Kurzbeschreibung

In den 1880er und 1890er Jahren war die Prostitution ein viel diskutiertes Thema. Mitglieder der aus dem Bürgertum hervorgehenden Sittlichkeitsvereine warfen der Arbeiterklasse moralischen Verfall vor. Paul Göhre (1864–1928), ein protestantischer Pastor und Sozialreformer, verbrachte drei Monate als Fabrikarbeiter in Chemnitz, um das Arbeiterdasein zu erleben und Klassen- sowie Geschlechterbeziehungen zu untersuchen. Er veröffentlichte seine Erkenntnisse in einem Buch mit dem Titel Dreieinhalb Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. In diesem Auszug präsentiert Göhre seine Wahrnehmung der Sexualmoral seiner Mitarbeiter. Er beschreibt subtile (und weniger subtile) Abstufungen in ihrem Moralverhalten—so unterscheidet er beispielsweise zwischen „billigen Huren“ und „feineren Huren.“ Göhre wirft außerdem den männlichen Arbeitern schlechte Behandlung ihrer Frauen vor.

Die Sexualmoral der Frauen aus der Arbeiterklasse: Aus männlicher Sicht (1890)

  • Paul Göhre

Quelle

Nun ein Wort über die Tanzböden. Ich habe fast jeden Sonntag einen oder mehrere, im ganzen acht bis zehn besucht. Es giebt feinere und gewöhnliche. Der schlimmste, den ich kennen lernte, war die „Kaiserkrone“ in Chemnitz, vom Volke sehr bezeichnend der „blutige Knochen“ genannt. Denn hier gehörte Keilerei und Tanzvergnügen wie in jenem Gassenhauer wirklich zusammen. Hier verkehrte das ärgste Gesindel, Huren und Fabrikdirnen niedrigster Sorte und ihre Zuhälter mit jungen Fabrikarbeitern und vielen Soldaten der Chemnitzer Garnison. Ich mache hierauf nachdrücklich aufmerksam, und mache es den Militärbehörden hiermit zur ernsten Pflicht, darauf zu achten, daß künftig nicht bloß sozialdemokratisch-anrüchige, sondern vor allem auch solche sittlich verwahrlosende Lokale den Soldaten verboten werden. Ein Mensch in anständiger Kleidung, allein, bleibt hier selten ganz unbehelligt. Ich war mit einem Arbeitskollegen etwa eine knappe Stunde dort. Und wie viele male sind wir in dieser kurzen Zeit trotz unsers unauffälligen Sonntagsgewandes namentlich von den Weibern mit ihren frechen Gesichtern in der unflätigsten Weise und mit allen ihren Körperteilen angerempelt worden! Da muß man denn schließlich entweder so wie sie selbst mittollen und mit gemein sein, oder man bekommt Händel und darauf Schläge. Wir gingen beiden Möglichkeiten zeitig genug aus dem Wege, indem wir uns wieder entfernten. Beim Ausgang traf uns der junge Wirt und fragte uns, warum wir schon wieder gehen wollten, ob es uns nicht gefallen habe. Wir murmelten einige Worte der Antwort, und darauf sagte der Mann ganz stolz: Ja unter meinem Vater war der Saal tüchtig herunter; aber Gott sei Dank, jetzt habe ich ihn wieder in Schwung und in die Höhe gebracht.

Das Gegenteil von diesem Saale war das „Kolosseum“ in Kappel. Es war der vornehmste von allen, die ich gesehen habe, durch die Ausstattung und den Umfang des Saales, die Musik, die da aufspielte, das Publikum, das ihn besuchte. Hier fanden sich nicht nur die gutgelohnten jungen Schlosser und Dreher unsrer Fabrik, sondern viele junge Kaufleute und auch – wie man mir versicherte – Referendare und Offiziere in Zivil zusammen. Und vom weiblichen Geschlecht traf man allerhand Ladenmädchen und Verkäuferinnen, aber auch „feinere“ Huren, dagegen wenig Dienst- und Fabrikmädchen. Es ging wirklich beinahe wie auf einem Balle zu. Die Damen in modernster, oft kostbarer, fast immer geschmackvoller Toilette, und viele schöne Menschenkinder unter ihnen; die Herren meist in ebenso eleganten Anzügen, wenn auch nicht in Schwarz und Frack; alle zusammen in ihren Haltungen, Bewegungen und Verbeugungen gewandt und voll jugendlicher Elastizität. Die Fabrikarbeiter unterschieden sich kaum von den andern, nur durch den Mangel eines Klemmers auf der Nase und durch ihre größern, härtern, rauhern Hände. Denn niemand trug Handschuhe, was manche der Damen veranlaßte, ihren Herren beim Tanz mit stummer, aber verständnisvoller Gebärde ihr Taschentuch zu bieten, damit die schwitzende Hand des Tänzers, die die Taille umfaßt, das Kleid nicht beschmutzte.

Die übrigen Säle, die ich sonst sah, standen nach dem äußern Eindruck, den sie machten, etwa in der Mitte zwischen beiden. Meist waren es Vorortssäle mit halb städtischem und halb ländlichem Charakter und ebensolchem halb städtischen halb ländlichen Publikum. Hier mischten sich unter die modischen Toiletten der zur Stadt hereinkommenden Fabrikarbeiter und Arbeiterinnen noch die unschönen Kostüme unsrer Dorfbewohner; hier waren die Mädchen mitunter noch im Kopftuch und mit vorgebundener schöner bunter Schürze. Auch die Musik war primitiver, der Eintrittspreis niedriger, nur 25 Pfennige etwa, während er in dem Kappeler Saale, wenn ich mich recht entsinne, 50 Pfennige betrug. Natürlich kostete hier wie dort noch jeder Tanz, den man tanzte, seine Extrasteuer, immer 10 Pfennige. So gab einer leicht am Abend 3 bis 4 Mark nur für das bloße Tanzvergnügen aus. Auch der Ton, der auf diesen Sälen herrschte, war freier als auf jenem. Man sang laut Lieder zu den Weisen, die die Musikanten aufspielten, man juchzte und rief laut über die Köpfe und den Saal hinweg. Manchmal war ein dichtes Gedränge und eine unausstehliche Hitze, daß der Schweiß nur so von der Stirne rann, und Glas auf Glas getrunken wurde. Aber dann wars am schönsten und die Freude am größten.

In den bessern Sälen ging es auch in diesem, aber auch nur in diesem Sinne anständiger zu. Da scherzte und lachte und tollte man sich denn an den einzelnen Tischen, im kleinern Kreise der Bekannten, in den Ecken und Nischen des Saales und auf den Galerien umso mehr aus. Da koste und umschlang und drückte man sich. Und hier wie dort, lachende, glühende, oft schöne Gesichter, leuchtende, lebensprühende Augen, kräftige Gestalten, volle, frische Formen. Hier wie dort ungebändigte Lust, steigende Erregung, sinnlicher Taumel, der seinen Abschluß und seinen Höhepunkt erreicht, wenn Schlag 12 Uhr die Musik verstummt, der Saal geräumt, die Lichter verlöscht werden. Dann zieht Paar nach Paar einsam von dannen, zu einem Nachtspaziergang ins freie Feld, wo nur die Sterne die Sünde sehn, die man hier begeht, oder bis in Liebchens Hausflur oder gar in Liebchens Wohnung und Bett. Denn das ist nach allen meinen Beobachtungen wenn auch nicht die durchgängige Regel, so doch in den weitaus überwiegenden Fällen der Abschluß jedes sonntäglichen Tanzvergnügens. Auf den Tanzböden, in den Nächten vom Sonntag zum Montag verliert heutzutage unsre Arbeiterjugend nicht nur ihren meist sauer verdienten Lohn, sondern auch ihre beste Kraft, ihre Ideale, ihre Tugend und ihre Keuschheit. Es ist ja auch kein Wunder; es wäre ein Wunder, wenn es anders wäre. Man überlege nur einmal. Während der Woche, Tag um Tag in regelmäßiger Einförmigkeit in der häßlichen Fabrik, bei oft langweiliger Arbeit, in Schmutz und Schweiß; des Mittags ohne behagliche Ruhe; die Abende der Werktage auf der Straße vor der Thür oder im Hofe des Arbeiterhauses oder in der kleinen engen, oft dürftigen Stube des Logiswirts mit Kindergeschrei und Küchendunst; die Nächte in armseligen Schlafstätten; dabei ein leidlicher Verdienst, ohne Kontrolle, ohne Aufsicht, ohne elterliche Fürsorge und Liebe, kurz ohne den segensvollen Einfluß eines starken Familienverbandes, Jugendkraft in den Gliedern, Jugendlust in Kopf und Herzen – und nun kommt der Sonntag mit seinem Ausschlafen, seinem Ausruhn, seiner Freiheit, die ihnen niemand kürzt, deren rechten Gebrauch sie keiner lehrt: da locken die Töne der Musik; da lachen junge frische Mädchengesichter; da strahlt lichter Glanz; da wölben sich die hohen weiten Hallen des schön gemalten Saales; ja hier ist Ersatz für das häßliche Einerlei der Woche, an einem Abend, in einer Nacht hundertfacher Ersatz für die hundert häßlichen Eindrücke der ganzen Woche! Ist es da wirklich noch verwunderlich, wenn sich die Ungebundenen da hineinstürzen in den herrlichen, entzückenden Strudel, ihre Seelen an ihm berauschen, ihr Bestes in ihm verlieren? Ich klage nicht an, ich entschuldige auch nicht, ich schildre nur, wie es in Wahrheit ist, und erkläre, wie es mit Notwendigkeit so kommen muß.

Ich behaupte, daß infolgedes kaum ein junger Mann oder ein junges Mädchen aus der Chemnitzer Arbeiterbevölkerung, das über 17 Jahre alt ist, noch keusch und jungfräulich ist. Der geschlechtliche Umgang, auf den Tanzböden vor allem groß gezogen, ist unter dieser Jugend heute im weitesten Umfange verbreitet. Er gilt einfach als das Natürliche und ganz Selbstverständliche; von dem Bewußtsein, daß man damit eine Sünde begeht, ist selten eine Spur vorhanden. Das sechste Gebot existiert in diesem Sinne da unten nicht. Zwar mit Huren, die sich bezahlen lassen, giebt man sich fast nie ab. Das gilt als Schande, und diese selbst werden verachtet. Aber fast jeder hat seine Liebste und jede ihren Liebsten, die sich mit wenigen Ausnahmen diesen ganz selbstverständlichen Dienst thun. Daneben sucht der junge Mann, wo immer es gerade einmal geht, auch andre Mädchen zu benutzen, die sich ihm dazu hergeben, was wiederum nicht schwer und selten ist. Gleichwohl hat auch die schon einen kleinen Makel in vieler Augen an sich, die sich gleich bei der ersten Bekanntschaft gebrauchen läßt. Mit dieser „geht man“ dauernd wenigstens nicht. Wird eine dann schwanger, so heiratet man sich in der Regel auch, ganz gleich, ob man schon lange oder nur erst wenige Wochen beisammen ist, ob man sich kennt oder nicht, ob man etwas taugt oder nicht, zusammenpaßt oder nicht. So treiben der Zufall, der Geschlechtsgenuß und seine etwaigen Folgen, selten echte Liebe, inneres Bedürfnis und vernünftige Überlegung die jungen Leute in die Ehe zusammen.

Und daraus vor allem erklärt sich mit der Jammer der Arbeiterehen, die Klagen aller, auch der Sozialdemokraten, die es mit den Leuten wirklich gut meinen, darüber, die Sehnsucht nach einer Erhebung, einer Emanzipation des Weibes und das neue sozialdemokratische Ideal von der Ehe. Ich verweise hier auf die Bemerkungen am Schlusse des zweiten Kapitels. Die Frau ist in der That in vieler Männer Augen nichts als das Mittel zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, ein Hindernis für das Fortkommen, höchstens, wenn es gut geht, der tüchtige Haushaltungsvorstand, der energisch auch den Mann im Zaume hat. Die Ehe ist nach der Äußerung mehrerer meiner Arbeitskollegen die „letzte und größte Dummheit, die einer machen kann.“ In manchen Familien ist es ja besser, und zwischen manchen Gatten tritt allmählich sogar einige gegenseitige Achtung und Zuneigung ein. Ja ich fand trotz alledem auch mehrere wirklich schöne, durch ernste Liebe vertiefte Ehen: aber im allgemeinen gilt doch die Thatsache, daß die Frau dort unten von den Männern unendlich viel niedriger geschätzt, viel weniger geachtet, viel schlechter behandelt wird als in den andern Ständen. Sie wird hart gehalten und sehr häufig geschlagen. Dabei fordert der Mann von ihr ehrliche Treue, ohne sich selbst ihr zu einem Gleichen verpflichtet zu fühlen. Auch sonst zeigt sich überall ein großer Mangel des Bewußtseins der gegenseitigen sittlichen Pflichten, die die Ehe vorschreibt.

Quelle: Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. Leipzig: Grunow, 1891, S. 202–7. Online verfügbar unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN1701936127&PHYSID=PHYS_0001&DMDID=.