Quelle
[…]
Mit wenig Sätzen eile ich hinweg über den sich mir zunächst darbietenden Vorwurf, wir seien die „Barbaren des 19. Jahrhunderts“, wir wollten „die Kultur zerstören“, der Sieg der Sozialdemokratie sei der „Untergang der Zivilisation“.
Eine Partei, welche den unentgeltlichen Volksunterricht, und überhaupt die Unentgeltlichkeit aller Erziehungs- und Bildungsanstalten auf ihrem Programm hat, kann sich durch diese Anklage nicht getroffen fühlen. In gewisser Beziehung freilich müssen wir für schuldig plädieren.
Ja, wir wollen zerstören, was unsere Gegner „Kultur“, „Zivilisation“ nennen. Wir wollen zerstören Knechtschaft und Unterdrückung, wir wollen zerstören die Saat des Hasses und der Zwietracht, die zwischen die Menschen gesät ist, wir wollen zerstören die Unwissenheit, die geistige Nacht, in welche die ungeheure Mehrzahl unserer Brüder gestürzt ist. — Ja, Ihr Herren Bourgeois, die Unwissenheit wollen wir zerstören, wir Feinde Eurer Kultur! Eure Kultur ist eben das Gegenteil der Kultur: sie kann sich nur dadurch retten, daß sie das Volk zur Dummheit verdammt, ihm die Schätze der wahren Kultur schnöde vorenthält, den Tempel der Bildung ihm verschließt. Diesen Tempel dem Volk zu öffnen, das ist unser Bestreben: die Wissenschaft, die Ihr zum Monopol einiger Auserwählten macht, und für die Ihr kein Stück Brot habt, wenn sie nicht Euren Launen schmeichelt, Eurem Eigennutz fröhnt — die Wissenschaft wollen wir zum Gemeingut Aller machen. Und dies soll geschehen durch ein System echter Volksschulen — nicht Dressuranstalten wie die Volksschulen von heute, die ein Hohn sind auf den Namen; nicht Volksschulen, deren Lehrer körperlich und deren Schüler geistig verhungern müssen, und die den Kindern der Armen ein paar kümmerliche Brosamen hinwerfen, welche zur Nahrung des Geistes auch nicht entfernt ausreichen, — nicht Volksschulen, in denen das niederste Maß der Kenntnisse gelehrt wird — nein, Volksschulen in des Wortes wahrer Bedeutung, Schulen für das Volk, die allen Kindern das höchstmögliche Maß der Bildung mitteilen, die in jedem Kind alle Anlagen wecken und entfalten, und nicht wie heute, mit einem Lebensalter abschließen, wo die eigentliche Bildung erst beginnt. Der Sozialismus „kulturfeindlich“! Weil er jedem Talent die Möglichkeit bietet, sich zu entwickeln? Welch ein gewaltiger Hebel des Kulturfortschritts liegt nicht in dieser bloßen Tatsache der wirklichen Volkserziehung!
Die Talente sind gleichmäßig unter die Menschen ausgestreut — es ist dies eine Wahrheit, die durch die Wissenschaft über jeden Zweifel erhoben wird, und an der wir festhalten müssen, weil sie die Basis der sozialistischen und demokratischen Weltanschauung bildet; aber die heutige Gesellschaft erlaubt es nur den Wenigsten, ihre Anlagen auszubilden, und gibt auch diesen Wenigen, mit seltenen Ausnahmen, nur eine einseitige, verkrüppelte Ausbildung. D[d]ie ungeheure Mehrzahl der Talente wird jetzt vollständig erstickt.
Man wundert sich oft, warum in gewissen Epochen so viel bedeutende Männer erstehen. Das sind eben Epochen, in welchen den schlummernden Talenten Gelegenheit geboten wird, sich zu äußern und zu betätigen, namentlich ist dies der Fall in revolutionären Epochen, die neue Kräfte zur Verteidigung der neuen Ideen und Einrichtungen erheischen. Man nehme z.B. die Masse der großen Staatsmänner, Redner und Feldherrn, welche die französische Revolution auszeichnen. In solchen Zeiten gibt es nicht mehr Talente als in gewöhnlichen Zeiten, aber — um mich eines volkswirtschaftlichen Ausdrucks zu bedienen — es ist mehr Nachfrage nach Talenten.
Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sie macht auch „große Männer“.
Ein „großer Mann“ ist ein gewöhnlicher Mann, der die Gelegenheit gehabt hat, „groß“ zu werden. Dies nur, um zu zeigen, wie unendlich unsere Kultur gefördert werden muß, wenn die Gesellschaft es einst als ihre höchste Aufgabe betrachtet, die Talente Aller zur möglichsten Entwicklung zu bringen. Also die höchstmögliche Summe der Bildung für Alle!
Allen zugänglich und frei machen wollen wir die Wissenschaft, sie soll nicht länger in Fesseln geschlagen werden, ihr Dienst nicht länger zur materiellen Armut oder zur geistigen Prostitution verurteilen. Ja, zerstören wollen wir Eure Kultur — zerstören wollen wir sie, weil sie der wahren Kultur feindlich ist; weil sie sich mit der wahren Zivilisation nicht verträgt; weil sie die Wissenschaft zwingt, sich dem Reichtum und der Macht zu verkaufen; weil sie, auf Ungerechtigkeit beruhend, durch und durch unsittlich ist, und die Prostitution der Wissenschaft der Prostitution des Weibes hinzugefügt hat, — die Prostitution des Weibes, den häßlichsten Schandfleck unserer Afterkultur. […]
Quelle: Wilhelm Liebknecht, Zu Trutz und Schutz. Festrede, gehalten zum Stiftungsfest des Crimmitschauer Volksvereins am 22. Oktober 1871, vierte Ausgabe. Leipzig, Genossenschaftsbuchdruckerei, 1874, S. 33–35.