Kurzbeschreibung

Wie dieser autobiografische Bericht vom Schulalltag in einer Kleinstadt im mitteldeutschen Harzgebirge verdeutlicht, war der Zustand der Schulgebäude und die Qualität des Unterrichts eng mit der sozialen Herkunft der Schüler verbunden: Das Gymnasium war der Oberschicht vorbehalten, während die so genannten ersten und zweiten Bürgerschulen jeweils dem Mittelstand und der Arbeiterklasse dienten. In dem hier geschilderten Fall wurde der Stoff der letzten vier Jahre von einem alten, phlegmatischen Lehrer erteilt, dessen Unterricht sich entweder auf die Rezitation von Gesangbuch- und Bibelversen oder auf die Abschrift von Sprichwörtern konzentrierte.

Klassenunterschiede und Lehrpläne in einer kleinstädtischen Volksschule (1880er Jahre)

  • August Winning

Quelle

Die Schule, die ich besuchte, war die sogenannte zweite Bürgerschule – die Schule der armen Leute. Es gab in der Stadt zwei Bürgerschulen und ein humanistisches Gymnasium. Das Gymnasium war ein stattliches Gebäude aus festem Werkstein.

[] Die erste Bürgerschule hatte zu jener Zeit gerade ein neues prächtiges Gebäude bekommen, das an der Hauptstraße lag und inmitten der bescheidenen alten Bürgerhäuser wie ein Palast aussah. Unsere Schule aber war in einigen kleinen Fachwerkhäusern untergebracht, die in verschiedenen Straßen lagen. Sie hatte für Jungen und Mädchen je drei Klassen. Es war damals gerade die Zeit, wo dieser alte Zuschnitt zu enge ward. Die Stadt hatte eine Zeit des Aufschwungs, die Einwohnerzahl stieg durch Zuzug, der meist aus armen Leuten bestand, und die kleine zweite Bürgerschule mußte sich recken und strecken, um all den Zuwachs in sich aufzunehmen. [] Nach einiger Zeit mußten wir unser kleines Schulhaus verlassen und erhielten ein großes Zimmer im Rathause angewiesen. Wir waren dort sechsundneunzig Jungen in der dritten Klasse. []

Schon bei diesen halb scherz-, halb ernsthaften Schlägereien [der verschiedenen Horden] herrschte bei der Bildung der Gruppen die Standeszugehörigkeit vor, die ziemlich zutreffend durch die verschiedenen Schulen abgegrenzt wurde. Die Gymnasiasten verkörperten die Aristokratie und das große Bürgertum, wir Jungen der zweiten Bürgerschule das Proletariat, und zwischen uns beiden stand die Jugend der ersten Bürgerschule, die dem Mittelstand und dem Kleinbürgertum angehörte. []

In [] der ersten Klasse unterrichtete ein alter Lehrer, der die fleischgewordene Güte und Nachsicht selber war. Er wohnte im Schulhause im Obergeschoß, gerade über unserer Klasse. Meistens kam er erst eine Viertelstunde vor Ablauf der ersten Stunde herunter und klagte uns, daß er gern noch einige Zeit oben geblieben wäre, wenn wir nicht allzu großen Lärm gemacht hätten. Dann kaute er noch einige Zeit an dem genossenen Frühstück und fragte nach den Gesangbuch- und Bibelversen, die wir auswendig lernen sollten. Darüber ging die erste Stunde zu Ende.

Der Unterricht bei ihm war oft schrecklich langweilig, besonders waren es die vier Schreibstunden der Woche, wo wir nach alten Vorschriften irgendeine schöne Weisheit ein dutzendmal oder mehr zu Papier brachten. Aller Anfang ist schwer, Wohlgeschmack bringt Bettelsack, Mit Speck fängt man Mäuse, Frische Fische, gute Fische, Predigt hören säumet nicht – diese Sprüche malten wir eintönig die Stunden hindurch. Wenn man Lust dazu hatte, ging man mit einigen fertig geschriebenen Seiten zu dem Lehrer an den Tisch, der Lehrer warf einen müden Blick darauf und setzte mit roter Tinte irgendein Zeichen darunter, das manchmal mangelhaft, manchmal zufrieden, meistens gut bedeutete. Dem Lehrer war es gleich, ob man kam oder nicht, er nahm beides mit ewig gleicher Geduld hin.

Quelle: August Winning, Frührot. Ein Buch von Heimat und Jugend. Stuttgart-Berlin, 1924, S. 22–23, 43–44, 60–61; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C. H. Beck 1982, S. 281–82.