Kurzbeschreibung

Gegen Ende seines Lebens legte der Geograf, Naturforscher und Entdecker Alexander von Humboldt (1769–1859) das mehrbändige Werk Kosmos (1845–58) vor, in dem er die Einheit des gesamten wissenschaftlichen Wissens betonte. Das Werk war ein letztes Produkt klassizistischer und idealistischer Bestrebungen, diese Einheit zum Ausdruck zu bringen. In der Folge setzte sich jedoch ein pluralistischeres Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnis durch.

Alexander von Humboldt, Auszüge aus Kosmos (1845–58)

  • Alexander von Humbold

Quelle

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Wer die Resultate der Naturforschung nicht in ihrem Verhältniß zu einzelnen Stufen der Bildung oder zu den individuellen Bedürfnissen des geselligen Lebens, sondern in ihrer großen Beziehung auf die gesammte Menschheit betrachtet; dem bietet sich, als die erfreulichste Frucht dieser Forschung, der Gewinn dar, durch Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen den Genuß der Natur vermehrt und veredelt zu sehen. Eine solche Veredlung ist aber das Werk der Beobachtung, der Intelligenz und der Zeit, in welcher alle Richtungen der Geisteskräfte sich reflectiren. Wie seit Jahrtausenden das Menschengeschlecht dahin gearbeitet hat, in dem ewig wiederkehrenden Wechsel der Weltgestaltungen das Beharrliche des Gesetzes aufzufinden und so allmälig durch die Macht der Intelligenz den weiten Erdkreis zu erobern, lehrt die Geschichte den, welcher den uralten Stamm unseres Wissens durch die tiefen Schichten der Vorzeit bis zu seinen Wurzeln zu verfolgen weiß. Diese Vorzeit befragen heißt dem geheimnißvollen Gange der Ideen nachspüren, auf welchem dasselbe Bild, das früh dem inneren Sinne als ein harmonisch geordnetes Ganzes, Kosmos, vorschwebte, sich zuletzt wie das Ergebniß langer, mühevoll gesammelter Erfahrungen darstellt.

In diesen beiden Epochen der Weltansicht, dem ersten Erwachen des Bewußtseins der Völker und dem endlichen, gleichzeitigen Anbau aller Zweige der Cultur, spiegeln sich zwei Arten des Genusses ab. Den einen erregt, in dem offenen kindlichen Sinne des Menschen, der Eintritt in die freie Natur und das dunkle Gefühl des Einklangs, welcher in dem ewigen Wechsel ihres stillen Treibens herrscht. Der andere Genuß gehört der vollendeteren Bildung des Geschlechts und dem Reflex dieser Bildung auf das Individuum an: er entspringt aus der Einsicht in die Ordnung des Weltalls und in das Zusammenwirken der physischen Kräfte. So wie der Mensch sich nun Organe schafft, um die Natur zu befragen und den engen Raum seines flüchtigen Daseins zu überschreiten; wie er nicht mehr bloß beobachtet, sondern Erscheinungen unter bestimmten Bedingungen hervorzurufen weiß; wie endlich die Philosophie der Natur, ihrem alten dichterischen Gewande entzogen, den ernsten Charakter einer denkenden Betrachtung des Beobachteten annimmt: treten klare Erkenntniß und Begrenzung an die Stelle dumpfer Ahndungen und unvollständiger Inductionen. Die dogmatischen Ansichten der vorigen Jahrhunderte leben dann nur fort in den Vorurtheilen des Volks und in gewissen Disciplinen, die, in dem Bewußtsein ihrer Schwäche, sich gern in Dunkelheit hüllen. Sie erhalten sich auch als ein lästiges Erbtheil in den Sprachen, die sich durch symbolisirende Kunstwörter und geistlose Formen verunstalten. Nur eine kleine Zahl sinniger Bilder der Phantasie, welche, wie vom Dufte der Urzeit umflossen, auf uns gekommen sind, gewinnen bestimmtere Umrisse und eine erneuerte Gestalt.

Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen; von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten; die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen: der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Grenze der Sinnenwelt hinaus; und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.

Wenn wir zuvörderst über die verschiedenen Stufen des Genusses nachdenken, welchen der Anblick der Natur gewährt; so finden wir, daß die erste unabhängig von der Einsicht in das Wirken der Kräfte, ja fast unabhängig von dem eigenthümlichen Charakter der Gegend ist, die uns umgiebt. Wo in der Ebene, einförmig, gesellige Pflanzen den Boden bedecken und auf grenzenloser Ferne das Auge ruht; wo des Meeres Wellen das Ufer sanft bespülen und durch Ulfen und grünenden Seetang ihren Weg bezeichnen: überall durchdringt uns das Gefühl der freien Natur, ein dumpfes Ahnden ihres „Bestehens nach inneren ewigen Gesetzen“. In solchen Anregungen ruht eine geheimnißvolle Kraft; sie sind erheiternd und lindernd, stärken und erfrischen den ermüdeten Geist, besänftigen oft das Gemüth, wenn es schmerzlich in seinen Tiefen erschüttert oder vom wilden Drange der Leidenschaften bewegt ist. Was ihnen ernstes und feierliches beiwohnt, entspringt aus dem fast bewußtlosen Gefühle höherer Ordnung und innerer Gesetzmäßigkeit der Natur; aus dem Eindruck ewig wiederkehrender Gebilde, wo in dem Besondersten des Organismus das Allgemeine sich spiegelt; aus dem Contraste zwischen dem sittlich Unendlichen und der eigenen Beschränktheit, der wir zu entfliehen streben. In jedem Erdstriche, überall wo die wechselnden Gestalten des Thier- und Pflanzenlebens sich darbieten, auf jeder Stufe intellectueller Bildung sind dem Menschen diese Wohlthaten gewährt.

Ein anderer Naturgenuß, ebenfalls nur das Gefühl ansprechend, ist der, welchen wir, nicht dem bloßen Eintritt in das Freie (wie wir tief bedeutsam in unserer Sprache sagen), sondern dem individuellen Charakter einer Gegend, gleichsam der physiognomischen Gestaltung der Oberfläche unseres Planeten verdanken. Eindrücke solcher Art sind lebendiger, bestimmter und deshalb für besondere Gemüthszustände geeignet. Bald ergreift uns die Größe der Naturmassen im wilden Kampfe der entzweiten Elemente oder, ein Bild des Unbeweglich-Starren, die Oede der unermeßlichen Grasfluren und Steppen, wie in dem gestaltlosen Flachlande der Neuen Welt und des nördlichen Asiens; bald fesselt uns, freundlicheren Bildern hingegeben, der Anblick der bebauten Flur, die erste Ansiedelung des Menschen, von schroffen Felsschichten umringt, am Rande des schäumenden Gießbachs.

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Ein dumpfes, schauervolles Gefühl von der Einheit der Naturgewalten, von dem geheimnißvollen Bande, welches das Sinnliche und Uebersinnliche verknüpft, ist allerdings (und meine eigenen Reisen haben es bestätigt) selbst wilden Völkern eigen. Die Welt, die sich dem Menschen durch die Sinne offenbart, schmilzt, ihm selbst fast unbewußt, zusammen mit der Welt, welche er, inneren Anklängen folgend, als ein großes Wunderland, in seinem Busen aufbaut. Diese aber ist nicht der reine Abglanz von jener; denn so wenig auch noch das Aeußere von dem Inneren sich loszureißen vermag, so wirkt doch schon unaufhaltsam, bei den rohesten Völkern, die schaffende Phantasie und die symbolisirende Ahndung des Bedeutsamen in den Erscheinungen. Was bei einzelnen mehr begabten Individuen sich als Rudiment einer Naturphilosophie, gleichsam als eine Vernunft-Anschauung darstellt, ist bei ganzen Stämmen das Product instinctiver Empfänglichkeit. Auf diesem Wege, in der Tiefe und Lebendigkeit dumpfer Gefühle, liegt zugleich der erste Antrieb zum Cultus, die Heiligung der erhaltenden wie der zerstörenden Naturkräfte. Wenn nun der Mensch, indem er die verschiedenen Entwicklungsstufen seiner Bildung durchläuft, minder an den Boden gefesselt, sich allmälig zu geistiger Freiheit erhebt, genügt ihm nicht mehr ein dunkles Gefühl, die stille Ahndung von der Einheit aller Naturgewalten. Das zergliedernde und ordnende Denkvermögen tritt in seine Rechte ein; und wie die Bildung des Menschengeschlechts, so wächst gleichmäßig mit ihr, bei dem Anblick der Lebensfülle, welche durch die ganze Schöpfung fließt, der unaufhaltsame Trieb, tiefer in den ursachlichen Zusammenhang der Erscheinungen einzudringen.

Schwer ist es, einem solchem Triebe schnelle und doch sichere Befriedigung zu gewähren. Aus unvollständigen Beobachtungen und noch unvollständigeren Inductionen entstehen irrige Ansichten von dem Wesen der Naturkräfte: Ansichten, die, durch bedeutsame Sprachformen gleichsam verkörpert und erstarrt, sich, wie ein Gemeingut der Phantasie, durch alle Classen einer Nation verbreiten. Neben der wissenschaftlichen Physik bildet sich dann eine andere, ein System ungeprüfter, zum Theil gänzlich mißverstandener Erfahrungs-Kenntnisse. Wenige Einzelheiten umfassend, ist diese Art der Empirik um so anmaßender, als sie keine der Thatsachen kennt, von denen sie erschüttert wird. Sie ist in sich abgeschlossen, unveränderlich in ihren Axiomen, anmaßend wie alles Beschränkte: während die wissenschaftliche Naturkunde, untersuchend und darum zweifelnd, das fest Ergründete von dem bloß Wahrscheinlichen trennt, und sich täglich durch Erweiterung und Berichtigung ihrer Ansichten vervollkommnet.

Eine solche rohe Anhäufung physischer Dogmen, welche ein Jahrhundert dem andern überliefert und aufdringt, wird aber nicht bloß schädlich, weil sie einzelne Irrthümer nährt, weil sie hartnäckig wie das Zeugniß schlecht beobachteter Thatsachen ist; nein, sie hindert auch jede großartige Betrachtung des Weltbaus. Statt den mittleren Zustand zu erforschen, um welchen, bei der scheinbaren Ungebundenheit der Natur, alle Phänomene innerhalb enger Grenzen oscilliren, erkennt sie nur die Ausnahmen von den Gesetzen; sie sucht andere Wunder in den Erscheinungen und Formen als die der geregelten und fortschreitenden Entwickelung. Immer ist sie geneigt die Kette der Naturbegebenheiten zerrissen zu wähnen, in der Gegenwart die Analogie mit der Vergangenheit zu verkennen; und spielend, bald in den fernen Himmelsräumen, bald im Innern des Erdkörpers, die Ursach jener erdichteten Störungen der Weltordnung aufzufinden. Sie führt ab von den Ansichten der vergleichenden Erdkunde, die, wie Carl Ritter’s großes und geistreiches Werk bewiesen hat, nur dann Gründlichkeit erlangt, wenn die ganze Masse von Thatsachen, die unter verschiedenen Himmelsstrichen gesammelt worden sind, mit Einem Blicke umfaßt, dem combinirenden Verstande zu Gebote steht.

Es ist ein besonderer Zweck dieser Unterhaltungen über die Natur, einen Theil der Irrthümer, die aus roher und unvollständiger Empirie entsprungen sind und vorzugsweise in den höheren Volksclassen (oft neben einer ausgezeichneten litterarischen Bildung) fortleben, zu berichtigen und so den Genuß der Natur durch tiefere Einsicht in ihr inneres Wesen zu vermehren. Das Bedürfniß eines solchen veredelten Genusses wird allgemein gefühlt; denn ein eigener Charakter unseres Zeitalters spricht sich in dem Bestreben aller gebildeten Stände aus, das Leben durch einen größeren Reichthum von Ideen zu verschönern. Der ehrenvolle Antheil, welcher meinen Vorträgen in zwei Hörsälen dieser Hauptstadt geschenkt wird, zeugt für die Lebendigkeit eines solchen Bestrebens.

Ich kann daher der Besorgniß nicht Raum geben, zu welcher Beschränkung oder eine gewisse sentimentale Trübheit des Gemüths zu leiten scheinen: der Besorgniß, daß, bei jedem Forschen in das innere Wesen der Kräfte, die Natur von ihrem Zauber, von dem Reize des Geheimnißvollen und Erhabenen verliere. Allerdings wirken Kräfte, im eigentlichen Sinne des Worts, nur dann magisch, wie im Dunkel einer geheimnißvollen Macht, wenn ihr Wirken außerhalb des Gebietes allgemein erkannter Naturbedingungen liegt. Der Beobachter, der durch ein Heliometer oder einen prismatischen Doppelspath den Durchmesser der Planeten bestimmt, Jahre lang die Meridianhöhe desselben Sternes mißt, zwischen dichtgedrängten Nebelflecken telescopische Cometen erkennt; fühlt (und es ist ein Glück für den sichern Erfolg dieser Arbeit) seine Phantasie nicht mehr angeregt als der beschreibende Botaniker, so lange er die Kelch-Einschnitte und die Staubfäden einer Blume zählt, und in der Structur eines Laubmooses die einfachen oder doppelten, die freien oder ringförmig verwachsenen Zähne der Saamenkapsel untersucht; aber das Messen und Auffinden numerischer Verhältnisse, die sorgfältigste Beobachtung des Einzelnen bereitet zu der höheren Kenntniß des Naturganzen und der Weltgesetze vor. Dem Physiker, welcher (wie Thomas Young, Arago und Fresnel) die ungleich langen Ströme der durch Interferenz sich vernichtenden oder verstärkenden Lichtwellen mißt; dem Astronomen, der mittelst der raumdurchdringenden Kraft der Fernröhre nach den Monden des Uranus am äußersten Rande unseres Sonnensystems forscht, oder (wie Herschel, South und Struve) aufglimmende Lichtpunkte in farbige Doppelsterne zerlegt; dem eingeweihten Blick des Botanikers, welcher die chara-artig kreisende Bewegung der Saftkügelchen in fast allen vegetabilischen Zellen, die Einheit der Gestaltung, das ist die Verkettung der Formen in Geschlechtern und natürlichen Familien, erkennt: gewähren die Himmelsräume, wie die blüthenreiche Pflanzendecke der Erde, gewiß einen großartigeren Anblick als dem Beobachter, dessen Natursinn noch nicht durch die Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen geschärft ist. Wir können daher dem geistreichen Burke nicht beipflichten, wenn er behauptet, daß „aus der Unwissenheit von den Dingen der Natur allein die Bewunderung und das Gefühl des Erhabenen entstehe“.

Während die gemeine Sinnlichkeit die leuchtenden Gestirne an ein krystallenes Himmelsgewölbe heftet, erweitert der Astronom die räumliche Ferne; er begrenzt unsere Weltengruppe, nur um jenseits andere und andere ungezählte Gruppen (eine aufglimmende Inselflur) zu zeigen. Das Gefühl des Erhabnen, in so fern es aus der einfachen Naturanschauung der Ausdehnung zu entspringen scheint, ist der feierlichen Stimmung des Gemüths verwandt, welche dem Ausdruck des Unendlichen und Freien in den Sphären ideeller Subjectivität, in dem Bereich des Geistigen angehört. Auf dieser Verwandtschaft, dieser Bezüglichkeit der sinnlichen Eindrücke beruht der Zauber des Unbegrenzten: sei es auf dem Ocean und im Luftmeere, wo dieses eine isolirte Bergspitze umgiebt; sei es im Weltraume, in den die nebel-auflösende Kraft großer Fernröhre unsere Einbildungskraft tief und ahndungsvoll versenkt.

Einseitige Behandlung der physikalischen Wissenschaften, endloses Anhäufen roher Materialien konnten freilich zu dem, nun fast verjährten Vorurtheile beitragen, als müßte nothwendig wissenschaftliche Erkenntniß das Gefühl erkälten, die schaffende Bildkraft der Phantasie ertödten und so den Naturgenuß stören. Wer in der bewegten Zeit, in der wir leben, noch dieses Vorurtheil nährt; der verkennt, bei dem allgemeinen Fortschreiten menschlicher Bildung, die Freuden einer höheren Intelligenz: einer Geistesrichtung, welche Mannigfaltigkeit in Einheit auflöst und vorzugsweise bei dem Allgemeinen und Höheren verweilt. Um dies Höhere zu genießen, müssen in dem mühsam durchforschten Felde specieller Naturformen und Naturerscheinungen die Einzelheiten zurückgedrängt und von dem selbst, der ihre Wichtigkeit erkannt hat und den sie zu größeren Ansichten geleitet, sorgfältig verhüllt werden.

Zu den Besorgnissen über den Verlust eines freien Naturgenusses unter dem Einfluß denkender Betrachtung oder wissenschaftlicher Erkenntniß gesellen sich auch die, welche aus dem, nicht Allen erreichbaren Maaße dieser Erkenntniß oder dem Umfange derselben geschöpft werden. In dem wundervollen Gewebe des Organismus, in dem ewigen Treiben und Wirken der lebendigen Kräfte führt allerdings jedes tiefere Forschen an den Eingang neuer Labyrinthe. Aber gerade diese Mannigfaltigkeit unbetretener, vielverschlungener Wege erregt auf allen Stufen des Wissens freudiges Erstaunen.

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Der Mensch kann auf die Natur nicht einwirken, sich keine ihrer Kräfte aneignen, wenn er nicht die Naturgesetze, nach Maaß- und Zahl-Verhältnissen, kennt. Auch hier liegt die Macht in der volksthümlichen Intelligenz. Sie steigt und sinkt mit dieser. Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit; sie sind Theile des National-Reichthums, oft ein Ersatz für die Güter, welche die Natur in allzu kärglichem Maaße ausgetheilt hat. Diejenigen Völker, welche an der allgemeinen industriellen Thätigkeit, in Anwendung der Mechanik und technischen Chemie, in sorgfältiger Auswahl und Bearbeitung natürlicher Stoffe zurückstehen; bei denen die Achtung einer solchen Thätigkeit nicht alle Classen durchdringt: werden unausbleiblich von ihrem Wohlstande herabsinken. Sie werden es um so mehr, wenn benachbarte Staaten, in denen Wissenschaft und industrielle Künste in regem Wechselverkehr mit einander stehen, wie in erneuerter Jugendkraft vorwärts schreiten.

Die Vorliebe für Belebung des Gewerbfleißes und für die Theile des Naturwissens, welche unmittelbar darauf einwirken (ein charakteristisches Merkmal unseres Zeitalters), kann weder den Forschungen im Gebiete der Philosophie, der Alterthumskunde und der Geschichte nachtheilig werden, noch den allbelebenden Hauch der Phantasie den edlen Werken bildender Künste entziehen. Wo, unter dem Schutze weiser Gesetze und freier Institutionen, alle Blüthen der Cultur sich kräftig entfalten, da wird im friedlichen Wettkampfe kein Bestreben des Geistes dem andern verderblich. Jedes bietet dem Staate eigene, verschiedenartige Früchte dar: die nährenden, welche dem Menschen Unterhalt und Wohlstand gewähren; und die Früchte schaffender Einbildungskraft, welche, dauerhafter als dieser Wohlstand selbst, die rühmliche Kunde der Völker auf die späteste Nachwelt tragen. Die Spartiaten beteten, trotz der Strenge dorischer Sinnesart: „die Götter möchten ihnen das Schöne zu dem Guten verleihen“.

Wie in jenen höheren Kreisen der Ideen und Gefühle: in dem Studium der Geschichte, der Philosophie und der Wohlredenheit, so ist auch in allen Theilen des Naturwissens der erste und erhabenste Zweck geistiger Thätigkeit ein innerer: nämlich das Auffinden von Naturgesetzen, die Ergründung ordnungsmäßiger Gliederung in den Gebilden, die Einsicht in den nothwendigen Zusammenhang aller Veränderungen im Weltall. Was von diesem Wissen in das industrielle Leben der Völker überströmt und den Gewerbfleiß erhöht, entspringt aus der glücklichen Verkettung menschlicher Dinge, nach der das Wahre, Erhabene und Schöne mit dem Nützlichen, wie absichtslos, in ewige Wechselwirkung treten. Vervollkommnung des Landbaus durch freie Hände und in Grundstücken von minderem Umfang, Aufblühen der Manufacturen, von einengendem Zunftzwange befreit, Vervielfältigung der Handelsverhältnisse, und ungehindertes Fortschreiten in der geistigen Cultur der Menschheit wie in den bürgerlichen Einrichtungen stehen (das ernste Bild der neuen Weltgeschichte dringt diesen Glauben auch dem Widerstrebendsten auf) in gegenseitigem, dauernd wirksamen Verkehr mit einander.

Ein solcher Einfluß des Naturwissens auf die Wohlfahrt der Nationen und auf den heutigen Zustand von Europa bedurfte hier nur einer flüchtigen Andeutung. Die Laufbahn, welche wir zu vollenden haben, ist so unermeßlich, daß es mir nicht geziemen würde, von dem Hauptziele unseres Bestrebens, der Ansicht des Naturganzen, abschweifend, das Feld geflissentlich zu erweitern. An ferne Wanderungen gewöhnt, habe ich ohnedies vielleicht den Mitreisenden den Weg gebahnter und anmuthiger geschildert, als man ihn finden wird. Das ist die Sitte derer, die gern Andere auf den Gipfel der Berge führen. Sie rühmen die Aussicht, wenn auch ganze Theile der Gegend in Nebel verhüllt bleiben. Sie wissen, daß auch in dieser Verhüllung ein geheimnißvoller Zauber liegt, daß eine duftige Ferne den Eindruck des Sinnlich-Unendlichen hervorruft: ein Bild, das (wie ich schon oben erinnert habe) im Geist und in den Gefühlen sich ernst und ahndungsvoll spiegelt. Auch von dem hohen Standpunkte aus, auf den wir uns zu einer allgemeinen, durch wissenschaftliche Erfahrungen begründeten Weltanschauung erheben, kann nicht allen Anforderungen genügt werden. In dem Naturwissen, dessen gegenwärtigen Zustand ich hier entwickeln soll, liegt noch manches unbegrenzt; vieles (wie sollte ich es, bei dem Umfange einer solchen Arbeit, nicht gern eingestehen!) wird nur darum unklar und unvollständig erscheinen, weil Befangenheit dem Redenden dann doppelt nachtheilig wird, wenn er sich des Gegenstandes in seiner Einzelheit minder mächtig fühlt.

Der Zweck dieses einleitenden Vortrages war nicht sowohl, die Wichtigkeit des Naturwissens zu schildern: welche allgemein anerkannt ist und längst schon jedes Lobes entbehren kann; es lag mir vielmehr ob zu entwickeln, wie, ohne dem gründlichen Studium specieller Disciplinen zu schaden, den naturwissenschaftlichen Bestrebungen ein höherer Standpunkt angewiesen werden kann, von dem aus alle Gebilde und Kräfte sich als ein, durch innere Regung belebtes Naturganzes offenbaren. Nicht ein todtes Aggregat ist die Natur: sie ist „dem begeisterten Forscher (wie Schelling in der trefflichen Rede über die bildenden Künste sich ausdrückt) die heilige, ewig schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werkthätig hervorbringt“. Der bisher so unbestimmt aufgefaßte Begriff einer physischen Erdbeschreibung geht durch erweiterte Betrachtung und das Umfassen alles Geschaffenen im Erd- und Himmelsraume in den Begriff einer physischen Weltbeschreibung über. Eine dieser Benennungen ist nach der anderen gebildet. Es ist aber die Weltbeschreibung oder Lehre vom Kosmos, wie ich sie auffasse, nicht etwa ein encyclopädischer Inbegriff der allgemeinsten und wichtigsten Resultate, die man einzelnen naturhistorischen, physikalischen und astronomischen Schriften entlehnt. Solche Resultate werden in der Weltbeschreibung nur als Materialien und in so fern theilweise benutzt, als sie das Zusammenwirken der Kräfte im Weltall, das gegenseitige sich Hervorrufen und Beschränken der Naturgebilde erläutern. Die räumliche und klimatische Verbreitung organischer Typen (Geographie der Pflanzen und Thiere) ist so verschieden von der beschreibenden Botanik und Zoologie, als die geognostische Kenntniß des Erdkörpers verschieden ist von der Oryctognosie. Eine physische Weltbeschreibung darf daher nicht mit der sogenannten Encyclopädie der Naturwissenschaften (ein weitschichtiger Name für eine schlecht umgrenzte Disciplin) verwechselt werden. In der Lehre vom Kosmos wird das Einzelne nur in seinem Verhältniß zum Ganzen, als Theil der Welterscheinungen betrachtet; und je erhabener der hier bezeichnete Standpunkt ist, desto mehr wird diese Lehre einer eigenthümlichen Behandlung und eines belebenden Vortrags fähig.

Gedanken und Sprache stehen aber in innigem alten Wechselverkehr mit einander. Wenn diese der Darstellung Anmuth und Klarheit verleiht, wenn durch ihre angestammte Bildsamkeit und ihren organischen Bau sie das Unternehmen begünstigt, die Totalität der Natur-Anschauung scharf zu begrenzen; so ergießt sie zugleich, und fast unbemerkt, ihren belebenden Hauch auf die Gedankenfülle selbst. Darum ist das Wort mehr als Zeichen und Form, und sein geheimnißvoller Einfluß offenbart sich am mächtigsten da, wo er dem freien Volkssinn und dem eigenen Boden entsprießt. Stolz auf das Vaterland, dessen intellectuelle Einheit die feste Stütze jeder Kraftäußerung ist, wenden wir froh den Blick auf diese Vorzüge der Heimath. Hochbeglückt dürfen wir den nennen, der bei der lebendigen Darstellung der Phänomene des Weltalls aus den Tiefen einer Sprache schöpfen kann, welche seit Jahrhunderten so mächtig auf alles eingewirkt hat, was durch Erhöhung und ungebundene Anwendung geistiger Kräfte, in dem Gebiete schöpferischer Phantasie, wie in dem der ergründenden Vernunft, die Schicksale der Menschheit bewegt.

Quelle: Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Stuttgart und Augsburg: J.G. Cotta, 1845–58, Band 1, S. 4–7, 16–21, 36–40.