Kurzbeschreibung

Der Schriftsteller, Philosoph, Dichter und Literaturwissenschaftler Friedrich Schlegel (1772–1829) beschrieb in den hier wiedergegebenen Texten aus Athenäum-Fragmente (1798), Grundzüge der Gotischen Baukunst (1803) und Aufforderung an die Maler der jetzigen Zeit (1804) die Merkmale romantischer Dichtung. Das von Friedrich Schlegel und seinem Bruder August Wilhelm herausgegebene Athenäum (1798–1800) war das führende Organ und mit den darin enthaltenen literarischen Fragmenten angemessenes Forum der Romantik, die sich auf das Grundthema des Unvollständigen gründete. Beide Auszüge über Baukunst und Malerei machen zwei Quellen romantischer Inspiration aus: die kunstvolle Nachahmung der Natur in der gotischen Architektur und die wilde, unverfälschte Natur selbst.

Romantik: Friedrich Schlegel, Auszüge ausgewählter Schriften (1798–1804)

  • Friedrich Schlegel

Quelle

I. Aus Athenäum-Fragmente (1798)

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Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr ein und alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse, auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.

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II. Aus Grundzüge der Gotischen Baukunst (1803)

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[Über die Architektur in Cambray] Sonderbare Art zu bauen! Von dem obersten Geschoß des hohen Turms erhebt sich, den Wolken näher, eine ganz durchbrochene, ganz durchsichtige, soll ich sagen Pyramide oder Obeliske? Es läuft spitziger zu als jene, weniger spitz als dieser, von schlanken Röhren zusammengewunden, mit Knospen mannigfach verziert, bis alles sich oben in eine Spitze und Knospe endigt. So sind die eigentlich gotischen Türme meist alle gebaut, aber man trifft nur wenige vollendet. Ich habe eine große Vorliebe für die gotische Baukunst; wo ich irgendein Denkmal, irgendein Überbleibsel derselben fand, habe ich es mit wiederholtem Nachdenken betrachtet; denn es scheint mir, als hätte man ihren tiefen Sinn und die eigentliche Bedeutung derselben noch gar nicht verstanden. Diese Vereinigung der äußersten Zierlichkeit, einer unübersehlichen und unergründlichen Künstlichkeit der Ausarbeitung mit dem Großen, dem Unermeßlichen, dem Ungeheuren im Ganzen des Werks ist gewiß eine seltene und wahrhaft schöne Vereinigung entgegenstehender Fähigkeiten und Gesinnungen des nach dem Höchsten wie in das Kleinste gleich sehr hinstrebenden menschlichen Sinnes.

Keine Art soll die andere verdrängen in der Kunst. Gewiß würden mich die ältesten Denkmale der griechischen Kunst zu Athen, Girgenti und Pästum mit Ehrfurcht erfüllen, da schon die schwachen Umrisse und Zeichnungen ägyptischer, persischer und indischer Altertümer und Riesenwerke mich oft mit dem tiefsten Erstaunen und Bewunderung erfüllten. Aber was man so gewöhnlich den griechischen Geschmack nennt, ist doch meistens nur nach den Werken der späteren Zeit gebildet und nachgemacht, wo der Sinn des Großen schon verloren war, wie es auch in andern Künsten sobald geschah bei den Griechen, und statt dessen nur eine angenehme, aber bedeutungslose Symmetrie gesucht ward.

Die gotische, oder wie man es in der nächsten geschichtlichen Beziehung wohl auch nennen könnte, die deutsche Baukunst – weil sie ja allen deutschen Völkern gemein war, und deutsche Baumeister auch in Italien, wie in Frankreich und selbst in Spanien viele der wichtigsten sogenannten gotischen Gebäude aufführten – diese altdeutsche Baukunst verdient es wenigstens gewiß, daß man ihre noch unerforschten Tiefen zu ergründen strebe. Sie blühte zu ihrer Zeit ganz besonders in den Niederlanden, erreichte da, wie es scheint, die höchste Vollkommenheit. Kaum ist eine Stadt in Brabant, welche nicht ein oder das andere merkwürdige Denkmal derselben enthielte.

Übrigens dürfte die Benennung der gotischen Baukunst, sobald man diesen großen Nationalnamen nur in seinem vollständig umfassenden Sinne auffaßt, für die altchristliche und romantische Bauart des Mittelalters von Theoderich bis auf die moderne Zeit sehr angemessen und für immer beizubehalten sein; so wie auch die scheinbar willkürliche und wenig passende Benennung des Romantischen, welche uns jetzt die vorherrschende Phantasie in der Dichtkunst des Mittelalters zu charakteristisch zu bezeichnen dient, nicht füglich entbehrt und durch kein anderes historisch so bedeutsames Wort ersetzt werden kann.

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[Über den Kölner Dom] Rein architektonisch genommen, liegen auch in diesen höchsten Kunstgebilden des zweiten blühenden Stils der gotischen Baukunst dieselben Figuren vom Dreieck und Quadrat nebst der Kugel und Kreuzform zum Grunde wie in dem altchristlichen Kirchenstil nach tiefer Berechnung der künstlichen Struktur des ganzen Gebäudes. Aber sie treten nicht mehr in ihrer geometrischen Strenge und Reinheit hervor, sondern alles ist mit dem reichen Blätterschmuck und mit der blühendsten Fülle des Lebens umkleidet, sowie auch auf dem Teppich des Frühlings, an dem Reichtum aller dieser grünenden Gewächse, das Gesetz ihrer Struktur und die innere Geometrie der Natur nicht mehr im einzelnen sichtbar hervortritt, sondern alles frei im unendlichen Leben blüht und seine Schönheit entfaltet.

Das Wesen der gotischen Baukunst besteht also in der naturähnlichen Fülle und Unendlichkeit der inneren Gestaltung und äußeren blumenreichen Verzierungen. Daher die unermüdlichen und unzähligen steten Wiederholungen der gleichen Zieraten, daher das Pflanzenähnliche derselben wie an blühenden Gewächsen. Und daher auch das innig Ergreifende, das rührend Geheimnisvolle, das freudig Liebliche und Belebende des Eindrucks bei dem Erstaunen über die Größe. Die gotische Baukunst hat eine Bedeutung, und zwar die höchste; und wenn die Malerei sich meistens nur mit schwachen, unbestimmten; mißverständlichen, entfernten Andeutungen des Göttlichen begnügen muß, so kann die Baukunst dagegen, so gedacht und so angewandt, das Unendliche gleichsam unmittelbar darstellen und vergegenwärtigen durch die bloße Nachbildung der Naturfülle auch ohne Anspielungen auf die Ideen und Geheimnisse des Christentums, welche allerdings auf die Entstehung und Ausbildung der Kirchenbaukunst nicht geringen Einfluß gehabt haben.

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Rheinfahrt
Bei dem freundlichen Bonn fängt die eigentlich schöne Rheingegend an; eine reichgeschmückte breite Flur, die sich wie eine große Schlucht zwischen Hügeln und Bergen eine Tagesreise lang hinaufzieht bis an den Einfluß der Mosel bei Koblenz; von da bis St. Goar und Bingen wird das Tal immer enger, die Felsen schroffer und die Gegend wilder; und hier ist der Rhein am schönsten. Überall belebt durch die geschäftigen Ufer, immer neu durch die Windungen des Stroms und bedeutend verziert durch die kühnen, am Abhange hervorragenden Bruchstücke alter Burgen, scheint diese Gegend mehr ein in sich geschlossenes Gemälde und überlegtes Kunstwerk eines bildenden Geistes zu sein, als einer Hervorbringung des Zufalls zu gleichen. Von der flachen Gegend hinaufwärts macht den Anfang unter den vielen Ruinen, welche den Rhein verherrlichen, der Godesberg; eine der schönsten, nicht wegen der Höhe und Kühnheit, wohl aber wegen der reichen Aussicht und anmutigen Lage. Der etwas ferner gegenüber erscheinende Drachenfels macht schon die Erwartung rege nach alle den wilden und seltsamen Felsburgen, die den Fluß aufwärts umgrenzen. – Man betrachtet solche Ruinen alter Burgen entweder nur mit einer oberflächlichen sentimentalen Rührung als den unentbehrlichen romantischen Hintergrund für allerlei beliebige moderne Gefühle, oder man sieht darin nur Raubschlösser, welche nach angeordnetem Landfrieden zerstört worden sind und zerstört werden mußten. Unstreitig waren das auch viele, vielleicht die meisten von denen, deren Trümmer man jetzt noch sieht; aber man sollte nicht immer und überall nur die letzte Entartung mit der Sache selbst verwechseln und so sich selber den Sinn für die herrlichsten Denkmale der Vergangenheit abstumpfen. Wenn wir nur die Geschichte aufrichtig befragen wollten, sie würde uns, glaube ich, belehren, daß es manche solcher Burgen gab, Jahrhunderte, ehe die Fehde zwischen dem Landadel und den reichen Handelsstädten in eine Art von fortgehendem Bürgerkrieg ausgebrochen war; jahrhundertelang, ehe noch an eigentliches Faustrecht, Landfrieden und was dem weiter anhängen mag, gedacht war; ja, daß die Neigung der Deutschen, auf Felsen zu wohnen, an Bergen vorzugsweise sich anzusiedeln, so alt sei, daß man diese Neigung wohl nicht mit Unrecht zu dem ursprünglichen Charakter der Nation rechnen könnte. Eine erhabene und edle Neigung! Schon ein Blick von der Höhe, ein Atemzug auf freien Bergen versetzt uns wie in eine andere leichtere Welt, ist uns ein erquickendes Labsal, wo wir das Einerlei der Fläche vergessen und neuen Lebensmut einsaugen im Anblick des herrlichen Erdbodens vor uns. Aber wie ganz anders muß es erst sein, immer da zu wohnen und zu sein, wo wir jetzt einmal an seltenen Tagen mühsam hinaufsteigen, um doch auch einmal zu fühlen, wie einem zumute sein mag, der da lebt und in Freiheit atmet; immer die Erde vor sich zu sehen in ihrem reichen Schmuck in allen Zeiten des Tages und des Jahres, wo alles sich deutlicher und merkwürdiger zeigt, das Ziehen der Wolken, das Aufblühen des Frühlings, die mondhelle Nacht, ja selbst Ungewitter und die weißen Felder des Winters. Für mich sind nur die Gegenden schön, welche man gewöhnlich rauh und wild nennt; denn nur diese sind erhaben, und nur erhabene Gegenden können eigentlich schön sein, nur diese erregen den Gedanken der Natur. Der Anblick üppiger reicher Fluren erweckt auf eine angenehme Weise zum freudigen Genuß des Lebens, wenn man lange in Städten gefangen saß; diese blühenden Reize der Natur rühren um so kräftiger an unser Herz, je seltener sie genossen werden. Alles ist da nur Gefühl einer angenehmen lieblichen Gegenwart, nichts erinnert uns an die große Vergangenheit. Jene Felsen aber, die wie sprechende Denkmale von den alten Elementarkriegen im Geisterreiche der noch wilden Natur dastehen, von den furchtbaren Kämpfen der in ihrer Gestaltung gewaltsam ringenden Erde so deutlich reden, sind ewig schön und machen immer den gleichen, nie ermattenden Eindruck. Wie das Rauschen des Waldes, das Brausen der Quelle uns ewig in dieselbe Schwermut versenkt, wie das einsame Geschrei wilder Vögel eine schmerzlich freudige Unruhe und Begierde der Freiheit ausdrückt, so fühlen wir in dem Anblick der Felsen immer die Natur selbst; denn nur in den Denkmalen alter Naturzeiten, wenn Erinnerung und Geschichte in großen Zügen vor unser Auge tritt, tun wir einen Blick in die Tiefe dieses erhabenen Begriffs, der nicht beim Genuß der angenehmen Oberfläche schon hervortreten mag. Nichts aber vermag den Eindruck so zu verschönern und zu verstärken, als die Spuren menschlicher Kühnheit an den Ruinen der Natur, kühne Burgen auf wilden Felsen; Denkmale der menschlichen Heldenzeit, sich anschließend an jene höheren aus den Heldenzeiten der Natur.

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III. Aus Aufforderung an die Maler der jetzigen Zeit (1804)

Aufforderung an die Maler der jetzigen Zeit.
Aus den Gemäldebeschreibungen aus Paris und den Niederlanden, in den Jahren 1802–1804

Ist es wahrscheinlich, daß auch jetzt in unsrer gegenwärtigen Zeit noch von neuem eine wahre, große und gründliche Malerschule wieder entstehen und sich dauerhaft bleibend und fest begründen wird? – Wahrscheinlich ist es den äußern Umständen nach eigentlich nicht; aber wer möchte die Unmöglichkeit behaupten? Woran es liegt, daß es keine solchen Maler gibt zu unsrer Zeit, welche den großen Meistern der Vorzeit völlig gleichgestellt werden könnten, und was denen, die sich gegenwärtig in der Kunst versuchen, dazu fehlt, das ist zum Teil wohl klar; zunächst ist es die Vernachlässigung des eigentümlich Technischen, besonders der Farbenbehandlung, am meisten aber das innige und tiefe Gefühl. Bei den sinnigsten und eigentümlichsten Talenten der jetzigen neuen Zeit vermißt man noch am meisten die produktive Tätigkeit, die feste Sicherheit und Leichtigkeit im Praktischen der Ausführung, welche die alten Künstler so wunderbar auszeichnet. Wenn man die Menge von großen Werken erwägt, welche Raphael, der im frühesten Mannesalter dahingerafft wurde, vollendet hat; oder den eisernen Fleiß des redlichen Dürer in der Fülle so unzähliger Erfindungen und Arbeiten aller Art und in dem verschiedenartigsten Stoff, wo er doch auch kein hohes Lebensziel erreichte; so entschwinden uns in Gedanken alle Vergleichungspunkte für unsre in der Kunst so weit neben jenem großen Maßstabe zurückstehende Zeit. Indessen ist diese Erscheinung aus den Umständen wohl erklärbar. Die universelle Bildung und intellektuelle Vielseitigkeit, als charakteristische Eigenschaft und allgemeiner Hang unsers Zeitalters, führt leicht zur Zersplitterung der geistigen Kraft und verträgt sich schwer mit einer konzentrierten Wirkung in fortschreitender Steigerung und mit einer Fülle vollendeter Hervorbringungen in einer bestimmten, positiven Art. Dies trifft eigentlich mehr oder minder alle Gattungen intellektueller Bildung und Hervorbringung in unsrer Zeit; für die Kunst aber ist insbesondre noch folgendes zu beachten und von dem entschiedensten Einfluß. Nachdem einmal der reine, klare Sinn und das tiefe Gefühl die einzige, echte Quelle der höheren Kunst ist, und alles beinah in unsrer Zeit diesem Gefühl feindlich entgegentritt, um es zurückzudrängen, zu versplittern, zu überschütten oder seitwärts in die Irre zu lenken, so geht die beste Hälfte des Lebens, in dem vorläufigen Entwicklungskampfe gegen die Zeit und alle ihre namenlosen Hindernisse verloren; welcher Kampf dennoch unumgänglich notwendig ist, um nur erst die Quelle des echten Kunstgefühls wieder freizumachen und herauszuarbeiten aus dem beschwerlichen Schutt der störenden Außenwelt. Eine sinnige Natur, welche nicht von ihrer Zeit getragen und erhoben wird, sondern dauernd in Zwiespalt steht mit der vorherrschenden Umgebung, wird immer mehr in sich selbst versenkt bleiben und kann schwer zur produktiven Leichtigkeit gelangen. Dieser Grund ist klar und zureichend genug, um das langsame Wachstum der echten Kunst in unsrer Zeit begreiflich zu machen, die aber dennoch zum mächtigen Baum des neuen Lebens im Gebiete des Schönen für eine lichtere Zukunft, mitten durch alle Hindernisse strebend, emporblühen soll. Von einer andern Seite aber betrachtet, erscheint es wohl als ein nicht zu ergründendes Geheimnis, warum einige Zeiten, dem Anschein nach ohne alles äußere Zutun und ganz wie von selbst, künstlerisch so reich und glücklich sind, während andere bei dem besten Streben und dem vollen Ernst aller intellektuellen Bildung durchaus kein gleiches und ganz genügendes Gelingen finden mögen. Es liegt vielleicht etwas in dieser Frage, was immer unauflöslich sein wird; wir können nur bei dem stehenbleiben, was sich klar erkennen läßt, und dieses ist auch vollkommen genügend, um die Elemente, die Hilfsmittel und Werkzeuge für die höhere malerische Darstellung, den Weg und die Quelle anzugeben, welche wenigstens zur gründlichen Erkenntnis und treuen Aufbewahrung des echten Schönen in der christlichen Kunst führen werden, wenngleich das höchste Gelingen nicht ohne die besondre Gunst der Natur erreicht werden kann.

Die echte Quelle der Kunst und des Schönen aber liegt im Gefühl. Mit dem Gefühl ergibt sich der richtige Begriff und Zweck der Kunst von selbst, und das bestimmte Wissen dessen, was man will, wenngleich der Künstler es nicht in Worten, sondern nur praktisch bewähren kann. Das religiöse Gefühl, Andacht und Liebe, und die innigste stille Begeisterung derselben war es, was den alten Malern die Hand führte und nur bei einigen wenigen ist auch das hinzugekommen oder an die Stelle getreten, was allein das religiöse Gefühl in der Kunst einigermaßen ersetzen kann: das tiefe Nachsinnen, das Streben nach einer ernsten und würdigen Philosophie, die in den Werken des Leonardo und des Dürer sich, freilich nach Künstlerweise, doch ganz deutlich meldet. Vergebens sucht man die Malerkunst wieder hervorzurufen, wenn nicht erst die Religion oder eine auf diese gegründete christliche Philosophie wenigstens die Idee derselben wieder hervorgerufen hat. Dünkte aber dieser Weg den jungen Künstlern zu fern und zu steil, so möchten sie wenigstens die Poesie gründlich studieren, die jenen selben Geist atmet. Weniger die griechische Dichtkunst, die sie doch nur ins Fremde und Gelehrte verleitet, und die sie nur in Übersetzungen lesen, wo vor dem hölzernen Daktylengeklapper die alte Anmut weit entflohen ist, als die romantische. Die besten Dichter der Italiener und der Spanier, nebst dem Shakespeare, auch die zugänglichsten unter den altdeutschen Gedichten, und dann die Neueren, die am meisten in jenem romantischen Geiste gedichtet sind; das seien die beständigen Begleiter eines jungen Künstlers, die ihn allmählich zurückführen könnten in das alte romantische Land und den prosaischen Nebel antikischer Nachahmerei und ungesunden Kunstgeschwätzes von seinen Augen hinwegnehmen. Die Hauptsache aber bleibt, daß es dem Künstler ernst sei mit dem tiefen religiösen Gefühl, in wahrer Andacht und im lebendigen Glauben; denn durch die bloße Spielerei der Phantasie mit den katholischen Sinnbildern und ohne jene Liebe, welche stärker ist als der Tod, läßt sich die hohe christliche Schönheit nicht erreichen.

Worin besteht denn nun aber diese christliche Schönheit? – Man muß vor allen Dingen zur Erkenntnis des Guten und des Bösen in der Kunstlehre zu gelangen suchen. Wer das inn[e]re Leben nicht hat und nicht kennt, der kann es auch als Künstler nicht in großer Offenbarung herrlich entfalten, sondern bewegt sich nur mit fort in dem verworrnen Strudel und Traume eines bloß äußerlichen, innerlich ganz wesenlosen und eigentlich nichtigen Daseins; statt daß uns die Kunst grade aus diesem herausrücken und in die höhere, geistige Welt emporheben sollte. Er dient, als falscher Modekünstler, dem leeren Schein einer angenehmen Täuschung, und ein solcher erreicht niemals, ja er berührt auch nicht einmal die Region des echten Schönen. Die heidnische Kunst geht aus von der Vollkommenheit der organischen Gestalt, nach dem positiven Begriff eines fest bestimmten Naturcharakters. Sie findet auf ihrem Wege der lebendigsten Entfaltung aller gebildeten Formen wie von selbst den Reiz der Anmut, als natürliche Blüte der jugendlichen Schönheit; aber immer bleibt es mehr ein sinnlicher Reiz als eine geistige Anmut der Seele. Will die antike Kunst höher steigen, so geht sie über in die titanische Kraft und Erhabenheit; oder aber in den hohen Ernst der tragischen Schönheit, und dieses ist die äußerste Linie, welche sie erreichen kann und wo sie das Ewige am nächsten berührt. So stehen für sie an dem verschlossenen Eingang des ewigen Schönen auf der einen Seite der titanische Übermut, welcher mit Gewalt eindringen und den Himmel des Göttlichen erstürmen will, ohne daß er dieses je vermag; auf der andern Seite aber die ewige Trauer, im tiefen Bewußtsein der eignen, unauflöslichen Verschlossenheit unwandelbar versenkt. Das Licht der Hoffnung ist es, was der heidnischen Kunst fehlt und als dessen höchsten oder letzten Ersatz sie nur jene hohe Trauer und tragische Schönheit kennt; und dieses Licht der göttlichen Hoffnung, getragen auf den Fittichen des seligen Glaubens und der reinen Liebe, obwohl es hienieden nur in den Strahlen der Sehnsucht schmerzlich hervorbricht, ist es, was uns aus den Gebilden der christlichen Kunst, in göttlicher Bedeutung, als himmlische Erscheinung und klare Anschauung des Himmlischen entgegentritt und anspricht und wodurch diese hohe, geistige Schönheit, welche wir eben darum die christliche nennen, möglich und für die Kunst erreichbar wird.

Es wird indessen eines langen Kampfes bedürfen, und manche alte und neue Wege werden noch eingeschlagen und versucht werden, ehe der rechte Weg gefunden und geebnet ist und die wiedergeborne Kunst, sicher wie auf fester Bahn, in religiöser Schönheit emporblühend, zu diesem Ziele voranschreiten mag.

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Quelle: I. Friedrich Schlegel, Athenäum-Fragmente (1798), Kritische Schriften, Hrsg., Wolfdietrich Rasch. München: Carl Hanser Verlag, 1958, S. 37–38; II. Friedrich Schlegel, Grundzüge der Gotischen Baukunst (1803), Kritische Schriften, S. 358–59, 378–79, 386–88; III. Friedrich Schlegel, Aufforderung an die Maler der jetzigen Zeit (1804), Kritische Schriften, S. 406–09. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags, München.