Kurzbeschreibung

Richard Wagner (1813–1883) war der bedeutendste Komponist und Dirigent der Bismarckzeit in Deutschland, wobei aber häufig in Vergessenheit gerät, dass er auch als Essayist tätig war. Er wuchs im Königreich Sachsen auf; ab 1831 studierte er in Leipzig Musik. In den späten 1830er Jahren und in den 1840er Jahren fungierte er als musikalischer Leiter in einer Reihe von Städten und lebte eine Zeit lang in Paris. In den 1840er Jahren kehrte er nach Dresden zurück und komponierte einige seiner größten Opern, darunter Der fliegende Holländer (1843), Tannhäuser (1845) und Lohengrin (1848). Wagner kämpfte während des Dresdner Maiaufstandes von 1849 auf den Barrikaden—an der Seite der Revolutionäre. Anschließend wurde er zur Flucht nach Paris und weiter gezwungen. In dieser Zeit schrieb er Aufsätze, in denen er seine Vision der Oper als Gesamtkunstwerk beschrieb. Außerdem verfasste er „Das Judentum in der Musik“ (1850), eine antisemitische Abhandlung, die 1869 erneut veröffentlicht wurde. Wagner fuhr fort, weitere Opern zu schreiben, darunter sein enormer, vierteiliger Opernzyklus Der Ring des Nibelungen. Um sein Publikum zum Rückzug aus den Ablenkungen der Großstadt zu ermuntern, wählte er die bayerische Kleinstadt Bayreuth als Standort für sein Festspielhaus, das im August 1876 mit der Uraufführung des Ringzyklus eröffnet wurde. Die Vorbemerkung, die Wagner für den folgenden Text schrieb, lässt darauf schließen, dass er 1865 begonnen und 1878 abgeschlossen wurde. Neben seinen antisemitischen Passagen beleuchtet der Aufsatz auch Wagners Wunsch nach einer einheitlichen deutschen Kunst—und mehr, nach einem deutschen Nationalbewusstsein.

Richard Wagner, Was ist Deutsch? (1865/78)

  • Richard Wagner

Quelle

Aus dem Jahre 1865 fand sich, bei einer neuerlichen Untersuchung meiner Papiere, in zerstückelten Absätzen das Manuskript vor, von welchem ich heute den größeren Teil, auf den Wunsch des mir für die Herausgabe der „Bayreuther Blätter“ verbundenen jüngeren Freundes[1], der Veröffentlichung für unsre ferneren Freunde des Patronatvereines zu übergeben mich bestimmt habe.

War die hier vor mir stehende Frage: „was ist deutsch?“ überhaupt so schwierig zu beantworten, daß ich meinen Aufsatz, als unvollendet, der Gesamtausgabe meiner Schriften noch nicht beizugeben mich getraute, so beschwerte mich neuerdings wiederum die Auswahl des Mitzuteilenden, da ich mehrere in diesen Aufsätzen behandelte Punkte bereits anderswo, namentlich in meiner Schrift über „deutsche Kunst und deutsche Politik“, weiter ausgeführt und veröffentlicht hatte. Mögen hieraus Mängel des vorliegenden Aufsatzes erklärt werden. Jedenfalls habe ich aber diesmal die Reihe meiner damals niedergelegten Gedanken erst noch zu schließen, und es wird dieser Schluß, welchem ich nun, nach dreizehnjähriger neuer Erfahrung, allerdings eine besondere Färbung zu geben habe, demnach mein letztes Wort in betreff des angeregten, so traurig ernsten Themas enthalten.

Es hat mich oft bemüht, mir darüber recht klar zu werden, was eigentlich unter dem Begriffe „deutsch“ zu fassen und zu verstehen sei.

Dem Patrioten ist es sehr geläufig, den Namen seines Volkes mit unbedingter Verehrung anzuführen; je mächtiger ein Volk ist, desto weniger scheint es jedoch darauf zu geben, seinen Namen mit dieser Ehrfurcht sich selbst zu nennen. Es kommt im öffentlichen Leben Englands und Frankreichs bei weitem seltener vor, daß man von „englischen“ und „französischen Tugenden“ spreche; wogegen die Deutschen sich fortwährend auf „deutsche Tiefe“, „deutschen Ernst“, „deutsche Treue“ u. dgl. m. zu berufen pflegen. Leider ist es in sehr vielen Fällen offenbar geworden, daß diese Berufung nicht vollständig begründet war; wir würden aber dennoch wohl unrecht tun anzunehmen, daß es sich hier um gänzlich nur eingebildete Qualitäten handele, wenn auch Mißbrauch mit der Berufung auf dieselben getrieben wird. Am besten ist es, wir untersuchen die Bedeutung dieser Eigentümlichkeit der Deutschen auf geschichtlichem Wege.

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Mit dem Verfalle der äußeren politischen Macht, d. h. mit der aufgegebenen Bedeutsamkeit des römischen Kaisertumes, worin wir gegenwärtig den Untergang der deutschen Herrlichkeit beklagen, beginnt dagegen erst die rechte Entwicklung des wahrhaften deutschen Wesens. Wenn auch im unleugbaren Zusammenhange mit der Entwicklung sämtlicher europäischer Nationen, verarbeiten sich doch deren Einflüsse, namentlich die Italiens, im heimischen Deutschland auf so eigentümliche Weise, daß nun, im letzten Jahrhundert des Mittelalters, sogar die deutsche Tracht in Europa vorbildlich wird, während zur Zeit der sogenannten deutschen Herrlichkeit auch die Großen des deutschen Reiches sich römisch-byzantinisch kleideten. In den deutschen Niederlanden wetteiferte deutsche Kunst und Industrie mit der italienischen in deren glorreichster Blüte. Nach dem gänzlichen Verfalle des deutschen Wesens, nach dem fast gänzlichen Erlöschen der deutschen Nation infolge der unbeschreiblichen Verheerungen des dreißigjährigen Krieges, war es diese innerlichst heimische Welt, aus welcher der deutsche Geist wiedergeboren ward. Deutsche Dichtkunst, deutsche Musik, deutsche Philosophie sind heutzutage hochgeachtet von allen Völkern der Welt: in der Sehnsucht nach „deutscher Herrlichkeit“ kann sich der Deutsche aber gewöhnlich noch nichts anderes träumen als etwas der Wiederherstellung des römischen Kaiserreiches Ähnliches, wobei selbst dem gutmütigsten Deutschen ein unverkennbares Herrschergelüst und Verlangen nach Obergewalt über andere Völker ankommt. Er vergißt, wie nachteilig der römische Staatsgedanke bereits auf das Gedeihen der deutschen Völker gewirkt hatte.

Um über die, diesem Gedeihen einzig förderliche, wahrhaft deutsch zu nennende Politik sich klar zu werden, muß man sich vor allem eben die wirkliche Bedeutung und Eigentümlichkeit desjenigen deutschen Wesens, welches wir selbst in der Geschichte einzig mächtig hervortretend fanden, zum richtigen Verständnisse bringen. Um demnach den Boden der Geschichte noch festzuhalten, betrachten wir hierzu etwas näher eine der wichtigsten Epochen des deutschen Volkes, die ungemein aufgeregte Krisis seiner Entwicklung, welche es zur Zeit der sogenannten Reformation zu bestehen hatte.

Die christliche Religion gehört keinem nationalen Volksstamme eigens an: das christliche Dogma wendet sich an die reinmenschliche Natur. Nur insoweit dieser allen Menschen gemeinsame Inhalt von ihm rein aufgefaßt wird, kann ein Volk in Wahrheit sich christlich nennen. Immerhin kann ein Volk aber nur dasjenige vollkommen sich aneignen, was ihm mit seiner angeborenen Empfindung zu erfassen möglich wird, und zwar in der Weise zu erfassen, daß es sich in dem Neuen vollkommen heimisch selbst wiederfindet. Auf dem Gebiete der Ästhetik und des kritisch-philosophischen Urteils läßt es sich fast zur Ersichtlichkeit nachweisen, daß es dem deutschen Geiste bestimmt war, das Fremde, ursprünglich ihm Fernliegende, in höchster objektiver Reinheit der Anschauung zu erfassen und sich anzueignen. Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß die Antike nach ihrer jetzt allgemeinen Weltbedeutung unbekannt geblieben sein würde, wenn der deutsche Geist sie nicht erkannt und erklärt hätte. Der Italiener eignete sich von der Antike an, was er nachahmen und nachbilden konnte; der Franzose eignete sich wieder von dieser Nachbildung an, was seinem nationalen Sinne für Eleganz der Form schmeicheln durfte: erst der Deutsche erkannte sie in ihrer reinmenschlichen Originalität und der Nützlichkeit gänzlich abgewandten, dafür aber der Wiedergebung des Reinmenschlichen einzig förderlichen Bedeutung. Durch das innigste Verständnis der Antike ist der deutsche Geist zu der Fähigkeit gelangt, das Reinmenschliche selbst wiederum in ursprünglicher Freiheit nachzubilden, nämlich, nicht durch die Anwendung einer antiken Form einen bestimmten Stoff darzustellen, sondern durch eine Anwendung der antiken Auffassung der Welt die notwendige neue Form zu bilden. Um dies deutlich zu erkennen, halte man Goethes „Iphigenia“ zu der des Euripides. Man kann behaupten, daß der Begriff der Antike erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts besteht, nämlich seit Winckelmann und Lessing.

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Waren bisher die deutschen Fürsten meistens mit dem deutschen Geiste gemeinsam gegangen, so habe ich schon bezeichnet, wie seitdem, leider auch noch die Fürsten fast gänzlich diesen Geist zu verstehen verlernten. Den Erfolg davon ersehen wir an unsrem heutigen öffentlichen Staatsleben: das eigentlich deutsche Wesen zieht sich immer mehr von diesem zurück; teils wendet es sich seiner Neigung zum Phlegma, teils der zur Phantasterei zu; und die fürstlichen Rechte Preußens und Österreichs haben sich allmählich daran zu gewöhnen, ihren Völkern gegenüber, da der Junker und selbst der Jurist nicht mehr recht weiterkommt, sich durch – Juden vertreten zu sehen.

In dieser sonderbaren Erscheinung des Eindringens eines allerfremdartigsten Elementes in das deutsche Wesen liegt mehr, als es beim ersten Anblick dünken mag. Nur insoweit wollen wir hier jenes andere Wesen aber in Betrachtung ziehen, als wir in der Zusammenstellung mit ihm uns klar darüber werden dürfen, was wir unter dem von ihm ausgebeuteten „deutschen“ Wesen zu verstehen haben. – Der Jude scheint den Völkern des neueren Europas überall zeigen zu sollen, wo es einen Vorteil gab, welchen jene unerkannt und unausgenutzt ließen. Der Pole und Ungar verstand nicht den Wert, welchen eine volkstümliche Entwicklung der Gewerbetätigkeit und des Handels für das eigene Volk haben würde: der Jude zeigte es, indem er sich den verkannten Vorteil aneignete. Sämtliche europäische Völker ließen die unermeßlichen Vorteile unerkannt, welche eine dem bürgerlichen Unternehmungsgeiste der neueren Zeit entsprechende Ordnung des Verhältnisses der Arbeit zum Kapital für die allgemeine Nationalökonomie haben mußte: die Juden bemächtigten sich dieser Vorteile, und am verhinderten und verkommenden Nationalwohlstande nährt der jüdische Bankier seinen enormen Vermögensstand. Liebenswürdig und schön ist der Fehler des Deutschen, welcher die Innigkeit und Reinheit seiner Anschauungen und Empfindungen zu keinem eigentlichen Vorteil, namentlich für sein öffentliches und Staatsleben auszubeuten wußte: daß auch hier ein Vorteil auszunutzen übrig blieb, konnte nur derjenigen Geistesrichtung erkenntlich sein, welche im tiefsten Grunde das deutsche Wesen mißverstand. Die deutschen Fürsten lieferten den Mißverstand, die Juden beuteten ihn aus. Seit der Neugeburt der deutschen Dichtkunst und Musik brauchte es nur, nach Friedrich d. Gr. und dessen Vorgange, zur Marotte des Fürsten zu werden, diese zu ignorieren oder, nach der französischen Schablone bemessen, unrichtig und ungerecht zu beurteilen und demgemäß dem durch sie offenbarten Geiste keinen Einfluß zu gewähren, um dafür dem Geiste der fremden Spekulation ein Feld zu eröffnen, auf welchem er Vorteil zu ziehen gewahrte. Es ist, als ob sich der Jude verwunderte, warum hier so viel Geist und Genie zu nichts anderem diente, als Erfolglosigkeit und Armut einzubringen. Er konnte es nicht begreifen, daß, wenn der Franzose für die Glorie, der Italiener für den Denaro arbeitete, der Deutsche dies „pour le roi de Prusse“ tat. Der Jude korrigierte dieses Ungeschick der Deutschen, indem er die deutsche Geistesarbeit in seine Hand nahm; und so sehen wir heute ein widerwärtiges Zerrbild des deutschen Geistes dem deutschen Volke als sein vermeintliches Spiegelbild vorgehalten. Es ist zu fürchten, daß das Volk mit der Zeit sich wirklich selbst in diesem Spiegelbild zu ersehen glaubt: dann wäre eine der schönsten Anlagen des menschlichen Geschlechtes vielleicht für immer ertötet.

Wie es vor solchem schmachvollen Untergange zu bewahren sei, haben wir aufzusuchen, und wir wollen uns deshalb hier vor allem recht deutlich das Charakteristische des eigentlich „deutschen“ Wesens klar machen.

Führen wir uns den äußerlichen Vorgang der geschichtlichen Dokumentation des deutschen Wesens in Kürze noch einmal deutlich vor. „Deutsche“ Völker heißen diejenigen germanischen Stämme, welche auf heimischem Boden ihre Sprache und Sitte sich bewahrten. Selbst aus dem lieblichen Italien verlangt der Deutsche nach seiner Heimat zurück. Er verläßt deshalb den römischen Kaiser und hängt desto inniger und treuer an seinem heimischen Fürsten. In rauhen Wäldern, im langen Winter, am wärmenden Herdfeuer seines hoch in die Lüfte ragenden Burggemaches pflegte er lange Zeit Urvätererinnerungen, bildet seine heimischen Göttermythen in unerschöpflich mannigfaltige Sagen um. Er wehrt dem zu ihm dringenden Einflusse des Auslandes nicht; er liebt zu wandern und zu schauen; voll der fremden Eindrücke drängt es ihn aber, diese wiederzugeben; er kehrt deshalb in die Heimat zurück, weil er weiß, daß er nur hier verstanden wird: hier am heimischen Herde erzählt er, was er draußen sah und erlebte. Romanische, wälische, französische Sagen und Bücher übersetzt er sich, und während Romanen, Wälsche und Franzosen nichts von ihm wissen, sucht er eifrig sich Kenntnis von ihnen zu verschaffen. Er will aber nicht nur das Fremde als solches, als rein Fremdes, anstarren, sondern er will es „deutsch“ verstehen. Er dichtet das fremde Gedicht deutsch nach, um seines Inhaltes innig bewußt zu werden. Er opfert hierbei von dem Fremden das Zufällige, Äußerliche, ihm Unverständliche, und gleicht diesen Verlust dadurch aus, daß er von seinem eigenen zufälligen, äußerlichen Wesen so viel darein gibt, als nötig ist, den fremden Gegenstand klar und unentstellt zu sehen. Mit diesen natürlichen Bestrebungen nähert er sich in seiner Darstellung der fremdartigen Abenteuer der Anschauung der reinmenschlichen Motive derselben. So wird von Deutschen „Parsifal“ und „Tristan“ wiedergedichtet; während die Originale heute zu Kuriosen von nur literargeschichtlicher Bedeutung geworden sind, erkennen wir in den deutschen Nachdichtungen poetische Werke von unvergänglichem Werte.

In demselben Geiste trägt der Deutsche bürgerliche Einrichtungen des Auslandes auf die Heimat über. Im Schutze der Burg erweitert sich die Stadt der Bürger; die blühende Stadt reißt aber die Burg nicht nieder: die „freie Stadt“ huldigt dem Fürsten: der gewerbtätige Bürger schmückt das Schloß des Stammherrn. Der Deutsche ist konservativ: sein Reichtum gestaltet sich aus dem Eigenen aller Zeiten; er spart und weiß alles Alte zu verwenden. Ihm liegt am Erhalten mehr als am Gewinnen: das gewonnene Neue hat ihm nur dann Wert, wenn es zum Schmucke des Alten dient. Er begehrt nichts von außen; aber er will im Innern unbehindert sein. Er erobert nicht, aber er läßt sich auch nicht angreifen. – Mit der Religion nimmt er es ernst: die Sittenverderbnis der römischen Kurie und ihr demoralisierender Einfluß auf den Klerus verdrießt ihn tief. Unter Religionsfreiheit versteht er nichts anderes als das Recht, mit dem Heiligsten es ernst und redlich meinen zu dürfen. Hier wird er empfindlich und disputiert mit der unklaren Leidenschaftlichkeit des aufgestachelten Freundes der Ruhe und Bequemlichkeit. Die Politik mischt sich hinein: Deutschland soll eine spanische Monarchie, das freie Reich unterdrückt, seine Fürsten sollen zu bloßen vornehmen Höflingen gemacht werden. Kein Volk hat sich gegen Eingriffe in seine innere Freiheit, sein eigenes Wesen, gewehrt wie die Deutschen: mit nichts ist die Hartnäckigkeit zu vergleichen, mit welcher der Deutsche seinen völligen Ruin der Fügsamkeit unter ihm fremde Zumutungen vorzog. Dies ist wichtig. Der Ausgang des dreißigjährigen Krieges vernichtete das deutsche Volk: daß ein deutsches Volk wieder erstehen konnte, verdankt es aber doch einzig eben diesem Ausgange. Das Volk war vernichtet, aber der deutsche Geist hatte bestanden. Es ist das Wesen des Geistes, den man in einzelnen hochbegabten Menschen „Genie“ nennt, sich auf den weltlichen Vorteil nicht zu verstehen. Was bei anderen Völkern endlich zur Übereinkunft, zur praktischen Sicherung des Vorteiles durch Fügsamkeit führte, das konnte den Deutschen nicht bestimmen: zur Zeit, als Richelieu die Franzosen die Gesetze des politischen Vorteiles anzunehmen zwang, vollzog das deutsche Volk seinen Untergang; aber, was den Gesetzen dieses Vorteils sich nie unterziehen konnte, lebte fort und gebar sein Volk von Neuem: der deutsche Geist.

Ein Volk, welches numerisch auf den zehnten Teil seines früheren Bestandes herabgebracht war, konnte, seiner Bedeutung nach, nur noch in der Erinnerung Einzelner bestehen. Selbst diese Erinnerung mußte von den ahnungsvollsten Geistern erst wieder aufgesucht und anfänglich mühsam genährt werden. Es ist ein wundervoller Zug des deutschen Geistes, daß, nachdem er in seiner früheren Entwicklungsperiode die von außen kommenden Einflüsse sich innerlichst angeeignet hatte, er nun, da der Vorteil des äußerlichen politischen Machtlebens ihm gänzlich entschwunden war, aus seinem eigensten innerlichen Schatze sich neu gebar. – Die Erinnerung ward ihm recht eigentlich zur Erinnerung; denn aus seinem tiefsten Innern schöpfte er, um sich der nun übermäßig gewordenen äußeren Einflüsse zu erwehren. Nicht seiner äußerlichen Existenz galt es, denn diese war dem Namen nach durch das Bestehen der deutschen Fürsten gesichert; bestand ja sogar der Name des römisch-deutschen Kaisertitels fort! Sondern sein wahrhaftigstes Wesen, wovon die meisten dieser Fürsten nichts mehr wußten, galt es zu erhalten und zu neuer Kraft zu erheben. In der französischen Livree und Uniform, mit Perücke und Zopf, und lächerlich nachgeahmter französischer Galanterie ausgestattet, trat ihm der dürftige Rest seines Volkes entgegen, mit einer Sprache, die selbst der mit französischen Floskeln sich schmückende Bürger im Begriffe stand, nur noch dem Bauern zu überlassen. – Doch wo die eigene Gestalt, die eigene Sache selbst sich verlor, blieb dem deutschen Geiste eine letzte, ungeahnte Zuflucht, sein innigstes Inneres sich deutlich auszusprechen. Von den Italienern hatte der Deutsche sich auch die Musik angeeignet. Will man die wunderbare Eigentümlichkeit, Kraft und Bedeutung des deutschen Geistes in einem unvergleichlich beredten Bilde erfassen, so blicke man scharf und sinnvoll auf die sonst fast unerklärlich rätselhafte Erscheinung des musikalischen Wundermannes Sebastian Bach. Es ist die Geschichte des innerlichsten Lebens des deutschen Geistes während des grauenvollen Jahrhunderts der gänzlichen Erloschenheit des deutschen Volkes. Da seht diesen Kopf, in der wahnsinnigen französischen Allongenperücke versteckt, diesen Meister – als elenden Kantor und Organisten zwischen kleinen thüringischen Ortschaften, die man kaum dem Namen nach kennt, mit nahrungslosen Anstellungen sich hinschleppend, so unbeachtet bleibend, daß es eines ganzen Jahrhunderts wiederum bedurfte, um seine Werke der Vergessenheit zu entziehen; selbst in der Musik eine Kunstform vorfindend, welche äußerlich das ganze Abbild seiner Zeit war, trocken, steif, pedantisch, wie Perücke und Zopf in Noten dargestellt: und nun sehe man, welche Welt der unbegreiflich große Sebastian aus diesen Elementen aufbaute! Auf diese Schöpfung weise ich nur hin; denn es ist unmöglich, ihren Reichtum, ihre Erhabenheit und alles in sich fassende Bedeutung durch irgendeinen Vergleich zu bezeichnen. Wollen wir uns jetzt aber die überraschende Wiedergeburt des deutschen Geistes auch auf dem Felde der poetischen und philosophischen Literatur erklären, so können wir dies deutlich nur, wenn wir an Bach begreifen lernen, was der deutsche Geist in Wahrheit ist, wo er weilte, und wie er rastlos sich neu gestaltete, während er gänzlich aus der Welt entschwunden schien. Von diesem Manne ist neuerlich eine Biographie[2] erschienen, über welche die „Allgemeine Zeitung“ berichtete. Ich kann mich nicht entwehren, aus diesem Berichte folgende Stellen anzuführen: „Mit Mühe und seltener Willenskraft ringt er sich aus Armut und Not zu höchster Kunsthöhe empor, streut mit vollen Händen eine fast unübersehbare Fülle der herrlichsten Meisterwerke seiner Zeit hin, die ihn nicht begreifen und schätzen kann, und stirbt bedrückt von schweren Sorgen einsam und vergessen, seine Familie in Armut und Entbehrung zurücklassend – das Grab des Sangesreichen schließt sich über dem müden Heimgegangenen ohne Sang und Klang, weil die Not des Hauses eine Ausgabe für den Grabgesang nicht zuläßt. Sollte eine Ursache, warum unsre Tonsetzer so selten Biographen finden, teilweise wohl auch in dem Umstande zu suchen sein, weil ihr Ende gewöhnlich ein so trauriges, erschütterndes ist?“ – Und während sich dies mit dem großen Bach, dem einzigen Horte und Neugebärer des deutschen Geistes, begab, wimmelten die großen und kleinen Höfe der deutschen Fürsten von italienischen Opernkomponisten und Virtuosen, die man mit ungeheuren Opfern dazu erkaufte, dem verachteten Deutschland den Abfall einer Kunst zum Besten zu geben, welcher heutzutage nicht die mindeste Beachtung mehr geschenkt werden kann.[3]

Doch Bachs Geist, der deutsche Geist, trat aus dem Mysterium der wunderbarsten Musik, seiner Neugeburtsstätte, hervor. Als Goethes „Götz“ erschien, jubelte es auf: „das ist deutsch!“ Und der sich erkennende Deutsche verstand es nun auch, sich und der Welt zu zeigen, was Shakespeare sei, den sein eigenes Volk nicht verstand; er entdeckte der Welt, was die Antike sei, er zeigte dem menschlichen Geiste, was die Natur und die Welt sei. Diese Taten vollbrachte der deutsche Geist aus sich, aus seinem innersten Verlangen, sich seiner bewußt zu werden. Und dieses Bewußtsein sagte ihm, was er zum ersten Male der Welt verkünden konnte, daß das Schöne und Edle nicht um des Vorteils, ja selbst nicht um des Ruhmes und der Anerkennung willen in die Welt tritt[4]: und alles, was im Sinne dieser Lehre gewirkt wird, ist „deutsch“, und deshalb ist der Deutsche groß; und nur, was in diesem Sinne gewirkt wird, kann zur Größe Deutschlands führen.

Zur Pflege des deutschen Geistes, zur Größe des deutschen Volkes kann daher nichts führen als sein wahrhaftes Verständnis von seiten der Regierenden. Das deutsche Volk hat seine Wiedergeburt, die Entwicklung seiner höchsten Fähigkeiten, durch seinen konservativen Sinn, sein inniges Haften an sich, seiner Eigentümlichkeit erreicht: es hat für das Bestehen seiner Fürsten sich dereinst verblutet. Es ist jetzt an diesen, dem deutschen Volke zu zeigen, daß sie zu ihm gehören; und da, wo der deutsche Geist die Tat der Wiedergeburt des Volkes vollbrachte, da ist der Bereich, auf welchem zunächst auch die Fürsten sich dem Volke neu vertraut zu machen haben. Es ist die höchste Zeit, daß die Fürsten sich zu dieser Wiedertaufe wenden: die Gefahr, in welcher die ganze deutsche Öffentlichkeit steht, habe ich angedeutet. Wehe uns und der Welt, wenn diesmal das Volk gerettet wäre, aber der deutsche Geist aus der Welt schwände!

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Die „Demokratie“ ist in Deutschland ein durchaus übersetztes Wesen. Sie existiert nur in der „Presse“, und was diese deutsche Presse ist, darüber muß man sich eben klar werden. Das Widerwärtige ist nun aber, daß dem verkannten und verletzten deutschen Volksgeiste diese übersetzte französisch-jüdisch-deutsche Demokratie wirklich Anhalt, Vorwand und eine täuschende Umkleidung entnehmen konnte. Um Anhang im Volke zu haben, gebärdete sich die „Demokratie“ deutsch und „Deutschtum“, „deutscher Geist“, „deutsche Redlichkeit“, „deutsche Freiheit“, „deutsche Sittlichkeit“ wurden nun Schlagwörter, die niemanden mehr anwidern konnten als den, der wirkliche deutsche Bildung in sich hatte, und nun mit Trauer der sonderbaren Komödie zusehen mußte, wie Agitatoren aus einem nichtdeutschen Volksstamme für ihn plädierten, ohne den Verteidigten auch nur zu Worte kommen zu lassen. Die erstaunliche Erfolglosigkeit der so lärmenden Bewegung von 1848 erklärt sich leicht aus diesem seltsamen Umstande, daß der eigentliche wahrhafte Deutsche sich und seinen Namen so plötzlich von einer Menschenart vertreten fand, die ihm ganz fremd war. Während Goethe und Schiller den deutschen Geist über die Welt ergossen, ohne vom „deutschen“ Geiste auch nur zu reden, erfüllen diese demokratischen Spekulanten alle deutschen Buch- und Bilderläden, alle sogenannten „Volks-“ d. h. Aktien-Theater, mit groben, gänzlich schalen und nichtigen Bildungen, auf welchen immer die anpreisende Empfehlung „deutsch“ und wieder „deutsch“ zur Verlockung für die gutmütige Menge aufgeklext ist. Und wirklich sind wir so weit, das deutsche Volk damit bald gänzlich zum Narren gemacht zu sehen: die Volksanlage zu Trägheit und Phlegma wird zur phantastischen Selbstgefallsucht verführt; bereits spielt das deutsche Volk zum großen Teil in der beschämenden Komödie selbst mit, und nicht ohne Grauen kann der sinnende deutsche Geist jenen törigen Festversammlungen mit ihren theatralischen Aufzügen, albernen Festreden und trostlos schalen Liedern sich zuwenden, mit denen man dem deutschen Volke weismachen will, es sei etwas ganz Besonderes und brauche gar nicht erst etwas werden zu wollen.

So weit der frühere Aufsatz aus dem Jahre 1865. Er leitete auf das Projekt hin, die darin ausgesprochenen Tendenzen von einer zu gründenden politischen Zeitung vertreten zu sehen.

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Gewiß waren es aber auch andere Gründe, welche mich von einer weiteren Ausarbeitung des Begonnenen abbrachten. – „Was ist deutsch?“ – Ich geriet vor dieser Frage in immer größere Verwirrung. Was diese nur steigern konnte, waren die Eindrücke der ereignisvollen Jahre, welche der Zeit folgten, in der jener Aufsatz entstand. Welcher Deutsche hätte das Jahr 1870 erlebt, ohne in ein Erstaunen über die Kräfte zu geraten, welche hier, wie plötzlich, sich offenbarten, sowie über den Mut und über die Entschlossenheit, mit welcher der Mann, der ersichtlich etwas kannte, was wir alle nicht kannten, diese Kräfte zur Wirkung brachte? – Über manches Anstößige war da hinwegzusehen. Die wir, mit dem Geiste unsrer großen Meister im Herzen, dem physiognomischen Gebaren unsrer todesmutigen Landsleute im Soldatenrocke lauschend zusahen, freuten uns herzlich über das „Kutschkelied“[5] und waren von der „festen Burg“ vor, sowie dem „nun danket alle Gott“ nach der Schlacht, tief ergriffen. Freilich fiel es gerade uns schwer zu begreifen, daß die todesmutige Begeisterung unsrer Patrioten sich immer wieder nur an der „Wacht am Rhein“ stärke; ein ziemlich flaues Liedertafelprodukt, welches die Franzosen für eines dergleichen Rheinweinlieder hielten, über welche sie sich früher schon lustig gemacht hatten. Aber genug, mochten sie immer spotten, so konnte diesmal doch selbst ihr „allons enfants de la patrie“ gegen das „lieb Vaterland, kannst ruhig sein“ nicht aufkommen und verhindern, daß sie tüchtig geschlagen wurden. – Bei der Rückkehr unseres siegreichen Heeres ließ ich in Berlin unter der Hand nachfragen, ob, wenn eine große Totenfeier für die Gefallenen in Aussicht genommen wäre, mir gestattet sein würde, ein dem erhabenen Vorgange zu widmendes Tonstück zur Ausführung hierbei zu verfassen. Es hieß aber, bei der so erfreulichen Rückkehr wünsche man sich keine peinlichen Eindrücke noch besonders zu arrangieren. Ich schlug, immer unter der Hand, ein anderes Musikstück vor, welches den Einzug der Truppen begleiten und in welches schließlich, etwa beim Defilieren vor dem siegreichen Monarchen, die im preußischen Heere so gutgepflegten Sängerkorps mit einem volkstümlichen Gesange einfallen sollten. Allein dies hätte bedenkliche Änderungen in den längst voraus getroffenen Dispositionen veranlaßt, und mein Vorschlag ward mir abgeraten. Meinen „Kaisermarsch“ richtete ich für den Konzertsaal ein: dahin möge er nun passen, so gut er kann! – Hierbei hatte ich mir jedenfalls zu sagen, daß der auf den Schlachtfeldern neu erstandene „deutsche Geist“ nicht nach den Einfällen eines wahrscheinlich für eitel geltenden Opernkomponisten zu fragen habe. Jedoch auch verschiedene andere Erfahrungen bewirkten, daß es mir allmählich im neuen „Reiche“ sonderbar zu Mute wurde, so daß ich, als ich den letzten Band meiner gesammelten Schriften redigierte, wie dies oben schon von mir bemerkt ward, meinen Aufsatz über: „was ist deutsch?“ fortzusetzen keine rechte Anregung finden konnte.

Als ich mich einmal über den Charakter der Aufführungen meines „Lohengrin“ in Berlin aussprach, erhielt ich von dem Redakteur der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ eine Zurechtweisung in dem Sinne, daß ich den „deutschen Geist“ doch nicht allein gepachtet zu haben glauben sollte. Ich merkte mir das und gab die Pacht auf. Dagegen freute ich mich, als eine gemeinsame deutsche Reichsmünze hergestellt wurde, und namentlich auch, als ich erfuhr, daß sie so original-deutsch ausgefallen sei, daß sie zu keiner Münze der anderen großen Weltstaaten stimme, sondern bei „Frank“ und „Schilling“ dem „Kurs“ ausgesetzt bleibe: man sagte mir, das sei allerdings schikanös für den gemeinen Verkehr, aber sehr vorteilhaft für den Bankier. Auch hob sich mein deutsches Herz, als wir liberaler Weise für „Freihandel“ stimmten: es war und herrscht zwar viel Not im Lande; der Arbeiter hungert und die Industrie siecht: aber das „Geschäft“ geht. Für das „Geschäft“ im allergrößten Sinne hat sich ganz neuerdings ja auch der Reichs-„Makler“ eingefunden, und gilt es der Anmut und Würde allerhöchster Vermählungsfeierlichkeiten, so führt der jüngste Minister mit orientalischem Anstande den Fackeltanz an.

Dies alles mag gut und dem neuen deutschen Reiche recht angemessen sein, nur vermag ich es mir nicht mehr zu deuten, und glaube mich zur weiteren Beantwortung der Frage: „was ist deutsch?“ für unfähig halten zu müssen. Sollte uns da nicht z. B. Herr Konstantin Frantz[6] vortrefflich helfen können? Gewiß wohl auch Herr Paul de Lagarde?[7] Mögen diese sich als freundlichst ersucht betrachten, zur Belehrung unsres armen Bayreuther Patronatvereines sich der Beantwortung der verhängnisvollen Frage anzunehmen. Gelangten sie dann etwa bis zu dem Gebiete, auf welchem wir im voranstehenden Aufsatze Sebastian Bach in Augenschein zu nehmen hatten, so würde ich dann vielleicht wieder meinen erwünschten Mitarbeitern die Mühe abnehmen können. Wie schön, wenn ich bei den angerufenen Herren Beachtung fände!

Anmerkungen

[1] Hans von Wolzogen (1848–1938).
[2] Carl Hermann Bitter, Johann Sebastian Bach, Berlin, 1865.
[3] Der Dresdener Hofkomponist Johann Adolf Hasse (1699–1783) und besonders seine Frau, die berühmte Sängerin Faustina Bordoni, haben das Vielfache von Bachs Gehalt verdient.
[4] „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen treiben“—Wagners Wendung in Deutsche Kunst und deutsche Politik (1867) ist im Dritten Reich zum geflügelten Wort geworden.
[5] Berliner Gassenhauer.
[6] Konstantin Frantz (1817–1891), politischer Schriftsteller und Befürworter des Föderalismus. Seine gegenüber dem Bismarckreich skeptische Haltung hat Wagner nachhaltig beeinflußt.
[7] Paul de Lagarde (1827–1891), Orientalist und Verfechter eines deutschen Christentums. Trotz der Aufforderung Wagners hat er, im Unterschied zu K. Frantz, an den Bayreuther Blättern nicht mitgewirkt.

Quelle: Richard Wagner, Was ist deutsch? (1865/1878); abgedruckt in Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, Hrsg. Tibor Kneif. Berlin: Rogner & Bernhard Verlag, 1975, S. 81–103.