Kurzbeschreibung

Paul Göhre (1864–1928) war ein protestantischer Pastor und Sozialreformer, der drei Monate verdeckt als Arbeiter in der Industriestadt Chemnitz verbrachte, um die Erfahrungen und Einstellungen der Männer und Frauen aus der Arbeiterklasse zu untersuchen. Er veröffentlichte seine Beobachtungen in dem Buch Dreieinhalb Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. In dem hier in Auszügen vorgestellten Abschnitt beschreibt Göhre die Reaktionen seiner Arbeitskollegen auf Bismarcks Sozialpolitik. Viele Arbeiter glaubten, dass nur ein geringer Teil der Arbeiter von der Alters- und Invaliditätsversicherung profitieren würden. Andere befürworteten das neue Vorhaben entschieden. Im Gegensatz zu denen, die meinten, die Sozialdemokratie sei häretisch und müsse gewaltsam erstickt werden, stellt Göhre fest, dass die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen nicht immer durch Konflikt gekennzeichnet waren, und dass einfache Sozialdemokraten das Für und Wider der staatlichen Unterstützung auf vernünftige Weise diskutieren konnten.

Sozialdemokraten diskutieren über die staatliche Sozialversicherungspolitik (1890)

  • Paul Göhre

Quelle

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Aus der breiten Masse der bisher geschilderten Durchschnittssozialdemokraten hob sich nun meiner Beobachtung noch eine besonders bedeutsame Gruppe ab, deren Zahl, wie ich zu vermuten manche gute Gründe habe, heute überall in stetigem Wachsen ist. Es waren gerade die besonders klugen, praktischen, verständigen, ernsten und gebildeten Leute, Männer mittlern Alters, die sich auch mit den weitergehenden sozialdemokratischen wirtschaftlichen und politischen Problemen nicht ohne Verständnis beschäftigt hatten, und ihnen, wenn auch mit Kritik, doch teilweise gerade besonders stark huldigten, die aber trotzdem von der rein politischen Agitationsarbeit der Partei nichts oder nicht viel hielten und darum, thatenlustig wie sie waren, sich auf die näher liegende, unmittelbare, praktische Erfolge und mehr Befriedigung versprechende Arbeit in den Fach- und Gewerkvereinen, in den Komitees der Kranken- und Unfallversicherungskassen, der freien Hilfskassen und vor allem auch auf die Thätigkeit innerhalb ihrer lokalen politischen Gemeinde geworfen hatten; natürlich immer mit der festen Absicht, diese Arbeit im Sinne der sozialdemokratischen Grundsätze und selbstverständlich zu Nutzen und Frommen der sozialdemokratischen, der Arbeiterinteressen zu thun. Aber indem sie sie thaten, waren sie – mochten sie noch so sehr sozialdemokratische Gesinnung dabei durchdrücken wollen – doch gezwungen, mit realen Thatsachen zu rechnen, reale Ziele verfolgen zu lernen. Diese realen Thatsachen und Ziele beginnen zu interessieren; sie treten vor den problematischen und fern hinausliegenden der Gesamtpartei voran und erziehen so diese Männer, die dabei meist immer noch überzeugte Sozialdemokraten bleiben, zu wahrhaft praktischer politischer und sozialer Thätigkeit. Damit ist aber ein wirksames Gegengewicht zu den Träumereien und Utopienjagden geschaffen, denen sie früher ausschließlich nachhingen und nachgingen, wenn sie ihren politischen Menschen anzogen; dadurch wird hoffentlich auch mit die Gefahr vermieden, daß die Sozialdemokratie zu einer kindlichen, nie wirkliche Reformen erzwingenden Schattenpartei wird und sich lächerlich macht.

Diese Erfahrung, die ich da eben ausführte, und für die ich auch besonders aus der aufmerksamen Verfolgung der jüngsten Entwicklung der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung ausreichende Beweise bringen könnte, machte ich in besonders klarer und überraschender Weise z. B. einmal in einer Sitzung unsers sozialdemokratischen Wahlvereins. Hier trug an diesem Abend der damalige, jetzt auch abgedrückte Redakteur der Chemnitzer sozialdemokratischen „Presse“, wie ich glaube eine ehrliche Seele, über die damals noch nicht in Kraft getretene Alters- und Invaliditätsversicherung vor, zunächst hauptsächlich zur Orientierung der Genossen. Es war eine im großen und ganzen durchaus sachlich gehaltene Rede. Sie gipfelte in der doppelten Behauptung, daß das neue Gesetz in der That vielfach noch mangelhaft sei, und daß es jedenfalls nicht die durchgreifende Hilfe für die Arbeiterschaft und die Lösung der sozialen Probleme sei, daß man sich aber dennoch nicht abschrecken lassen dürfte, sondern nun zunächst einmal das Angebotene annehmen, aber zugleich wacker an der allmählichen Verbesserung dieses Gesetzes mitarbeiten sollte. Man sollte, so schloß er, endlich einmal mit dem ganz überflüssigen Räsonnieren und Schnauzen aufhören. Trotz allem steckte in der Arbeiterversicherung ein guter Kern, den immer mehr herauszuschälen die Hauptaufgabe wäre. Er gab damit mutvoll wohl einer Meinung Ausdruck, die vielfach unter den Arbeitsgenossen verbreitet war, sich aber nur selten und schüchtern ans Tageslicht wagte, nachdem die offizielle Sozialdemokratie ihr Verdikt über die heutige Versicherungsgesetzgebung ausgesprochen hat. Denn man empfindet heute schon dankbar, wenn auch als etwas Selbstverständliches die bereits deutlich spürbaren Wohlthaten des Gesetzes. Wenn man irgendwie über sie klagte, so betraf das nach meiner Beobachtung immer nur einzelne Mängel, wie die dreitägige Karenzzeit zu Anfang einer jeden Krankheit, oder Mißstände, die sich in der Verwaltung herausstellten, und an denen oft nur die an ihrer Spitze stehenden Personen die Schuld hatten. So erzürnte ein Fall, den ich gelegentlich des Besuches eines meiner erkrankten Arbeitsgenossen erfuhr, ihn und seine Familie besonders sehr. Es handelte sich da um eine Böhmin, die, des Deutschen nicht mächtig, bei dieser Familie im vergangnen Sommer in Schlafstelle gewesen war und auf einem Bau, wie das in Chemnitz sehr Sitte war, in Arbeit stand. Diese wurde krank. Der herbeigerufene Arzt aber suchte sie, anstatt sie zu behandeln, schleunigst in ihre Heimat zu ihren wohlhabenden Eltern abzuschieben. Ihrer Wirtin, die sie treulich pflegte, fiel das auf, sie spürte der Sache nach, und es stellte sich heraus, daß die Böhmin sowohl wie eine ganze Reihe ihrer Arbeitsgenossinnen überhaupt nicht bei der Krankenkasse angemeldet waren: Bauunternehmer und Krankenkassenarzt hätten, wie meine Gewährsmännin, die ich übrigens nicht auf die Wahrheit ihrer Erzählung kontrollieren konnte, behauptete, in gleicher Weise Schuld und – Profit daran.

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Genau dieselbe freundliche Gesinnung zu den Versicherungsgesetzen kam nun auch in jener Sitzung unsers Wahlvereins unter den zahlreichen Anwesenden zum erfreulichen Ausdruck. Zwar – ich wiederhole das nachdrücklich – fehlten auch gegnerische Stimmen, die sich ganz in den offiziellen Urteilen der sozialdemokratischen Fraktion über die Gesetze ergingen, nicht. Aber die Meinung des Vortragenden war doch auch diejenige der Majorität. Die ganze lange Debatte spitzte sich schließlich zu einer hartnäckigen Kontroverse zwischen diesem und seinen Gesinnungsgenossen einerseits und den wenigen Verfechtern der Sache der sozialdemokratisch geleiteten freien Hilfskassen andrerseits zu. Unter diesen befand sich einer, der sie besonders deshalb so eifrig verteidigte, weil er nach seinen Erfahrungen in einem kleinen erzgebirgischen Industrieorte meinte, daß in den offiziellen Kassen sich die gewählten Arbeitervertreter in devoter schweigender Abhängigkeit von den mit im Komitee sitzenden Arbeitgebern befänden und sich von diesen als stummes Stimmvieh widerspruchslos zu deren Gunsten und Vorteil mißbrauchen ließen. Dem widersprachen nun besonders die in solchen gemischten Kommissionen oft schon sehr lange, seit dem Inkrafttreten der Gesetze sitzenden Genossen mit aller Entschiedenheit. Sie nahmen für sich die Anerkennung dafür in Anspruch, daß sie sich thatsächlich niemals hätten in der oben angegebnen Weise mißbrauchen lassen, vielmehr, wo immer es möglich und nötig gewesen sei, aufs energischste und in echt sozialdemokratischer Gesinnung und Mannhaftigkeit die Interessen ihrer Leute wahrgenommen hätten. Und immer mit gutem Erfolge. „Wenn man in Streitfällen den mit uns zusammensitzenden Arbeitgebern nur ordentlich mit Gründen kommt, dann haben sie meist Einsicht und gehen mit uns, gegen ihre eignen Kollegen.“ „Ja es ist“, so führt ein besonders gewandter und, wie es schien, hierin viel erfahrener, ungemein kluger Redner aus, „es ist vorgekommen, daß wir gegen Zubilligung von Schadenersatz bei Unfällen, die Arbeitgeber für einen solchen gestimmt haben. Aber freilich, man muß überlegen, muß immer sachlich bleiben und gerecht und billig urteilen. Dann aber thun es jene, wenigstens viele von ihnen auch. Und dann sind die Gesetze eine Wohlthat, und es kann viel mit ihnen, viel mehr als durch die freien Hilfskassen erreicht werden. Trotzdem müssen wir freilich immer mehr an ihnen zu bessern, immer mehr für uns herauszuschlagen suchen, auch unsre sozialdemokratische Gesinnung bewahren. Aber das ist auch durchaus möglich. Nur die offiziellen, nicht die freien Hilfskassen sind, wie nun einmal die Dinge liegen, lebensfähig und haben die Zukunft; es ist Thorheit, wenn wir das nicht ausnutzen wollten.“ Und in derselben Weise sekundierten mehrere andre. Die Debatte wurde so lebhaft und heftig, daß sie noch gegen zwölf Uhr nicht zu Ende gehen wollte, und daß, als die Sitzung geschlossen wurde, sie auf dem Nachhausewege zwischen den besonders stark in sie verwickelt gewesenen wieder aufgenommen wurde und sich an der Straßenecke, an der ich meine Wohnung hatte, und wo die Streitenden auseinander gehen mußten, wohl noch eine halbe Stunde lang fortspann. Das besonders Wertvolle an diesem Erlebnis ist für mich erstens dies, daß sich hier in der That einmal wieder in einem bestimmten Fall ein wirkliches Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitern und Arbeitgebern zeigte, und dann, daß hier Sozialdemokraten um wirklich praktische Fragen stritten und dafür eintraten.

Quelle: Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. Leipzig: Grunow, 1891, S. 130–34. Online verfügbar unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN1701936127.