Kurzbeschreibung

Obwohl die dynastischen Grundlagen des deutschen Kaiserreichs bis Anfang Januar 1871 bereits vereinbart worden waren, scheiterte das Vorhaben in letzter Minute beinahe am Widerstand des designierten Kaisers, König Wilhelm I. von Preußen (reg. 1861–1888). In den letzten Stunden vor der Zeremonie im Palast zu Versailles, wo er zum Deutschen Kaiser ausgerufen wurde, lehnte Wilhelm die Unterordnung des preußischen Königtums unter die Kaiserkrone ab. Als König von Preußen, so Wilhelms Ansicht, genoss er mehr Ansehen unter den europäischen Monarchen als ihm dies als deutscher Kaiser je möglich sein werde. Zudem wollte Wilhelm kein Primus inter Pares unter den anderen deutschen Herrschern sein; er hielt beharrlich an dem Gedanken fest, er würde tatsächlich Kaiser „von“ Deutschland werden. Sein Widerstand wurde nicht durch Bismarcks spitzfindige Argumentation ausgeräumt, sondern durch ziemlich eigenmächtige Winkelzüge und—im letzten Moment—durch die geschickte vollständige Auslassung des Wortes „Deutschland“ durch den Großherzog von Baden. Wilhelm war von diesen Streitereien so überreizt, dass er kurz vor der Zeremonie in Tränen ausbrach und seinen treuen Minister bewusst ignorierte, als er nach der Krönung vom Podium stieg. Diese Brüskierung schloss jedoch eine enge Zusammenarbeit der beiden Männer bis zu Wilhelms Tod 1888 nicht aus. Wie bei den dramatischen Ereignissen am 18. Januar 1871 wurde diese Kooperation fast immer von Bismarcks Vorgaben bestimmt.

Schlusskonsultationen vor der Kaiserproklamation (17.–18. Januar 1871)

  • Otto von Bismarck

Quelle

Eine neue Schwierigkeit erhob Se. Majestät bei der Formulierung des Kaisertitels, indem er, wenn schon Kaiser, Kaiser von Deutschland heißen wollte. In dieser Phase haben der Kronprinz, der seinen Gedanken an einen König der Deutschen längst fallengelassen hatte, und der Großherzog von Baden mich, jeder in seiner Weise, unterstützt, wenn auch keiner von beiden der zornigen Abneigung des alten Herrn gegen den „Charaktermajor“ offen widersprach. Der Kronprinz unterstützte mich durch passive Assistenz in Gegenwart seines Herrn Vaters und durch gelegentliche kurze Äußerungen seiner Ansicht, die aber meine Gefechtsposition dem Könige gegenüber nicht stärkten, sondern eher eine verschärfte Reizbarkeit des hohen Herrn zur Folge hatten. Denn der König war noch leichter geneigt, dem Minister als seinem Herrn Sohne Konzessionen zu machen, in gewissenhafter Erinnerung an Verfassungseid und Ministerverantwortlichkeit. Meinungsverschiedenheiten mit dem Kronprinzen faßte er von dem Standpunkte des pater familias auf.

In der Schlußberatung am 17. Januar lehnte er die Bezeichnung Deutscher Kaiser ab und erklärte, er wolle Kaiser von Deutschland oder gar nicht Kaiser sein. Ich hob hervor, wie die adjektivische Form Deutscher Kaiser und die genitivische Kaiser von Deutschland sprachlich und zeitlich verschieden seien. Man hätte Römischer Kaiser, nicht Kaiser von Rom gesagt; der Zar nenne sich nicht Kaiser von Rußland, sondern Russischer, „gesamtrussischer“ (wserossiski) Kaiser. Das letztere bestritt der König mit Schärfe, sich darauf berufend, daß die Rapporte seines russischen Regiments Kaluga stets „pruskomu“ adressiert seien, was er irrtümlich übersetzte. Meiner Versicherung, daß die Form der Dativ des Adjectivums sei, schenkte er keinen Glauben und hat sich erst nachher von seiner gewohnten Autorität für russische Sprache, dem Hofrat Schneider, überzeugen lassen. Ich machte ferner geltend, daß unter Friedrich dem Großen und Friedrich Wilhelm II. auf den Talern Borussorum, nicht Borussiae rex erscheine, daß der Titel Kaiser von Deutschland einen landesherrlichen Anspruch auf die nichtpreußischen Gebiete involviere, den die Fürsten zu bewilligen nicht gemeint wären; daß in dem Schreiben des Königs von Bayern in Anregung gebracht sei, daß die „Ausübung der Präsidialrechte mit Führung des Titels eines Deutschen Kaisers verbunden werde“; endlich, daß derselbe Titel auf Vorschlag des Bundesrates in die neue Fassung des Artikels 11 der Verfassung aufgenommen sei.

Die Erörterung ging über auf den Rang zwischen Kaisern und Königen, zwischen Erzherzogen, Großherzogen und preußischen Prinzen. Meine Darlegung, daß den Kaisern im Prinzip ein Vorrang vor Königen nicht eingeräumt werde, fand keinen Glauben, obwohl ich mich darauf berufen konnte, daß Friedrich Wilhelm I. bei einer Zusammenkunft mit Karl VI., der doch dem Kurfürsten von Brandenburg gegenüber die Stellung des Lehnsherrn hatte, als König von Preußen die Gleichheit beanspruchte und durchsetzte, indem man einen Pavillon erbauen ließ, in den die beiden Monarchen von den entgegengesetzten Seiten gleichzeitig eintraten, um einander in der Mitte zu begegnen.

Die Zustimmung, welche der Kronprinz zu meiner Ausführung zu erkennen gab, reizte den alten Herrn noch mehr, so daß er auf den Tisch schlagend sagte: „und wenn es so gewesen wäre, so befehle ich jetzt, wie es sein soll. Die Erzherzoge und Großherzoge haben stets den Vorrang vor den preußischen Prinzen gehabt, und so soll es ferner sein.“ Damit stand er auf, trat an das Fenster, den um den Tisch Sitzenden den Rücken zuwendend. Die Erörterung der Titelfrage kam zu keinem klaren Abschluß; indessen konnte man sich doch für berechtigt halten, die Zeremonie der Kaiserproklamation anzuberaumen, aber der König hatte befohlen, daß nicht von dem Deutschen Kaiser, sondern von dem Kaiser von Deutschland dabei die Rede sei.

Diese Sachlage veranlaßte mich, am folgenden Morgen, vor der Feierlichkeit im Spiegelsaale, den Großherzog von Baden aufzusuchen als den ersten der anwesenden Fürsten, der voraussichtlich nach Verlesung der Proklamation das Wort nehmen würde, und ihn zu fragen, wie er den neuen Kaiser zu bezeichnen denke. Der Großherzog antwortete: „Als Kaiser von Deutschland, nach Befehl Sr. Majestät.“ Unter den Argumenten, welche ich dem Großherzoge dafür geltend machte, daß das abschließende Hoch auf den Kaiser nicht in dieser Form ausgebracht werden könne, war das durchschlagendste meine Berufung auf die Tatsache, daß der künftige Text der Reichsverfassung bereits durch einen Beschluß des Reichstags in Berlin präjudiziert sei. Die in seinen konstitutionellen Gedankenkreis fallende Hinweisung auf den Reichstagsbeschluß bewog ihn, den König noch einmal aufzusuchen. Die Unterredung der beiden Herren blieb mir unbekannt, und ich war bei Verlesung der Proklamation in Spannung. Der Großherzog wich dadurch aus, daß er ein Hoch weder auf den Deutschen Kaiser noch auf den Kaiser von Deutschland, sondern auf den Kaiser Wilhelm ausbrachte. Se. Majestät hatte mir diesen Verlauf so übelgenommen, daß er beim Herabtreten von dem erhöhten Stande der Fürsten mich, der ich allein auf dem freien Platze davor stand, ignorierte, an mir vorüberging, um den hinter mir stehenden Generälen die Hand zu bieten, und in dieser Haltung mehrere Tage verharrte, bis allmählich die gegenseitigen Beziehungen wieder in das alte Geleise kamen.

Quelle: Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, herausgegeben von Horst Kohl, 3 Bde. Stuttgart: J. G. Cotta, 1898, Bd. 2 (Kapitel 23: Versailles), S. 119–22. Online verfügbar unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN816111677. Abgedruckt in Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, mit einem Essay von Lothar Gall. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, S. 360–62.