Kurzbeschreibung

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erregten Fragen der Volksfrömmigkeit und des Kirchenbesuchs die Aufmerksamkeit von Politikern, Sozialreformern und Statistikern, die allesamt für die Unterschiede im Verhalten protestantischer und katholischer Arbeiter sensibilisiert waren. Um das Leben der Arbeiterklasse aus erster Hand kennen zu lernen, verbrachte Paul Göhre (1864–1928), ein protestantischer Pastor und Sozialreformer, drei Monate verdeckt als Fabrikarbeiter in Chemnitz, einer großen Industriestadt im Königreich Sachsen. Seine Beobachtungen veröffentlichte er in dem Buch Dreieinhalb Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. In der folgenden Textpassage beschreibt Göhre die Auffassungen der Arbeiter von Religion. Laut Göhre waren sie der Meinung, die Kirche—insbesondere die protestantische Kirche in Sachsen—ergreife Partei für die Interessen des Staates, für den Kapitalismus und für die Feinde der Juden. Den Arbeitern galt die Kirche als Hindernis für Reformen. Viele sprachen von ihr als einer „Verdummungsanstalt.“ Göhre war offensichtlich entsetzt, dass die Arbeiter inzwischen nicht mehr „das geringste Bewusstsein von Schuld oder Sünde“ hatten. Bei der Beschreibung ihres Argwohns bezüglich kirchlicher Institutionen allerdings legt er zu Unrecht nahe, dass die Arbeiterklasse respektlos oder gleichgültig gegenüber der Religion insgesamt geworden sei.

Das Religionsverständnis der Arbeiter (1890)

  • Paul Göhre

Quelle

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Einmal gegen Ausgang meines Aufenthalts in der Fabrik fragte ich einen direkt, was er von Religion und Christentum hielte. Ich wußte, er war eifriger Sozialdemokrat, aber die Gutmütigkeit und Höflichkeit selbst, ein richtiger Sachse. Er hatte früher im Hause eines Rechtsanwalts gewohnt und dort manches geflickt und ausgebessert. Zum Dank dafür hatte ihm dieser außer seinem pflichtmäßigen Lohn manche Bücher zu lesen gegeben, geographische, naturwissenschaftliche, geschichtliche. Ihre Titel konnte er mir nicht mehr genau angeben. Auf meine offne Frage antwortete der Mann nun gleich offen, ehrlich und kurz: Ich rede wenig von den Sachen und streite mich nie darum. Ich lasse jedem seine Ansicht. Aber ich habe auch meine eigne, und ich denke: Wo man nichts erkennen kann, da ist auch nichts. Damit basta.

Er war liebenswürdiger als ein andrer Gesinnungsgenosse von ihm aus unserm Vorort, übrigens seines Zeichens ein Fabrikwirker, aber mit leidlichem Verdienst. Ich hatte ihn eines Abends im schon erwähnten Turnverein unsers Ortes getroffen. Der Mann war, was man ein „Turngenie“ zu nennen pflegt, mit tadellosem Körperbau und gleicher Muskelbildung, ein schöner, kraftvoller Mann. Ich ging mit ihm am Schlusse der Turnstunde in eine nahe einfache, von uns gern besuchte Kneipe und trank ein Glas Bier mit ihm. Er war auch ein kluger Mensch, fanatischer Anhänger der Kaltwasserheilmethode und der Sozialdemokratie und ein Führer unter der zahlreichen Weberbevölkerung von Chemnitz, die unter wirklichen Notständen seufzte, ohne anscheinend allzuviel Rücksicht bei den Unternehmern zu finden. Er erzählte mir manches aus den Lohnkämpfen, die sie geführt, und in denen er mit in den vordersten Reihen gestanden hätte, ernst, objektiv, mit der epischen Ruhe, die so vielen Leuten im Volke eigen ist. Dann lenkte ich ihn auch auf die religiöse Frage und drängte ihn zu einem Urteil. Es war kurz, bündig und konsequent sozialdemokratisch: Die Kirche ist bloße Verdummungsanstalt und wohlberechnetes Staatsinstitut; aber man soll sie trotzdem nicht beseitigen, sondern nur umwandeln, aber durch und durch. Man soll es dahin bringen, daß sie die Naturwissenschaften dem Volke lehrt und predigt.

Alle bisher Geschilderten gehörten jener zielbewußten, begeisterten, gedankenkräftigen, edeldenkenden, wirklich wahrheitsdurstigen Gruppe meiner sozialdemokratischen Arbeitsgenossen an. Bei aller Ablehnung gegen die Religion, bei aller Geringschätzung der Kirche waren sie gemäßigt in ihrem Urteil, anständig in ihren Äußerungen und mehr oder weniger bemüht, die Stellung derer, die noch glaubten, mehr oder weniger zu würdigen, zu verstehen, zu erklären. Aber es gab eine viel größere Gruppe gleich stark geprägter Sozialdemokraten, die, roher als jene, in der That nur noch Hohn und Spott und Blasphemie für die Heiligtümer unsers Glaubens hatten. Auch bei ihnen war das Stichwort: „Natur ist Gott, Gott ist die Natur.“ Aber sie variierten es gern, manchmal in der unzüchtigsten Form. So saßen solche Kumpane einmal in einer Kneipe zusammen; man kam auch auf solche Dinge zu sprechen und erklärte sie kurzer Hand für Blödsinn, und einer rief aus: „Ach was, unser Gott ist ein strammes Weib.“ Ein lautes Gelächter über den Witz schnitt dann die ganze flüchtige Debatte schnell ab. Andre ähnliche schlimme Dinge, die ich bei andern Gelegenheiten hörte, mag ich nicht hierher setzen.

Vorzüglich war es die Jugend, die vielfach solche Gesinnungen hatte. Hier war von Ernst, von einem Bemühen, auch nur einmal objektiv zu prüfen, am allerwenigsten die Rede. Man war selbstverständlich meist längst über solche Dinge hinweg. Dem einen, einem Thüringer, galt Christentum gleich Antisemitismus, den er als ebenso unnobel wie unberechtigt haßte, und den er, übrigens mit einigem Recht, für das Gegenteil vom Christentum erklärte. Man ginge in die Kirche, machte fromme Gesichter, und im übrigen lebte man doch draußen keinen Deut besser als die andern, Gleichgiltigen, die viel ehrlicher als jene handelten. Ich konnte ihm nur erwidern, was ich dem ersten gesagt hatte. Er war auch still davon aber von jener Gleichung: Christentum ═ Antisemitismus ließ er sich partout nicht abbringen. Übrigens war es schwer, mit ihm darüber überhaupt länger zu reden. Er hielt das offenbar, wie viele, die mir das geradezu ins Gesicht sagten, nicht mehr der Rede wert. Denn „Religion – det wohnt nich mehr unter den Arbeitern“, sagte in gleicher Haltung und Meinung einmal ein andrer junger Bursche, aus Berlins Umgebung gebürtig. Er war mir zu Anfang meines Fabriklebens besonders hochmütig gekommen, als ich ihn meine christliche Gesinnung merken ließ; später verkehrte ich viel und gern mit ihm; er war trotz mancher Berliner Manieren ein kleiner kluger, schneidiger, strebsamer Kerl, der es eben nicht besser wußte und allmählich, der einzige von allen, wirklich durch meinen übrigens von allem Bekehrungsstreben freien Verkehr zu andrer, tieferer, ernsterer Gesinnung über Religion und Christentum, aber wohl kaum zu wirklicher Frömmigkeit gelangte. Ich traf ihn gleich an einem meiner ersten Sonntage nachmittags und ging dann mit ihm spazieren. Unterwegs fragte er mich gelegentlich, was ich am Vormittag gemacht hätte. „Ich war in der Kirche“, antwortete ich. „Dummer Mensch“, war seine Entgegnung. Ich fragte ihn freundlich, wie er dazu käme, so zu reden, und sagte ihm einiges von der Vernünftigkeit meiner religiösen Überzeugungen, und kurz bevor ich für immer von Chemnitz fortging, sagte er mir eines Sonnabends ganz freiwillig, er wollte mit mir morgen in die Kirche gehn, wo es ihm dann auch ganz gut gefiel. Schließlich machte er mir noch eine Liebeserklärung: er wünschte, er könnte immer in solcher Gesellschaft wie der meinen sein, da würde man ein ganz andrer Mensch.

Er war übrigens schon in der besten Gesellschaft von allen. Er bewohnte mit einem Gleichaltrigen, Zwanzigjährigen eine hübsche Stube. Diesen, einen Pommern, hatte er, wenn ich mich recht erinnere, in Berlin kennen gelernt und war mit ihm zusammen nach Chemnitz gewandert. Das war ein stiller, harmloser Mensch aus einer allerdings armen Handwerkerfamilie, einer von den wenigen, die noch Christentum im Leibe hatten, an dem sie nicht rütteln ließen, und von dem alle Gegeneinflüsse wie selbstverständlich wirkungslos abglitten. Der übte einen stummen, aber guten Einfluß auf den Stubengenossen aus.

Eben dieser stille Junge, ebenfalls Schlosser, stand in der Fabrik zwischen zwei gleichaltrigen Handwerkskollegen. Von des einen religiöser Gesinnung weiß ich nicht viel. Er war aus der Gegend von Wurzen bei Leipzig, wo sein Vater in einem ganz kleinen Landstädtchen eine große, gut gehende Schlosserei hatte, und wohin er zurückkehren sollte, wenn er sich in der Welt und den Fabriken umgesehen und sich — ausgetobt hätte. Er zeigte mir einmal eine Flasche mit hellem Trinkwasser lächelnd mit der witzig sein sollenden Bemerkung: „Reines Gotteswort.“ Der andre Nachbar war Typus für den durchschnittlichen jungen Fabrikschlosser und machte tüchtig lebenschön. Ich traf ihn immer des Sonntags auf den Tanzböden mit seinem Mädchen; er wußte, daß er leidlich situierte Eltern hatte. An ihm besonders hatte die glaubenslose Agitation der Sozialdemokratie ihre normale, oben geschilderte Wirkung gethan. Er war nämlich Gevatter eines verheirateten jungen Freundes. Eines Tages war sein Patenkind gestorben, drei Tage nachher, nachmittags 3 Uhr, das Begräbnis. Am andern Tage war er müde und übernächtig. Auf meine Frage darnach erzählte er mir in einem Zuge, daß der Pastor am Grabe schön gesprochen hätte, und daß sie danach den Nachmittag und die Nacht bis morgens 4 Uhr gekneipt und gezecht hätten. Man hätte ja doch einmal freien Nachmittag gehabt. Der Vater des toten Kindes wäre allerdings schon um 10 Uhr aus der Kneipe nach Hause gegangen.

Ein andrer war sein getreues Ebenbild an Alter, Beruf und Gesinnung. Er glaubte an ein „höheres Wesen“, von dem er sich aber nicht die geringste Vorstellung machte, und das ihn völlig gleichgiltig ließ. Er „glaubte“ bloß noch daran, weil das so zum Menschen gehöre. Etwas müßte ihn doch vom Tiere unterscheiden.

Das sind einige Schlaglichter auf die Gesinnung und religiöse Verfassung unsrer jungen erwachsenen Leute; auch sie bewähren schon das frühere Urteil über sie. Ich kehre nun zur Charakteristik der reifern, zielbewußten sozialdemokratischen Männer zurück.

Es war eines Vormittags; ich bohrte seit einigen Tagen krampfhaft mit der Handbohrmaschine in eine hohe starke eiserne Wand eines Rundsägegatters Löcher, die ich mir mit Kreide vorgezeichnet hatte. Da trat ein Monteur, der in der Nähe arbeitete, der älteste von allen neun Monteuren, an mich heran; ein zweiter, von dem ich noch manches erzählen werde, ein Handarbeiter kam dazu; dann noch ein dritter, den ich ebenfalls schon mehrmals erwähnt habe. Der letztere war ein konsequenter Sozialdemokrat, konsequenter und von der Partei in seinem Denken bewußter abhängig als jene zwei andern. Wir kamen mit einander in ein langes Gespräch.

Man löschte mir, während ich einmal wegsah, im Scherze die Kreidekreise weg, die ich mir auf meine Eisenwand aufgezeichnet hatte. Als ich es bemerkte, nahm ich den Scherz auf und sagte: „Zerstört mir meine Zirkel nicht!“ Was meinst du damit? sagte da der eine. Ich fragte, ob sie die Geschichte von Archimedes und der Zerstörung von Syrakus kennten. Sie verneinten, und ich erzählte sie ihnen und erklärte ihnen mein obiges Zitat.

Darauf fragte einer, ob das auch um die Zeit des trojanischen Krieges herum passiert wäre. Den trojanischen Krieg kennte er genau, hätte ihn gelesen. Und er schilderte ganz richtig und gut den Verlauf der homerischen Geschichte. Ich glaube, er hatte das Reklamheft, das Homers Ilias enthält, in der Hand gehabt.

Dann sprang das Gespräch auf Ägypten über, auf die Pharaonen, von denen ebenfalls alle wußten. Wir redeten von den Pyramiden, die sie vor allem um der Menschen willen lebhaft beschäftigten, die einst mühsam, mit unsäglichen Strapazen ihre Steine aufeinander getürmt hatten.

H: Das waren die Lasttiere, die Sklaven vor 4000 Jahren; wir Fabrikarbeiter von heute sind die Sklaven und Lasttiere der Gegenwart.

Das ist zu viel behauptet, erwiderte ich und wies z. B. auf die viel bessere allgemeine Bildung hin, die heute alle besitzen.

Das bestritt H: Die Leute waren damals nicht ungebildeter und unklüger, als sie heute im Durchschnitt sind.

Nein, früher waren sie noch viel klüger als jetzt, mischte sich halb ironisch halb ernsthaft der andre, S. mit Namen, ein. Früher konnte man sogar Wasser in Wein verwandeln. Er sagte das unsicher, und ich konnte nicht erkennen, wie er selbst darüber dachte.

Mein Monteur lachte laut auf, als er das hörte, und H. lächelte auch überlegen dazu.

So fuhr S. fort: Ja freilich, das ist Glauben, aber []

Aber der Monteur schnitt ihm kurzer Hand das Wort ab: Ach was, unser Glaube ist, daß zehn Pfund Rindfleisch eine gute Brühe geben.

Und jener wagte keine Entgegnung mehr. Dann redeten wir weiter und kamen wieder auf wirtschaftliche Dinge, wobei ich einmal das Schlagwort „Soziale Frage“ in den Mund nahm. Sofort stach das H. auf und meinte überlegen, ich wüßte doch nicht, was die soziale Frage sei.

Das kommt noch darauf an, antwortete ich. Das ist in der That auch nicht so leicht zu sagen. Darüber kann man Stunden, Tage, Wochen lang reden. Aber jedenfalls ist sie ein Ungeheuer von vielen Fragen und mit zwei Seiten, der materiellen und der geistigen Seite, genau wie der Mensch aus Körper und Geist besteht.

Aber der Monteur und H. lachten laut auf:

Geist? Geist giebts nicht. Es giebt nur ein Gehirn, ein Nervensystem, das funktioniert, wie die Maschine. Diese Funktion, das, was dabei herauskommt, nennt man heutzutage Geist.

Wer hat euch das bewiesen? fragte ich. Das ist doch höchstens nur eine Annahme, eine Behauptung, also nichts andres als meine freilich andre Meinung auch. Übrigens habe ich auch Gründe für die meine. Nehmt z. B. eine Trompete und blast hinein, dann giebt sie einen Ton. Aber der Ton ist etwas durchaus andres als die Trompete; so ists, so kann es wenigstens mit dem Gehirn und Geist auch sein. Jenes ist das Organ, dieser sein Inhalt.

Darauf stutzte H. eine kurze Zeit. Aber dann lächelte er abermals überlegen und sagte – wie unendlich bezeichnend für die Richtigkeit meiner Darlegungen an der Spitze dieses Kapitels! —:

Ich sehe schon, Sie hängen noch ganz an Orthodoxie und Bibel. Die ganze heutige Wissenschaft ist dagegen.

Ja und nein, gebe ich zurück. Übrigens ist das weder eine Schande noch ein Unglück, sondern das Gegenteil von beiden, wenn einem die Bibel noch was wert ist.

Man lacht Sie bloß aus damit. Wenn Sie zu einem Gebildeten dasselbe sagen wie zu mir, so wird er Sie bloß fragen, was Sie sind; und wenn er hört: bloß Arbeiter, so wird er Sie einfach auslachen und sich Ihre Dummheit erklären.

Hier mischt sich ein vierter ins Gespräch, der inzwischen mit einem Bohrer zusammen ebenfalls hinzugekommen war, ein Handarbeiter, von dessen innerer religiöser Verfassung ich noch weiter unten viel erzählen muß. Er war ebenso voll von Hoffnungslosigkeit und Mißtrauen gegen den Glauben, wie von Sehnsucht nach ihm. Er erzählte:

Gestern packten wir einen von den eisernen Särgen ein, den die Fabrik von dem kleinen noch vorhandenen Lager einmal wieder nach langer Pause verkauft hatte. Wir waren drei Mann beim Einpacken und gerieten dabei in Streit, ob es ein ewiges Leben gäbe. Die beiden andern meinten entschieden nein; auch der Meister, der hinzu kam und sich hinein mischte, sagte, daß sie recht hätten: der Mensch wäre einfach wie eine brennende Cigarre; sie verglüht, und der Rest ist Asche. Haben die nun recht oder nicht? Giebts ein Wiedersehen oder nicht?

Ja wohl, in Buxtehude, lachte abermals der Monteur.

Aber warum lehren das dann die Geistlichen?

Damit die Menschen hübsch arm und dumm und hübsch zufrieden bleiben, belehrt ihn der, der vorhin das Jesuswunder zu Kana erwähnt hatte; und der Monteur fügte bestätigend hinzu: Der Mensch ist ein Raubtier, ja schlimmer als das. Das Raubtier will nur satt werden, der Mensch will mehr. Gäbs nicht das bißchen Religion in der Welt, so müßten wir jeden Morgen so und so viele Leichen beiseite schaffen.

Das war die weitverbreitete Meinung in der Fabrik: die längst überholte, innerlich unwahre, in ihrem Leben tote Kirche ist heute nichts als ein sehr erwünschtes und kräftiges Polizeiinstitut des bestehenden Staates, der es eifrig und künstlich aufrecht erhält.

Endlich kamen wir am Schlusse unsers langen Gesprächs auch auf Darwin und die Lehre von der Abstammung des Menschen von den Affen. Der Handarbeiter und Monteur sind für sie, S. dagegen, H. sagt gar nichts dazu. S. meinte, das wäre unmöglich; denn wir hätten den Verstand, der uns durchaus von den Tieren, auch den Affen schiede.

Das ist ja richtig, entgegnete der Handarbeiter; aber trotzdem glaube ich daran. Was bleibt auch andres übrig? Denn das kann ich auf keinen Fall glauben, wie es in der Bibel steht, daß der Mensch aus Lehm gemacht ist.

Als wir dann auseinander gingen, blieb der Handarbeiter an meiner Seite und kam wieder auf das Sterben und das ewige Leben zurück, wie noch viele male, wenn wir beisammen waren. Er hatte vor einiger Zeit ein halberwachsenes Mädchen verloren. Nun quälte ihn die Sehnsucht nach ihr, sie wieder zu sehen. Er wollte immer wieder hören, was ich darüber dächte und glaubte. Und immer wieder, so oft ich ihm mein Innerstes ausgeschüttet, mein Bestes gegeben hatte, schüttelte er den Kopf und seufzte:

Ach wenn wir nur glauben könnten. Aber Gewißheit müßten wir haben, ganz feste Gewißheit.

Auch dieser Ärmste hatte kein Verständnis mehr für eine Gewißheit, die nicht auf Augenschein und Tastgefühl, Gehör und Geschmack beruht.

Ein andermal hatte mich ein Schlosser zu einem ältern Dreher geschickt, von ihm etwas zu holen.

Die Arbeit ist noch nicht fertig, wird es morgen erst, wenn mich nicht derweile der Teufel holt – war die barsche Antwort auf meine Anfrage.

Teufel giebts nicht, meinte sein Nachbar dazwischen.

Aber Sünde, setzte ich dazu.

Unsinn; das widerspricht sich, fuhr mich der erstere an. Wenn es keinen Teufel giebt, giebts auch keine Sünde. Übrigens, glauben Sie denn auch noch an das Zeug, das einem in der Schule weis gemacht wird?

Man hat eben, das ist ein neues scharfes Charakteristikum, durchgängig nicht das geringste Bewußtsein mehr von Schuld und Sünde. Auch diejenigen nicht, die religiös noch schwanken und ringen und eben mitten in jener Bildungskrisis stehn.

Quelle: Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. Leipzig: Grunow, 1891, S. 164–72. Online verfügbar unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN1701936127&PHYSID=PHYS_0001&DMDID=.