Quelle
Unter den Proletariern muß Jeder arbeiten, der nicht verhungern will. Es heißt zwar immer und überall: der Mann ist der Ernährer der Familie, der Erwerber, die Frau hat nur zu erhalten; – aber wo, wie in den untersten Ständen, der Mann oft kaum genug verdienen kann das eigne Leben zu fristen, da muß die Frau auch für das ihrige selbst sorgen und die Kinder, Knaben und Mädchen, auch wieder, wenn sie groß genug sind um etwas verdienen zu können. Die Frauen, welche für den Tagelohn die gröbsten Arbeiten verrichten, bekommen einen geringeren Tagelohn als die Männer, welche ebenfalls auf Tagelohn arbeiten. Man erklärt dies für angemessen, weil in vielen Fällen die naturgemäß geringeren Kräfte der Frauen auch nur zu geringeren Leistungen ausreichen und da der männliche Körper ein größeres Quantum von Nahrungsmitteln erfordern mag als der weibliche. Aber man kann gerade nicht behaupten, daß: Holzspalten, Wassertragen und Scheuern, Waschen und Kehren, ja das schon in ein höheres Fach gehörende Plätten, leichte Arbeiten wären, sie sind bekanntlich sämmtlich sehr anstrengend – aber die Redensart vom „zarten Geschlecht“ wendet man solchen Frauen gegenüber nicht an – man besinnt sich nur noch darauf, wenn man die Frauen von irgendeinem Handwerk zurückschrecken oder die Unmöglichkeit darthun will, daß sie etwas, was Kraft und Ausdauer erfordert, üben könnten. Aber diese Frauen, welche die schwersten Arbeiten verrichten, sind noch lange nicht die beklagenswerthesten. Gegenwärtig sind sogar ihre Löhne ziemlich gestiegen, in den meisten Fällen bekommen sie gut zu essen und ihre Arbeiten sind zwar anstrengend, aber, wenn sie nicht ein gewisses Maß überschreiten, nicht gerade ungesund; der Tagelohn reicht in der Regel für den nothdürftigsten Lebensunterhalt aus. Diejenigen aber, welche nicht gelernt haben sich diesen gröbsten Arbeiten zu unterziehen oder deren Kräfte dazu nicht ausreichen, oder die durch ihre Kinder oder hilfsbedürftigen Eltern an’s Haus gefesselt sind, sich auch nicht vermiethen können, müssen solche Arbeiten verrichten, die als speciell weibliche überall verzeichnet werden: Stricken, Nähen, Sticken. – Welche Concurrenz hierin, welches Angebot der Arbeitskräfte in Bezug auf ihren Verbrauch und dafür welch’ geringer Lohn!
Eine Strickerin bekommt für ein Paar Strümpfe zu stricken in der Regel 5 Neugroschen oder 17 Kreuzer Rheinisch – zwei bis drei Tage muß sie darüber stricken, wenn sie nicht nebenbei etwas Anderes tut. Da es die leichteste Arbeit ist, fällt sie meist den Kindern und alten Frauen zu, welche zu anderen Arbeiten unfähig sind. In dieser Leichtigkeit, in diesem Nebenher liegt die stete Aufnahme dieses Arbeitszweiges, trotz den immer mehr sich vervollkommnenden Strumpfwirkerstühlen, trotz der Erfindung und endlichen Benutzung der Nähmaschinen. Aber welche Concurrenz noch außer der hierher gehörenden Strumpfwirkerei! Wer anhaltend strickt, kann etwa 15–18 Pfennige oder 8 Kreuzer Rheinisch verdienen – aber wer hat so viele Kunden? Da das Stricken eine leichte Nebenbeschäftigung ist, die bei jeder Art der Unterhaltung, ja selbst beim Lesen und Spazierengehen vorgenommen werden kann, so giebt es Hunderte, die nur stricken, um nicht müßig zu gehen, und dann auch ihre Arbeit verkaufen.
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Hättet Ihr diese Mädchen und Frauen des oberen Erzgebirges gesehen! Die Kinder, welche in den dumpfen Stuben aufwachsen, sehen gespenstisch aus, bleich, mit abgemagerten Armen und Beinen und aufgetriebenen Leibern – von der einzigen Nahrung, welche sie haben: der Kartoffel. Der Vater hat sich im Blaufarbenwerk einen frühen Tod geholt, oder er zieht mit Rußbutten[1] oder Holzwaaren durch das Land, Weib und Kinder müssen daheim arbeiten, er kann nicht auch für sie mit sorgen! Die kleinen Mädchen müssen klöppeln, sobald sie die Händchen regelrecht regen können – da verkümmern sie am Klöppelkissen, an dem die Mutter schon verkümmerte, daß sie nur schwächlichen Kindern das Leben geben konnte, am Klöppelkissen, an dem die Großmutter erblindete! Denn das unverwandte Sehen auf die feinen Fädchen, Nadeln und Klöppelchen raubt den Augen früh die Sehkraft und die spielende Bewegung der kleinen Klöppel – oft gegen 50–100 – mit den Fingern macht diese fein und zart, die Arme schwach und mager, und untauglich zu jeder andern Beschäftigung. Und da kommen die klugen Leute und sagen: Die Frauen können etwas Anderes thun als klöppeln, es sei Wahnsinn, daß sie darauf bestünden. Nein, sie können es nicht, wenn sie einmal von Kindheit auf nichts Anderes gethan haben, denn sie haben sich niemals kräftigen können und sind ganz und gar unfähig eine schwerere Arbeit zu verrichten – wenn man sie ihnen auch verschaffen könnte.
Ich habe schon die Preise angegeben, welche für einige weibliche Arbeiten bezahlt werden. Ja, wenn sie nur wirklich immer bezahlt würden! aber auch die armen Näherinnen müssen Credit geben und werden oft spät, zuweilen auch gar nicht bezahlt. Viele der wirklich Reichen haben keinen Begriff davon, was Arbeit ist und daß ein armes junges Mädchen, das nicht gerade zum Betteln gezwungen ist oder wie eine Bettlerin aussieht, ein paar Thaler sehr nothwendig brauchen kann. Die feinen Damen wissen auch oft nicht wie lange an einem Stück genäht werden muß und statt es nach sich selbst zu beurteilen, was sie doch könnten, sagen sie: Ja, wir arbeiten natürlich lange an so etwas, weil wir nicht darüber bleiben, aber bei denen, die den ganzen Tag nähen, fliegt die Arbeit nur so hin – es ist unglaublich, wie viel sie in einem Tag fertigbringen. Denn das ist auch herkömmlich, daß der Reiche nie von sich auf den Armen schließt, sondern daß er diesen geradezu als ein anderes Wesen, eine andere menschliche Gattung betrachtet, als sich. So kennen sie auch nicht die Sorgen und Bedürfnisse der verschämten Armen – ein paar Thaler oder Gulden sind für den Reichen so wenig, und darum wird eine solche Kleinigkeit oft wirklich vergessen. In diesem Vergessen aber liegt selbst der ganze Egoismus, die ganze Unnatur, die ganze Unchristlichkeit bei aller Frömmelei, Unmenschlichkeit bei allen öffentlichen Humanitätsbestrebungen der heutigen Gesellschaft!
Anmerkungen
Quelle: Louise Otto, Das Recht der Frauen auf Erwerb. Blicke auf das Frauenleben der Gegenwart. Hamburg, 1866, S. 19–20, 23–24; abgedruckt in Hartwig Brandt und Ewald Grothe, Hrsg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1815–1870. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005, S. 106–8.