Kurzbeschreibung

Auf dem Land blieb angemessener Schulunterricht für unterprivilegierte Kinder eher eine Ausnahme als ein allgemeines Anrecht. Wie dieser Bericht aus der abgelegenen preußischen Provinz Pommern zeigt, mussten Kinder neben dem Unterricht oft solch aufreibende Landarbeit verrichten, dass ihre Erschöpfung kaum richtiges Lernen zuließ. Nach Ansicht dieses Autors war eine baldige Veränderung der Situation nicht zu erwarten, denn die Gutsherren glaubten, Anleitung zum kritischen Denken sowie moderne Fächer wie Biologie seien überflüssiger Unsinn. Nach Ansicht eines Gutsherrn bereitete ein derartiger Unterricht die Kinder lediglich darauf vor, im späteren Leben sozialdemokratischen Irrlehren zu verfallen.

Kinderarbeit auf einem pommerschen Gutsbetrieb und ihre Auswirkungen auf den Schulunterricht (1887)

Quelle

Achtet man nur auf die Zeit, in welcher die Kinder beschäftigt werden, so muß man ohne weitere Beobachtung sagen, daß Kinder von 8-14 Jahren einer in dem Maße andauernden Arbeit körperlich nicht gewachsen sind. Während des Rübenverziehens, welches bei uns meistens vier Wochen dauert, liefen die Kinder meiner Schule nach ihrer Entlassung aus derselben, sobald sie mir aus den Augen waren, im Trabe nach Hause. Kaum fünf Minuten später erschienen sie, das Frühstücksbrot in der Hand, sturmschritts auf dem Versammlungsplatz, auf welchem der betreffende Aufsichtsbeflissene schon ihrer harrte. Dann ging’s nicht gerade langsam ins Rübenfeld. Auf dem Marsche wurde das Frühstück verzehrt. Kurzbeinige mußten, wenn sie mitwollten, die weichende Nähe mit dem Haufen im Laufschritt wieder zu erreichen suchen. Um ¾ auf 9 Uhr mußte jeder an seinen Reihen sitzen. Von 12 Uhr an im Dorfe, sah man die Kinder um 1 Uhr wieder hinauswandern. Um 9 Uhr abends kehrten sie heim. An einigen schulfreien Tagen mußten die Kinder, wie mir gesagt wurde, morgens 5½ Uhr antreten. Sollte ich damit zu viel gesagt haben, daß eine solche Arbeitsdauer nachteilig auf die Gesundheit achtjähriger Kinder oder solcher mit schwacher Konstitution wirkt? Ein Mädchen von 11 Jahren mußte, weil erkrankt, vom Arbeitsfelde nach Hause geschickt werden. Ob gesunden Kindern ein Arbeiten, bei welchem schwache erkranken, dennoch dienlich ist? Sehen wir auf die Witterung. Bei feuchtem, kaltem Winde oder bei Regen sind die arbeitenden Kinder leicht Erkältungen ausgesetzt; bei Dürre tragen sie häufig Kopfschmerz und wunde Knie davon. Man beobachtet, wie einige Knaben während des Unterrichts es nicht verbergen können, daß ihre Knie schmerzen; sie umfassen dieselben öfter und drücken sie. Laut Tagebuch sind mir in dieser Zeit der Rübenarbeit krank gemeldet worden: 1 Kind fünf Tage, 1 drei Tage, 2 je zwei Tage und 2 je einen Tag. Außerdem mußte ich in letzter Zeit einige Mädchen wegen Übelkeit wiederholt aus der Klasse schicken. Die lange angestrengte Arbeit hat die Körper für Krankheiten empfänglich gemacht; Scharlach und Masern halten zur Zeit zwei Dritteil der Kinder von der Schule fern. – Das Rübenverziehen ist aber nicht der Kinder einzige Feldarbeit; vorauf ging Kartoffelpflanzen, nachfolgte das Krautziehen. Letzteres erfordert, besonders auf dem harten Rübenboden, nicht gerade geringe Anstrengung. Wenn ich nun noch an Kartoffellesen in dumpfen Kellern, an Steineablesen und Pferdeleiten und an Kartoffelausmachen und Nachlesen erinnere, so sind wir wohl der Überzeugung, daß unsere Kinder den Sommer über mit landwirtschaftlichen Arbeiten überbürdet werden. [] Während des Sommersemesters sind die Erfolge des Unterrichts vom Wintersemester tatsächlich nicht zu erhalten. Der Geist der Schüler entgleitet uns gleichsam unter den Händen. Wir sind nicht imstande, selbst wenn wir den Unterricht so interessant als möglich zu gestalten suchen, die Aufmerksamkeit der Schüler dauernd zu fesseln. Weil sie körperlich übermüdet wurden, ist der Geist erschlafft. Der zu kurze nächtliche Schlaf, vielleicht gewaltsam gestört, wird in Wirklichkeit in der Schule fortgesetzt. Sollen wir acht- und neunjährigen Kindern böse sein, wenn sie während des kombinierten Unterrichts so sacht entschlummern? Aber wir dürfen es nicht dulden, daß sie schlafen, daß sie auch nur geistig schlafen. Wir müssen uns alle mögliche Mühe geben, daß wir die Wunde, die uns die Landwirtschaft beibringt, durch innere Disziplin, durch rege unterrichtliche Tätigkeit einigermaßen heilen. Denn wir sind ja nicht sicher, daß wir nicht plötzlich durch schulrätlichen Besuch überrascht werden. [] Doch mit unserem Mühen gehts uns so wie dem Arzt, der eine offene Wunde nur durch inneres Medikament heilen will. Unser Arbeiten an den Köpfen der Kinder ist nutzlos. Die Köpfe sind leer, der Geist heruntergefallen in den Rumpf und die Glieder, deren träge Haltung seinen Schlaf bezeugt. Traumverloren, stumpf sitzen die Kinder da, das Auge gläsern, glanzlos. Geistige Frische, Lebendigkeit, sonst Kindern eigen, ist gänzlich geschwunden. Nicht die Rechenstunde, nicht einmal die Gesangstunde kann die Geister wecken. Verzweiflung packt einen schier. Was tun? Können die Kinder selbst helfen durch häusliche Vorbereitung? Unmöglich. Dazu fehlt ihnen Zeit, Kraft und Lust. Uns bleibt nichts als die Wahrnehmung, daß unsere arbeitenden Kinder nach und nach verdummen. [] Als ich einen Gutsbesitzer darauf aufmerksam machte, daß der Rübenbau ein wahres Unglück für unsere Volksschule sei, die Beschäftigung der Kinder so manche Schäden für diese nach sich ziehe, meinte er so ungefähr folgendes: In unsern Landschulen wird heute zu viel verlangt. Wenn die Kinder Religion, Lesen und Schreiben und ein bißchen Rechnen lernen, vielleicht auch noch etwas Geschichte, dann wissen sie genug. Geographie, Naturgeschichte, Zeichnen und all diese Fixfaxereien sind eine ungeheure Belastung für die Schule. Kinder, die was lernen, dünken sich klug, wenn sie groß sind, und werden Sozialdemokraten. Leute, die nichts gelernt haben, sind bessere Arbeiter. [] Volksschulen, so demonstrierte er weiter, müssen wir haben, ohne die gehts nicht. Zucht und Ordnung muß sein.

Quelle: Lehrer Gossow in Pommersche Blätter für die Schule und ihre Freunde, Stettin, 11, 1887, S.102–06; abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hrsg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871–1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S. 133–35.