Kurzbeschreibung

Spätestens seit 1879 versuchte Bismarck nicht nur den Einfluss des Reichstags zu beschneiden, sondern auch die Nationalliberale Partei zu schwächen, indem er sich konservativen Partnern zuwandte. Im folgenden Brief an seinen liberalen Kollegen Freiherr Franz Schenk von Stauffenberg (1834–1901) fordert Max von Forckenbeck (1821–1892), Oberbürgermeister von Berlin, entschlossenen Widerstand gegen das „System Bismarck“ und die allgemeine reaktionäre Stimmung.

Max von Forckenbeck an Franz von Stauffenberg über die Notwendigkeit nationalliberaler Opposition (19. Januar 1879)

  • Max von Forckenbeck

Quelle

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In der Auffassung der Verhältnisse stimme ich vollständig mit Ihnen überein.

Das System Bismarck entwickelt sich mit furchtbarer Schnelligkeit so, wie ich es immer fürchtete. Allgemeine Wehrpflicht, ungemessene und überreichliche indirekte Steuern, ein disziplinierter und herabgewürdigter Reichstag und eine durch den Kampf aller materiellen Interessen verdorbene, und daher ohnmächtige öffentliche Meinung, das ist allerdings die Politik der Machtlosigkeit der Völker, der Untergang jeder konstitutionell freiheitlichen Entwicklung, gleichzeitig aber eine furchtbare Gefahr für das ganze Reich und das junge Kaisertum.

Ist nun die Nationalliberale Partei mit ihrer jetzigen Politik, mit ihrem jetzigen Programm und ihrer jetzigen Zusammensetzung ein geeignetes Instrument um solchen Gefahren entgegen zutreten? Werden wir nicht noch von Etappe zu Etappe tiefer in den Sumpf geführt? Wird nicht reine Opposition zur Pflicht?

Diese Fragen haben mich mitten im Drange schwerer Geschäfte unausgesetzt gequält. Am zweiten Weihnachtsfesttage besuchte mich morgens Lasker. Die ersten Worte ergaben, daß ihn dieselben Fragen furchtbar aufregten. Wir verabredeten eine Zusammenkunft für den Silvesterabend. Bei derselben waren anwesend Benda, Rickert, Bamberger, Lasker und ich. Braun war geladen aber nicht gekommen. Der Gesetzentwurf über die Reichstagsdisziplin war noch nicht in seinen Einzelheiten bekannt. Es wurde verabredet, daß Lasker ein kurzes Programm abfassen solle.

a) Abwehr der willkürlichen, alles überhastenden, alles in Aufregung bringenden inneren Politik Bismarcks.
b) Nur das Bedürfnis des Reiches kann über das Maß der Erhöhung der indirekten Steuern entscheiden, also höchstens nur Ersatz der Matrikularbeiträge.
c) Notwendige Lebensbedürfnisse, Getreide, Vieh dürfen nicht mit Eingangszöllen belegt werden. Opposition daher und überhaupt gegen den Brief vom 15.12.

Für dieses Programm sollten Unterschriften gesammelt werden, wie bei der Erklärung der 224, zugleich wurde die Versammlung der volkswirtschaftlichen Gesellschaft, von der jetzt Bamberger berichtet hat, vorbereitet. Lasker soll aus dem Spiele bleiben. Mitgeteilt wurde, daß er fest entschlossen sei, im Reichstage im Sinn des Freihandels aufzutreten, und schon jetzt die Rede ausarbeite.

Bennigsen und Miquel sollten zwar benachrichtigt, mit Ihnen gesprochen werden, alleiniges Vorgehen auch ohne dieselben wurde als möglich in Aussicht genommen.

Was aus der Sache weiter geworden, weiß ich nicht. Einzelne Andeutungen der National-Zeitung lassen mich vermuten, daß weiter verhandelt ist, und eine Einigung mit Bennigsen gefunden ist.

Es ist ja eine sehr reaktionäre Strömung im Lande, aber auch die Anzeichen des Widerstandes und der wiederkehrenden Besinnung mehren sich. Ich werde unter keinen Umständen mit einem reaktionären Strome schwimmen, lieber untergehen, wie Sie schreiben. Am allerwenigsten habe ich Lust einer solchen Strömung als Präsident zu dienen. Ich glaube, daß die Zeit zu fester und klarer Opposition mit vielen oder wenigen aber gleichgesinnten gekommen ist.

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Kaiser und Kronprinz haben mich beim Einzuge und Empfange mit großer Gnade behandelt. Der Kaiser sogar beim Empfange des Magistrats den Wunsch ausgesprochen, ich möge Präsident bleiben. (Doch dieses vertraulich.) Meine Lage als Berliner Oberbürgermeister ist allerdings voll großer Schwierigkeiten, allein das bestimmt mich nicht.

In Berlin ist übrigens in allen Kreisen ein lebhaftes Oppositionsgefühl, gleichzeitig verbunden mit einer großen Zuneigung für den Kaiser, der wiederum, wie wenn nichts passiert ist, anscheinend in großer Rüstigkeit in seinem offenen Wagen überall herumfährt.

Quelle: Nachlass Franz von Stauffenberg; abgedruckt in Julius Heyderhoff und Paul Wentzcke, Hrsg., Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung, 2 Bde., Bd. 2, Im Neuen Reich 1871–1890. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer, herausgegeben von Paul Wentzke. Bonn, Leipzig: Kurt Schroeder Verlag, 1926, S. 230–31.