Kurzbeschreibung

Heinrich von Treitschke (1834–1896), führender kleindeutscher Historiker und Professor, war auch nationalliberaler Reichstagsabgeordneter. In dieser Auswahl aus seiner Antwort (1874) auf Gustav Schmollers Forderung nach aktiver Sozialpolitik attackiert er die Sozialdemokratie und ihre „Gönner“, weil sie die Begehrlichkeiten der Arbeiter mit ihrer sozialen Agitation anheizten. Er beschreibt Ungleichheit als zwangsläufige Tatsache, befürwortet aber die Beseitigung von Hemmnissen, um einzelnen Talenten den Aufstieg aus den Unterschichten zu ermöglichen.

Heinrich von Treitschke, „Der Sozialismus und seine Gönner“ (1874)

  • Heinrich von Treitschke

Quelle

Die bürgerliche Gesellschaft eines reichen Volkes ist immer eine Aristokratie, auch unter demokratischer Staatsverfassung. Oder, um ein sehr verhaßtes, aber wahres Wort trocken auszusprechen – die Klassenherrschaft richtiger: die Klassenordnung, ergibt sich ebenso notwendig aus der Natur der Gesellschaft, wie der Gegensatz von Regierenden und Regierten aus der Natur des Staates. Die Sozialdemokratie bekennt schon durch ihren Namen, daß sie den Unsinn will. []

Kein Zweifel, durch diese aristokratische Verfassung der Gesellschaft wird manches Talent verstümmelt. Die Natur ist ein königlicher Haushalter, sie wirtschaftet mit vollen Händen. Sie erzeugt stündlich im Tier- und Pflanzenreiche unzählbare neue Keime, die vor der Zeit untergehen; sie stattet ihre Lieblinge unter den Menschen so verschwenderisch aus, daß man dreist sagen darf: alle großen Männer der Geschichte waren größer als ihre Werke, keiner konnte jede Gabe seines Wesens ganz entfalten. Danach ist sicher, daß jederzeit unter den hart arbeitenden Massen einzelne groß angelegte Naturen leben, welche allein durch die soziale Ordnung verhindert werden, den angeborenen Adel zu offenbaren. Das verkannte Genie hängt gern solchen schwermütigen Gedanken nach. [] Aber die Geschichte rechnet mit großen Zahlen. Wenden wir uns von den tragischen Ausnahmen suchend nach dem Gesetze, so erkennen wir: das Menschengeschlecht ist darum so bedürftig geartet, die Fristung des Lebens und die Befriedung der groben Bedürfnisse nehmen darum einen so ungeheuren Teil seiner Kräfte in Anspruch, weil immer nur eine kleine Minderheit fähig ist, das Licht der Idee mit offenen Augen zu sehen, während die Masse nur den gebrochenen Strahl erträgt.

[] Unser Staat gewährt überall kein politisches Recht, dem nicht eine Pflicht entspräche; er verlangt von allen, die an der Leitung des Gemeinwesens irgendwie teilnehmen wollen, daß sie sich diese Macht durch Besitz und Bildung erst verdienen; er ist in unablässiger Arbeit tätig für die Verbreitung und Vertiefung des geistigen Lebens; er mildert selbst die allgemeinste seiner Bürgerpflichten, die Wehrpflicht, zu Gunsten dieser Mächte des Geistes, gibt der Bildung durch das Freiwilligenjahr eine überaus wirksame Belohnung. [] Eben diesen sittlichen Grundanschauungen des deutschen Staates schlägt das allgemeine Stimmrecht ins Gesicht; es belohnt die Unbildung, erweckt den Hochmut der Dummheit. Wer sich nur die Mühe gegeben hat, geboren zu werden, empfängt in einem Staate, der wie kein anderer die Kultur zu ehren weiß, nach Verlauf einiger Jahre ohne Beschränkung das höchste politische Recht des Bürgers! Wie sollte der Arme, der eines solchen Rechtes sich erfreut, nicht zu dem Schlusse gelangen, daß auch in der Gesellschaft die Geburt ein vollgültiger Rechtstitel sei, der jedem Menschen Macht ohne Arbeit verbürge. Daran ist gar kein Zweifel, das allgemeine Stimmrecht hat die phantastische Überschätzung der eigenen Macht und des eigenen Wertes in den Massen unermeßlich gefördert. Der unversöhnliche Widerspruch zwischen der demokratischen Gleichheit des politischen Stimmrechts und der notwendigen aristokratischen Gliederung der Gesellschaft beweist dem unzufriedenen kleinen Manne sonnenklar die soziale Fäulnis der Gegenwart, macht ihn zum gläubigen Hörer der Demagogen. Das allgemeine Stimmrecht ist in diesem Staate der edlen Bildung die organisierte Zuchtlosigkeit, die anerkannte Überhebung des souveränen Unverstandes, die Überhebung des Soldaten gegen den Offizier, des Gesellen gegen den Meister, des Arbeiters gegen den Unternehmer. Aber diese verheerenden Wirkungen sind schon im Übermaß eingetreten und nicht mehr zu beseitigen; die Wiederaufhebung des einmal gewährten Rechts würde den längst erwachten Übermut der Unbildung nur noch heftiger reizen. So bleibt uns nur übrig, mindestens den Unterbau unseres monarchischen Staates, die Verwaltung der Kreise und Gemeinden, vor dem Eindringen republikanischer Grundsätze zu behüten und – zu protestieren wider die Behauptung, daß die Belohnung der Unbildung ein Ergebnis erleuchteter Sozialpolitik sei. []

[] Die deutsche Sozialdemokratie ist wirklich „so schwarz“, wie sie von der Mehrzahl der gebildeten Blätter geschildert wird. Sie verdient Beachtung als ein Symptom ernster sozialer Mißstände, aber sie bietet uns keinen einzigen lebensfähigen Gedanken, mit dem sich verhandeln, der sich aufnehmen ließe in die Ordnung unserer Gesellschaft. Neid und Gier sind die beiden mächtigsten Hebel, welche sie einsetzt, um die alte Welt aus den Angeln zu heben; sie lebt von der Zerstörung jeden Ideales. Wenn die Gönner des Sozialismus als ein schönes Zeichen preisen, daß die Partei neben frechen Wühlern, feilen Demagogen und dem langen Trosse der Gedankenlosen unleugbar auch viele ehrlich uneigennützige Apostel, ja sogar einige schwärmerische Poeten in ihren Reihen zählt: so beweist dies Lob nur von neuem, wie tief die Gegenwart sich verstrickt hat in den Banden ihrer sinnlichen Weltanschauung. Fühlt man denn gar nicht mehr, wie unnatürlich es ist, daß eine Lehre, die alle Ideen leugnet, einem ehrlichen Manne die ganze Persönlichkeit zu erfüllen, ihn aufrichtig zu begeistern vermag? wie schwer die Wurzeln jedes Pflichtgefühl geschädigt sein müssen, wenn ein Idealismus des Neides, eine Begeisterung der Begierde unter uns möglich wurde? []

[] Die gelehrten Freunde des Sozialismus pflegen begütigend einzuwenden, der sozialdemokratische Arbeiter lerne doch mindestens nachzudenken. Sie bezeugen damit nur, daß sie selber unwissentlich angesteckt sind von der sinnlichen Sittenlehre des Sozialismus, der in der Verstandesbildung, der sogenannten Aufklärung die Wurzeln der Tugend sucht. Wenn der unzufriedene kleine Mann, der in den neuen Formen der Volkswirtschaft sich noch nicht zurecht findet, Tag für Tag verkünden hört, die gesamte Ordnung der Gesellschaft beruhe auf Unrecht, die Gewalt müsse zerstören, was die Gewalt geschaffen; wenn zudem die Prediger dieser Lehre auf die Geschichtskonstruktionen gemäßigt liberaler Professoren sich berufen – so mag der Arbeiter bei solchem Unterrichte immerhin einige Kenntnisse ansammeln. Aber sollte nicht auch das Tier, das in jedem Menschenherzen schlägt, aus diesen verlockenden Lehren reichen Nahrungsstoff saugen? Ist es ein Zufall, daß die Sozialdemokratie in jedem Zuchthause eine lange Schar gläubiger Bekenner zählt? Trägt eine alltäglich an die Faust appellierende Partei gar keine Mitschuld an der furchtbar überhandnehmenden Roheit der Masse, an jenen feigen Messertotschlägen, die in den Fabrikbezirken des Niederrheins schon so alltäglich geworden sind, daß man kaum noch darauf hinhört? Recht eigentlich die Grundsteine aller Gemeinschaft werden durch die Sozialdemokratie gefährdet, jene einfachen Begriffe von Zucht und Scham, worüber unter gesitteten Menschen gar nicht gestritten werden soll. Die Lehren von dem Unrecht der Gesellschaft zerstören das feste Ehrgefühl des Arbeiters, also daß Wortbruch, schlechte und unehrliche Arbeit kaum noch für eine Schande gelten, und erwecken dafür eine krankhaft mißtrauische Empfindlichkeit wider gerechten Tadel. []

Eine so grobsinnliche Richtung kennt kein Vaterland, kennt nicht die Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des nationalen Staates. Die Idee des Volkstums, die bewegende Kraft der Geschichte unseres Jahrhunderts, bleibt dem Sozialismus unfaßbar. [] Überall geht der Sozialismus Hand in Hand mit dem vaterlandslosen Weltbürgertum und der Schlaffheit der Staatsgesinnung. Die Schweiz ist von der sozialistischen Bewegung fast ganz verschont geblieben, nicht allein weil sie der großen städtischen Mittelpunkte entbehrt, sondern auch weil eine starke eidgenössische Vaterlandsliebe dort in den Massen des Volkes lebt.

Die gelehrten Freunde des Sozialismus verweisen gern auf die englischen Chartisten, welche auch mit weltbürgerlichen Träumen begannen und doch endlich dem Vaterlande sich zu beugen lernten. Man übersieht dabei nur, daß das englische Inselvolk in seiner uralten Staatseinheit, seinem schroffen Nationalstolze Kräfte des Widerstandes besaß, welche unserem unfertigen, allen Einflüssen des Auslandes geöffneten Reiche fehlen. Man übersieht desgleichen, daß der Chartismus von Haus aus englisch war, während die deutsche Sozialdemokratie durch eine Rotte heimatloser Verschwörung vom Auslande her geleitet wird. Hat sich etwa die Sozialdemokratie in dem Jahrzehnt ihres Bestehens dem Gedanken des nationalen Staates irgendwie genähert? Nein, sie ist ihm von Jahr zu Jahr feindseliger entgegengetreten. []

So entfremdet der Sozialismus seine Genossen dem Staate, dem Vaterlande, und statt dieser Gemeinschaft der Liebe und Ehrfurcht, die er zerstört, bietet er ihnen die Gemeinschaft des Klassenhasses. Die Natur des modernen Staates drängt zur Ausgleichung der Standesunterschiede. In allen Schichten der Gesellschaft gilt heute das Standesgefühl nur noch wenig neben dem Bewußtsein des Staatsbürgertums, der Vaterlandsliebe. Allein in den niedersten Klassen bemüht sich eine gewaltsame Agitation einen prahlerischen Standesstolz großzuziehen. Und durch welche Mittel! So hündisch ward noch nie ein Perserfürst umschmeichelt wie „das eigentliche Volk“ der Sozialdemokratie. Alle die verächtlichen Künste des französischen Radikalismus der vierziger Jahre werden aufgeboten, um in der Masse einen bodenlosen Dünkel zu erwecken. []

Vor allem die Wahlen der Sozialdemokratie beweisen, wie zerrüttend die Lehre des Klassenhasses zu wirken beginnt. Gutmütige Gelehrte preisen als ein rühmliches Zeichen deutschen Arbeiterstolzes, daß bei uns schon mehrmals „Arbeiter“ in den Reichstag gewählt wurden, während in Frankreich erst zweimal, in England erst einmal ein solcher Erfolg gelang. Sie bemerken nicht, daß sie mit diesem Lobe gradeswegs hinsteuern zu den erleuchteten Anschauungen des Revolutionsministers Carnot, der im Frühjahr 1848 den Wählern Frankreichs erklärte: die alte Meinung, daß Besitz und Bildung den Abgeordneten wohl anstehe, sei ein reaktionärer Aberglaube. Dieser reaktionäre Aberglaube ist eben ein unveräußerlicher Grundgedanke des konstitutionellen Staats. Das normale Verhältnis bleibt immer, daß der Gewählte über dem Durchschnitt seiner Wähler steht. Wenn die sozialistischen Arbeiter heute grundsätzlich ihre Stimmen an halbgebildete Männer geben, welche den Pflichten eines Abgeordneten nicht gewachsen sind und im Parlamente die Gesinnung des Wahlkreises nicht wirksam zu vertreten vermögen, so ist dies Verhalten keinesweg ein Zeichen stolzer Standesgesinnung, sondern eine Wirkung des verbissenen Klassenhasses, der nicht glauben will, daß auch ein Nicht-Arbeiter die Interessen der Arbeiter gerecht und einsichtig wahren kann. Und am Ende läßt daß Verfahren nicht folgerecht sich durchführen. Auch eine Arbeiterpartei bedarf gebildeter Führer; fast alle gefährlichen Demagogen der Geschichte gehörten nicht zu dem „Volke“, dem sie schmeichelten, die Leiter der deutschen Sozialdemokratie sind selbst „Bourgeois.“

Genug, die Sozialdemokratie ist eine Partei der sittlichen Verwilderung, der politischen Zuchtlosigkeit und sozialen Unfriedens. []

Und nun frage ich: ist dies eine Partei, mit der wir verhandeln können? Sie hat uns durch ihre schonungslose Kritik auf manche Gebrechen unseres sozialen Lebens aufmerksam gemacht und durch ihre wüste Sinnlichkeit uns gezeigt, wohin der in der Volkswirtschaft früherhin vorherrschende Eudämonismus am letzten Ende führt. Außer diesen beiden negativen, unfreiwilligen Verdiensten gebührt ihr keines. Sie will die Herrschaft der Faust, wir die Herrschaft der Bildung. Wir stehen ihr in jedem Sinne ferner als den Ultramontanen. Wie wir zu diesen sagen: erst erkennet die Souveränität des Staates an, dann können wir über einzelne Streitfragen uns verständigen – ebenso, und noch entschiedener, müssen wir den Sozialdemokraten zurufen: erst unterwerft Euch der überlieferten Ordnung der Gesellschaft. Diese Forderung sagt freilich: erst werdet das Gegenteil dessen was ihr heute noch seid! Bedingte Anerkennung richtet gegen den Fanatismus nichts aus, sie leitet ihm nur reines Wasser auf seine schmutzigen Mühlräder. []

Wir sind noch nicht gefühllos gegen die Leiden des Volkes, wenn wir verschmähen, mit den prahlerischen Führern einer rohen Pöbelbewegung sanfte Liebesblicke auszutauschen. Auch scheint es nicht nötig, bei der Betrachtung sozialer Fragen beständig zu reden, als ob wir im Fieber lägen, als ob die Emanzipation des vierten Standes die „Frage“ des Jahrhunderts sei. Diese Emanzipation steht nicht bevor, sie ist geschehen und bedarf nur der Sicherung. Der deutsche Staat wird seine sozialen Aufgaben dann am sichersten lösen, wenn er so ruhig und anspruchslos vorgeht, wie einst bei den Gesetzen Steins und Hardenbergs, bei der Stiftung des Zollvereins, bei allen befreienden Taten der preußischen Geschichte. []

Mag der Staat die niederen Klassen noch so reichlich ausstatten mit politischen Rechten, es bleibt doch dabei, daß sie nicht selbst regieren können. Das Wahlrecht kann man ihnen geben, die Wählbarkeit erhalten sie tatsächlich nur in seltenen Ausnahmefällen; und daran ist nichts zu beklagen, denn das Parlament soll nicht die Klasseninteressen als solche vertreten, sondern die durch die Gemeinschaft der Pflichterfüllung verbundenen Selbstverwaltungskörper, welche alle Klassen umschließen. Mag die Gesellschaft noch so menschenfreundlich für die Wohlfahrt der unteren Klassen wirken, der Handarbeiter wohnt doch besten Falls in bescheidenen Häuschen, der Grundherr im Schlosse. Durch diese Hebung der niederen Schichten der Gesellschaft erreicht man also niemals das Ziel der Ausgleichung der Begierden, die nach Aristoteles schönem Worte wichtiger ist als die Ausgleichung des Besitzes.

Ungleich sicherer ist der andere Weg, der zur Milderung der Klassengegensätze führt: Die Beseitigung der Schranken, welche den in Armut Geborenen hindern, emporzusteigen in den Kreis der Besitzenden und Gebildeten. Nach dieser Richtung können Staat und Gesellschaft nie genug tun, wenn sie den unendlichen Wert des Talents zu würdigen verstehen; hier eröffnet sich ihrer Tätigkeit ein großes, fast unabsehbares Feld. Bleibt es unmöglich, die große Mehrzahl der Menschen an allen Genüssen der Kultur teilnehmen zu lassen, so muß doch jede rüstige Kraft hoffen können, hinauszutreten aus den Reihen dieser Mehrheit. Der Staat soll nicht bloß die Arbeitskraft entfesseln und dem Armen das Recht geben, aus seiner Klasse sich zu erheben; er soll auch durch gute Volksschulen und durch einen leicht zugänglichen höheren Unterricht dafür sorgen, daß das echte Talent diese Rechte wirklich gebrauchen könne. Nur so kommt beständig frisches Blut in die höheren Klassen, nur so kann jene Ausgleichung der Begierden annähernd erreicht werden. [] Der freie Wettbewerb aller um die Güter Gesittung, deren volles Maß immer nur von einer Minderheit erreicht werden kann – das ist es, was ich unter vernünftiger Gleichheit verstehe. []

Quelle: Diese Abhandlung erschien zuerst in Preußische Jahrbücher, Bd. 34 (1874) unter dem Titel „Die soziale Frage und der preußische Staat.“ Der Abdruck dieses Auszuges erfolgte nach Heinrich von Treitschke, Zehn Jahre deutscher Kämpfe, 3. Aufl. Berlin, 1897, Bd. 2, S. 112ff. Abgedruckt in Ernst Schraepler, Hrsg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, 3. verbesserte Aufl. Göttingen: Muster-Schmidt, 1996, S. 70–78.