Kurzbeschreibung

In dieser Passage aus seiner Autobiographie Von Rechts nach Links (1937) deckt der demokratisch-pazifistische Autor Hellmuth von Gerlach (1866–1935) die veraltete und autoritäre Leitung großer Landgüter durch unqualifizierte preußische Junker auf, deren Hauptaugenmerk der Jagd, dem Reiten und der adligen Repräsentation statt der Landwirtschaft galt. Als Sohn eines konservativen Junkers liefert Gerlach eine Innenansicht der traditionellen ländlichen Gesellschaft.

Preußische Junker als Landwirte und Jäger (1870er/1880er Jahre)

  • Hellmuth von Gerlach

Quelle

Einen großen Widerstand gegen die innere Kolonisation spielte der Gedanke an die Jagd. Jeder wollte sein großes Gut, selbst wenn die Außenschläge nur unter Verlust zu bewirtschaften waren, intakt erhalten, um sein Jagdgebiet nicht geschmälert zu sehen. Man versteht die konservativen Großgrundbesitzer nicht, wenn man sich nicht klarmacht, daß die Jagd in ihrem Leben den vordersten Platz einnimmt. Das Leben auf dem platten Lande war in den Siebziger und Achtziger Jahren, wo es weder Auto noch Radio noch Telephon gab, recht eintönig. Da half nur die Jagd. Ihr widmeten die Herren viel Zeit, oft mehr Zeit als der Landwirtschaft. Im Frühjahr fing es an mit Schnepfenstrich und Birkhahnbalz. Dann kam die Rehbockpirsch. Am 1. Juli ging die Entenjagd, am 15. August die Hühnerjagd auf. Dann folgten Kaninchen und Fasanen. Ab

1. November gab es ununterbrochen bis Mitte Januar Treibjagden. Und setzte im Februar endlich die tote Saison ein, so wurden wenigstens Kaninchen frettiert oder Raubvögel beim Uhu geschossen.

Die Jagd stand allem anderen voran. Wagte eine Bauerngemeinde, dem Gutsbesitzer ihre Jagd, die er meist für einen lächerlichen Preis innegehabt hatte, – 10 Pfennig für den Morgen war das übliche –, nicht mehr zu geben, so hielt er es für sein heiliges Recht, sie mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu kujonieren.

Sogar die eigene Landwirtschaft ließ der Rittergutsbesitzer oft unter den Interessen der Jagd leiden. Nicht nur, daß die Überhege an Wild schweren Wildschaden hervorrief, auch bei Anbau- und Erntearbeiten wurde auf die jagdlichen Bedürfnisse ungebührliche Rücksicht genommen.

Als Landwirte standen die konservativen Rittergutsbesitzer größtenteils unter dem Durchschnitt. Meist hatten sie weder theoretisch noch praktisch die Landwirtschaft gründlich studiert. Man wurde zunächst Offizier, und wenn der alte Herr sich „abbaureif“ fühlte, so übernahm der Herr Rittmeister das väterliche Gut. Er war an erhebliche Lebensansprüche gewöhnt und konnte kommandieren. Viel mehr Vorkenntnisse brachte er in die Landwirtschaft nicht mit. Natürlich ging die Sache nach einigen Jahren schief. Dann wurde Raubbau getrieben. Die Schulden häuften sich. Der Bankrott drohte. Der SOS-Ruf erklang: Väterchen Staat, hilf!

Alle Konservativen waren davon überzeugt, daß es Pflicht des Staates sei, so viel Zölle und Liebesgaben heranzuschaffen, daß auch die untüchtigen Besitzer auf schlechtem Boden sich halten konnten. Möglichst viel vom Staat, möglichst wenig an den Staat! war ihre Parole.

Quelle: Hellmuth von Gerlach, Von Rechts nach Links, herausgegeben von E. Ludwig. Zürich, 1937, S. 35ff.; abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hrsg., Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C. H. Beck, 1982, S. 189–90.