicher Mensch, noch jung, von festem einfachem Wesen, längere Zeit in England gelebt, auf der Thetis um die Welt gesegelt, Freiwilliger im dänischen und böhmischen Feldzug, er gefiel mir[1] und ich gedachte erst seine Rede abzuwarten, dann mich für ihn oder für mich zu entscheiden. Aber sein Debüt als Candidat war nicht gut. Er war zu grün in politischen Dingen, und unsicher in Thatsachen und den rechtlichen Verhältnissen, wie sich bei den Interpellationen ergab. Dazu merkte ich, daß die Liberalen ihm nicht trauten, weil sie argwöhnten, er wolle Landrath werden, Carriere machen und sie täuschen.

Während seiner Rede hatte es zuweilen zornig an eine kleine Thür gedonnert, die aus unserem Bühnenraum in den Vorsaal führte. Als geöffnet wurde, drang ein Haufe trotziger Wähler in den heiligen Raum des Comité, und stellte sich drohend im Halbkreise hinter uns auf, wie der antike Chor in der Tragödie; es waren haarbuschige Gesellen aus der Bande Krackrügge's[2] und rothbärtige freche Lassallianer. Einer von ihnen begann sogleich unverschämte Interpellationen des Candidaten und ärgerte unter dem Jauchzen und den Zurufen einer aufgeregten Gallerie das Comité so sehr, daß ich bereits dachte, die Action würde enden, wie der dritte Act der Afrikanerin. Endlich wurde durch das Publikum abgestimmt, daß dieser Candidat abtreten könne, und der zweite Fechter seine Streiche zu führen habe.

Mit dem Bewußtsein einen schwarzen Frack und graue Hosen anzuhaben, also grade die richtige Mischung von Hochachtung und Vertraulichkeit, begann ich meinen Punsch zu rühren, mit Gemüth, aus alten vielerprobten Sätzen der Grenzboten, mit tiefsinnigen Betrachtungen über Menschenleben und Schicksal. Das gefiel den guten Kerlchen []. Die Grobheit entschied die Sache, die Stern Lucius ging unter, ich wurde mit großem Geschrei und Händeschütteln als Erwählter proclamirt, ein Bildhauer erbot sich, mich zu modelliren, ein Hofphotograph forderte Sitzungen, der Verleger der Thüringischen Zeitung erklärte, seine Frau sei entbunden und ich als Gevatter wünschenswerth, ein Bauer aus Windisch-Holzhausen hielt mir eine kleine Rede und sprach den Wunsch aus, „Soll und Haben“ zu besitzen, er könne sichs recht wohl kaufen, aber ihm sei lieber, wenn ichs ihm schenke. Und über uns baumelte freundlich die alte Theatergardine.

Am andern Tag [] vertröstete [ich] den Bildhauer, saß dem Photographen, nahm ein Vice-Gevatterfrühstück bei dem neuen Vater ein und sandte dem Bauer das Buch, während mein Comité mit Löwenkühnheit vorging.

Der Wahlkreis, der mich wählen soll, besteht aus allen kleinen Lappen von preußischem Tuch, welche in Thüringen und Franken aufgenäht sind. Suhl und Schleusingen, dann Ziegenrück und Ranis in einer wenig bekannten Wildniß, wohin dem Vernehmen nach nur Saumpfade führen, dann Gefell und andere Enklaven an Baiern, endlich Wandersleben. Von allen Seiten kommen die Forderungen meiner Herren Wähler, daß ich zu ihnen komme und ihnen eine Abendunterhaltung schaffe, und die Correspondenz mit einflußreichen Rechtsanwälten und Gastwirthen wird riesenhaft. Ach, dies allgemeine Wahlrecht ruinirt den Charakter, funfzig Jahre habe ich mich um Popularität nicht gekümmert, und jetzt sende ich einen Blumenstrauß an eine Wöchnerin, von der ich nicht weiß, ob sie einen Jungen oder ein Mädel taufen läßt, und schüttle hundert guten Freunden die Hand, deren Namen ich nicht weiß und niemals wissen werde. Pfui, Bismarck, das war kein Meisterstreich. Und zuletzt wird doch noch irgend ein Andrer gewählt!

[]

Ew. Hoheit
treugehorsamster
Freytag.

Anmerkungen

[1] Freytags damaliger Mitcandidat wurde später doch noch namhafter (freikonservativer) Parlamentarier und 1879 preußischer Minister der Landwirthschaft. (Fußnoten stammen aus: Eduard Tempeltey, Hg., Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893. Leipzig: S. Hirzel, 1904, S. 212–17.)
[2] Krackrügge, Volksmann aus 1848.

Quelle: Gustav Freytag, Leipzig, an Herzog Ernst von Coburg, Briefe vom 21. Januar 1867 (Teil I) und 30. Januar 1867 (Teil II); abgedruckt in Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893, Hrsßg. Eduard Tempeltey. Leipzig: S. Hirzel, 1904, S. 212–17.