Kurzbeschreibung

Hellmuth von Gerlach (1866–1935) begann seine Laufbahn als antisemitischer Journalist und Anhänger der Christlich-Sozialen Partei, die als Flügel der konservativen Bewegung diente. Später wurde er ein vehementer Verfechter liberaler und pazifistischer Ansichten. In der folgenden, aus seiner Autobiografie entnommenen Passage beschreibt Gerlach einen Wahlkampf in seiner Heimatprovinz Schlesien. Gerlach verwendet den Begriff „Junkerparadies“, um darauf hinzudeuten, wie einfach es dort für einen Landedelmann war, gewählt zu werden. Ein weiterer zeitgenössischer Ausdruck für dieselbe Art von Wahlkreis war „Riviera-Wahlkreis“, weil der konservative Kandidat sich seines Wahlsieges so sicher war, dass er den Wahlkampf im Urlaub an der Riviera verbringen konnte. Lokale konservative Honoratioren konnten auf den Wahlausgang kraft ihres sozialen Status, wirtschaftlichen Einflusses und ihrer lokalen Autorität einwirken. Doch allmählich wurden die Gewohnheiten der Ehrerbietung ausgehöhlt und solche Bezirke heiß umkämpft.

Hellmuth von Gerlach beschreibt eine konservative Wahlkampagne im ländlichen Schlesien (1880er)

  • Hellmuth von Gerlach

Quelle

Das Junkerparadies

Die ersten achtzehn Jahre meines Lebens habe ich im Kreise Wohlau in Schlesien verbracht. Dieser Kreis bildete mit Guhrau und Steinau zusammen einen Wahlkreis, der der „Goldene Wahlkreis der Konservativen“ genannt wurde, weil er weder zum Reichstag noch zum Landtag je andre Vertreter als Konservative nach Berlin schickte. Die Herren Kandidaten brauchten sich auch weder körperlich noch geistig in Unkosten zu stürzen. Irgendein Herr v. Kessel oder v. Nitzschwitz oder Graf Carmer wurde in einer Vertrauensmännerversammlung der Großgrundbesitzer unter Vorsitz eines Landrats aufgestellt. Damit war seine Wahl bereits entschieden.

Der Wahlkreis war so ungeheuerlich reaktionär, daß selbst die Freikonservativen schon als gefährliche Umstürzler galten. Einmal hatte ein Pastor, der zugleich Kreisschulinspektor war, es gewagt, mit Hilfe einiger Volksschullehrer sich als freikonservativer Kandidat zum Landtag aufstellen zu lassen. Ob dieser Frechheit furchtbare Empörung des gesamten Großgrundbesitzes. In seinem Namen veröffentlichte im Kreisblatt ein Herr v. Seydlitz eine Erklärung, worin er dem Pastor die unerhörte Undankbarkeit unter die Nase rieb, die darin liege, daß er, den früher ein Großgrundbesitzer in Gnaden als Hauslehrer aufgenommen habe, nunmehr sich gegen den Willen des Großgrundbesitzes auflehne.

Pastoren und Lehrer waren infolge des Patronatsrechts zum großen Teil in peinlicher Abhängigkeit von den Rittergutsbesitzern. Nach welchen Grundsätzen manchmal das patronale Besetzungsrecht ausgeübt wurde, dafür konnte ich ein paar charakteristische Beispiele kennenlernen.

Der Nachbar meines Vaters war ein aus Sachsen stammender Kammerherr Baron v. Beust. Er hatte die Pastorenstelle auf seinem Rittergut Herrnmotschelnitz zu besetzen. Die Bewerber schwirrten an und hielten ihre Probepredigten, die ich mir eine nach der andern anhörte. Schließlich wurde ein ganz junger Geistlicher angestellt, obwohl er offenbar die schlechteste Predigt gehalten hatte. Ich stellte Herrn v. Beust deshalb zur Rede. Worauf der brave Kammerherr: „Nu heeren Se, der Mann spielt aber ausgezeichnet Skat!“ Dieses Argument setzte mich natürlich matt.

Mein Vater war Protestant, hatte aber das Patronatsrecht über die katholische Kirche und Schule in Groß-Schmograu. Er haßte die Katholiken. „Die sind noch schlimmer als die Juden“, pflegte er zu sagen. Darum war sein Bemühen immer, möglichst anti-katholische Priester auf die Kanzel von Groß-Schmograu zu bringen. Das war schließlich bekanntgeworden. Die geistlichen Amtswerber spielten sich deshalb meinem Vater gegenüber möglichst als Freigeister auf. Waren sie erst einmal angestellt, so hatte der Patron nichts mehr zu sagen. Dann entpuppten sie sich regelmäßig als durchaus korrekte, wenn nicht gar als eifernde Kleriker und Klerikale zugleich. Was meinen Vater begreiflicherweise in seinem Glauben an die „jesuitische Verlogenheit“ bestärkte. Mir schienen diese Erfahrungen nur für die Unsittlichkeit der Einrichtung des Patronats zu sprechen, an das sich aber die Junker als an eine der Wurzeln ihrer Macht mit allen Fasern klammerten.

Wohlau liegt in Mittelschlesien. Wir hatten dort nicht die Latifundien, wie sie in Oberschlesien dominieren. Wir hatten zumeist Güter mittlern Bodens von 2—4000 Morgen. Zum großen Teil waren das sogenannte „walzende Güter“, die ihren Besitzer oft wechselten. Das wirklich bodenständige Junkerelement, das in gewissen Teilen Pommerns und der Mark vorwiegt, fehlte fast gänzlich. Wenn ein Gut fünfzig Jahre in einer Familie war, pflegte dem Inhaber zur Feier dieses außerordentlichen Ereignisses der Rote Adlerorden IV. Güte verliehen zu werden.

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Viele der Güter waren in den Händen verabschiedeter Offiziere. Die Herren hatten die Landwirtschaft selbstverständlich nicht gelernt, glaubten aber, nachdem sie wegen militärischer Unfähigkeit abgehalftert worden waren, daß ihre Geistesgaben zum Betriebe des Großgrundbesitzes immer noch reichlich genügen würden. Wenn sie dann Dummheit über Dummheit machten und zudem von ihren Verwaltern hinten und vorne betrogen wurden, so schrieen sie Zeter und Mordio über die Not der Landwirtschaft und verlangten Erhöhung der Getreidezölle. Sie waren dabei nicht einmal bewußt unehrlich. Die Landwirtschaft galt eben bei diesen Junkern als ein anständiger Beruf, der keine besondere Vorbildung benötige und trotzdem einen anständigen Menschen anständig ernähren müsse.

Uebermäßiger Luxus wurde nicht entfaltet. Freilich: Reitpferde, ein Paar Gespanne Wagenpferde, ein Dutzend Kutschen, ein gefüllter Weinkeller, eine gepflegte Jagd, gute Jagddiners, die Söhne Corpsstudenten oder Kavallerieoffiziere — das galt als selbstverständlich. Gejeut in dem Maße, wie zum Beispiel in Oberschlesien, wurde nicht. Es gab allerdings ein paar leichtsinnige Hühner, die, zumal nach den Jagddiners, das Hazardieren eifrig betrieben, wobei in Ermangelung genügenden Bargeldes oft Streichhölzer die Rolle von „ships“ spielen mußten. Aber im allgemeinen beschränkte man sich auf einen soliden Sturmwhist, L’hombre oder Skat.

Eigenartig waren die Steuergrundsätze vieler Großgrundbesitzer. Wenn sie einen Riesenpark hatten, so galten ihnen die Kosten der Unterhaltung des Parks als notwendige Betriebsausgaben. Wenn sie, statt ihre Kinder in die Volksschule zu schicken, sich Hauslehrer und Gouvernanten hielten, so erschienen auch diese Kosten als abzugsfähige Betriebsausgaben. Wenn ihnen die Jagd, die durch Verpachtung bedeutende Summen hätte bringen können, Unkosten verursachte, weil sie sie wie waidmännischen Luxus handhabten, so buchten sie selbst das auf die Seite der notwendigen Ausgaben. Ihre oft prachtvollen Schlösser rechneten sie fast als Nichts. Ich entsinne mich noch, wie ein Großgrundbesitzer im Kreise seiner Standesgenossen furchtbar auf den Landrat schimpfte, weil dieser sein Schloß von 20 Fenstern Front mit einem Mietswert von 900 Mark angesetzt hatte. In der Steuererklärung hatte der Besitzer sich nämlich nur 300 Mark Jahresmietswert herausgerechnet. Ich fragte ihn, wie er zu dieser Schätzung komme, da doch die Verzinsung des Baukapitals eine Anzahl von Tausendern darstelle. Er erwiderte: „In meinem Dorf gibt es keine andern möglichen Mieter als Landarbeiter. Die verdienen so wenig Geld, daß sie zusammen für das Schloß höchstens 300 Mark Miete zahlen könnten.“ Auch der Mann war subjektiv durchaus ehrlich. Die Agrarier haben eben volkswirtschaftliche Auffassungen sui generis.

Die Landarbeiter standen auf einer sehr niedrigen Kulturstufe. Fast ihr einziges Vergnügen war der Schnaps, den sie bei festlichen Gelegenheiten (Weihnachten, Erntefest, Jagd) literweise aus der gutsherrlichen Brennerei erhielten. Die Frauen der Besitzer empörten sich oft über die am Sonnabend und Sonntag fast regelmäßig herrschende Besoffenheit, freuten sich aber gleichwohl über den gutgehenden Betrieb der eheherrlichen Kartoffelbrennerei. Die herrschende Moral wurde eben richtig durch die Verse charakterisiert:

Lern, lieber Sohn, das Leben kennen,
Sehr nobel ist es, Schnaps zu brennen,
Bedenklich schon, ihn zu verkaufen,
Ganz unmoralisch, ihn zu saufen!

Die Landarbeiter waren politisch damals einzig ein Faktor zur Erhaltung der konservativen Herrschaft. Bei ihren Hundelöhnen konnten sie sich den Luxus einer eigenen Zeitung nicht leisten. Der Rittergutsbesitzer ließ ihnen auf seine Kosten entweder eine kleine konservative Tageszeitung oder gar nur ein frommes Sonntagsblättchen zustellen. Zu Weihnachten bekamen sie einen Kalender mit patriotischen Erzählungen oder christlichen Ermahnungen zu Demut, Gehorsam und Zufriedenheit. Zu andern als konservativen Versammlungen wagte der Dorfwirt seinen Tanzsaal nicht herzugeben, da der Gutsbesitzer als Amtsvorsteher ihn bei unbequemem Verhalten in jeder Weise schikanieren konnte. Am Wahltag wurden die Arbeiter während der Mittagspause in geschlossenem Zuge zum Wahllokal geführt, vorn der Inspektor, hinten der Förster. Am Eingang zum Wahllokal übergab der Inspektor jedem Arbeiter den konservativen Stimmzettel, der gleich darauf von dem Gutsbesitzer als Wahlvorsteher in Empfang genommen wurde.

Der Apparat funktionierte tadellos. Nur auf den Bauerndörfern gab es politische Betriebsstörungen. Da wurden auch freisinnige oder Zentrums-Stimmen abgegeben. Darum waren unsre Herren „von und zu“ auch auf die Bauern schlecht zu sprechen (später hat ja der Bund der Landwirte mit großer Geschicklichkeit verstanden, die meisten Bauern vor den Junkerwagen zu spannen). In meiner Jugendzeit aber galt der Bauer in meiner Heimat noch als ein unsicherer oder gar aufsässiger Geselle, der sich hier und da beikommen ließ, dem „gnädigen Herrn“ nicht mehr die Jagd verpachten zu wollen, weil dieser zu viel Wildschaden geduldet hatte.

Wir hatten in unsrer Gegend einen einzigen wirklich modernen Menschen unter den Junkern. Das war der Graf Pourtalès, Fideikommißherr auf Glumbowitz. Der hatte sogar die verrückte Idee, daß das englische parlamentarische System vernünftig sei, weil es allein tüchtige Leute anreizen könne, in das Parlament zu treten. Graf Pourtalès wurde als „Liberaler“ verschrieen. Darum wählten ihn die Bauern in den Kreistag. Und er nahm dort mitten unter ihnen Platz.

Das schlug dem Faß den Boden aus. Pourtalès wurde von seinen Standesgenossen einhellig in den Bann getan. Niemand verkehrte mehr mit ihm. In seiner völligen Isolierung wußte er sich keinen andern Rat, als auf zehn Jahre nach Amerika zu gehen, um so Gras über sein Verbrechen wachsen zu lassen.

Quelle: Hellmuth von Gerlach, Erinnerungen eines Junkers. Berlin: Die Welt am Montag, o. J. [1925], S. 23–30.

Hellmuth von Gerlach beschreibt eine konservative Wahlkampagne im ländlichen Schlesien (1880er), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/reichsgruendung-bismarcks-deutschland-1866-1890/ghdi:document-1852> [05.11.2024].