Kurzbeschreibung

Johann Gottfried Tulla (1770–1828) war Ingenieur im badischen Staatsdienst. Nach seiner Ausbildung in Sachsen und Frankreich sprach er sich als einer der Ersten dafür aus, den Oberrhein durch wasserbauliche Maßnahmen zu begradigen, um die Gefahr von Überschwemmungen zu vermindern und landwirtschaftliche Flächen zu gewinnen. Tullas Interesse an der Rheinregulierung reichte in die napoleonische Zeit zurück, doch seine berühmtesten und einflussreichsten Streitschriften veröffentlichte er 1822 (s. unten) und 1825. Die Publikation von Tullas Schriften stand im Zusammenhang mit der zunehmenden internationalen Zusammenarbeit der Anrainerstaaten zur Regulierung der Rheinschifffahrt – wobei diese Zusammenarbeit im Rahmen von Institutionen stattfand, die während der napoleonischen Herrschaft und als Folge des Wiener Kongresses geschaffen worden waren. Tullas Vorhaben wird oft etwas hochtrabend als Versuch betrachtet, durch die Kanalisierung des Flusses dem Menschen mehr Macht über die Natur zu geben. Beachtlich ist jedoch, dass er sowohl bei der Begründung als auch bei der Ausführung der technischen Arbeiten Wert auf ökologisches Denken und das Gleichgewicht der Naturkräfte legte. In beiden Punkten ist Tullas Denken durchaus mit dem der deutschen Forstwissenschaftler vergleichbar, die sich für eine nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen wirtschaftlichen Ressourcen einsetzten. Die ersten Phasen der Rheinbegradigung dauerten von 1817 bis 1876, schufen aber in vieler Hinsicht nur die Voraussetzungen für weitere wasserbauliche Projekte im 20. Jahrhundert, durch die der Rhein beinahe in eine Art künstlichen Kanal verwandelt wurde.

Johann Gottfried Tulla, Der Rhein von Basel bis Mannheim mit Begründung der Nothwendigkeit, diesen Strom zu regulieren (1822)

Quelle

Unter diejenigen Gegenstände, welche die Aufmerksamkeit aller Regierungen verdienen, gehört die Benutzung der Quellen, Bäche, Flüsse und Ströme, zur Erhöhung der Cultur und des Handels.

Die Gebirge und die Ebenen, die Waldungen, die Quellen, Bäche, Flüsse, Ströme und Seen, die Sümpfe und die Steppen, modificiren das Clima, und es kann dieses in ein und demselben Land wärmer und trockener, oder kälter und feuchter werden, nach der Verschiedenheit der Cultivirung.

Alle auf Clima und Fruchtbarkeit des Grundes und Bodens einwirkende Gegenstände und Unternehmungen, müssen in einem günstigen Verhältniß stehen, wenn die Fruchtbarkeit eines Landes einen hohen Grad erreichen soll.

Eine besondere Einwirkung auf das Clima, und die Fruchtbarkeit eines Landes, haben die Waldungen und die Quellen, und die durch die Vereinigungen dieser und die Zusammenflüsse der auf der Oberfläche sich sammelnden Regen- Schnee- und Eis-Wasser sich bildenden Bäche, Flüsse und Ströme.

Es ist ein Gesetz der Natur, daß die Felsen verwittern, die steilen Abhänge sich verflächen und sanfter werden, die Land-Seen und Thalgründe ausgefüllt, die horizontalen Ebenen in abhängige Neigung gebracht und die Erdtheile und vegetabilischen Theile von den Höhen den tiefern Gegenden zugeführt und dadurch die Fruchtbarkeit immer erneuert werde.

Eine sterile Oberfläche bleibt ohne Verwitterung und ohne Anschwemmungen steril.

Die schnellsten Verwandlungen unfruchtbarer Gelände in fruchtbare, erfolgt durch sanfte Ueberschwemmungen mit Erdtheilen und vegetabilischen Theilen geschwängerter Wasser, und es sind daher die Ebenen – größtentheils ehemalige Seebette – nur da sehr fruchtbar, wo viele Ueberschwemmungen statt gefunden haben. In allen Welttheilen sind die üppigsten Länder an den Ufern der Flüsse und Ströme.

Die großen und größten Pflanzen, die Sträuche und Bäume, welche in Massen die Waldungen bilden, sind in der Natur vorzüglich dazu bestimmt, die Fruchtbarkeit der Erdoberfläche zu bewirken, und zu erhalten. Ihre Hauptnahrung sind, wie bey allen Pflanzen, Luft und Wasser. Viele Holzarten gedeihen im sterilen Boden, ihr schneller Wuchs producirt große Massen, deren Uebergang in Fäulnis, den Grund und Boden verbessert, und die Vegetation aufs neue belebt und vergößert.

Die Waldungen auf den Gebirgen verhindern Abschlüpfungen und Entblößungen. Sie selbst und die hie und da bestehenden Torfmoose, erhalten die Feuchtigkeit auf den Gebirgsflächen, und nähren die Quellen. Erstere sind daher zur Erhaltung der erforderlichen Feuchtigkeit nothwendig, und letztere wenigstens nützlich.

Die Waldungen schützen die kleineren Vegetabilien gegen Hitze, Frost und Winde; sie schützen an und in der Nähe der Ufer der Flüsse – wo nicht ganz gegen Angriffe – doch häufig gegen plötzliche Aenderungen ihres Laufs; sie vermindern, nach Verhältniß ihres Bestandes die Geschwindigkeit der Seitenströmungen der austretenden Flüsse, und bewirken dadurch einen Absatz oder Niederschlag von Kies, Sand, Erde und vegetabilischen Theilen, nach dem Grad, in welchem sie die Geschwindigkeit der Strömungen vermindern, und nach der Beschaffenheit des Materials, welches die Flüsse abführen.

Es haben also die Waldungen, auch ohne Rücksicht, daß das Holz ein Bedürfniß für den Menschen ist, einen großen Zweck für die Beförderung und Erhaltung der Fruchtbarkeit der Erdoberfläche. Eine zu große Verminderung der Waldungen im Ganzen, oder auch nur in einzelnen Distrikten, wird und muß immer nachtheilige Folgen für das Clima und die Fruchtbarkeit haben.

Eine planmäßige Forstkultur und Entwässerungs- und Bewässerungs-Einrichtung, berechnet auf Gestaltung und Beschaffenheit der Oberfläche eines Landes, und seiner Lage, Höhe über der Meeresfläche und Entfernung von Aequator, sind die Grundlagen zur Erhaltung der Fruchtbarkeit eines Landes.

Im Großen wie im Kleinen bedingt jede Bewässerungs-Anstalt eine hinreichende Entwässerungs-Einrichtung, und jede Cultivirung bedingt Sicherung des kultivirten Landes gegen Zerstörungen. Es sollte daher bey allen fließenden Wassern vorerst für einen gehörigen Abluß, durch Herstellung regelmäßiger Flußbette, gesorgt werden, ehe zur Benutzung derselben, zu Bewässerungen, und ehe zur Cultivirung des Seitengeländes geschritten wird.

Die Bewässerungen sind in vielen Fällen das wirksamste Mittel, zur Verbesserung des Grund und Bodens und zur Beförderung des Wachsthums der Pflanzen. Durch sie können Steppen und Sümpfe, nach und nach in das beste Bauland umgeschaffen werden. Es verdienen daher die Bewässerungs-Anstalten eine ganz besondere Aufmerksamkeit.

Selten haben die Wässerungs-Anstalten diejenige Ausdehnung, welche sie haben sollten, und viele Bäche, Flüsse und Ströme fließen, ohne zu diesem Zwecke benutzt, oder gehörig benutzt zu werden, ab.

Die nach und nach entstandenen, anfänglich getrennten Bevölkerungen, die Theilung dieser in größere und kleinere Herrschaften und die daher entstandenen Länder-Zerstückelungen, haben verursacht, und mußten zum Theil bis in die jüngsten Zeiten verursachen, daß die Cultivirungen, ohne Berücksichtigung eines ausgedehnten Ganzen, ohne Aufstellung einer Cultur-Ordnung, und ohne eine hinreichende Zusammenwirkung, angefangen und ausgedehnt wurden, und daß auch jetzt noch der Abwendung der daraus entstandenen, immer wachsenden, Nachtheile, durch die sich kreuzenden Interessen, durch die Verschiedenheit der Ansichten, und die privatrechtlichen Verhältnisse, so viele Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden.

Die Waiden und der Feldbau, haben sich in manchen Gebirgen zu weit in die Höhe gezogen; die Cultur hat sich an vielen Flüssen zu nahe an die Ufer gedrängt; die Flußufer wurden zu sehr vom Holzwuchs entblöst, oder wenn dieses auch nicht geschehen ist, so wurde solcher nicht als Mittel zur Beförderung der Anschlammungen benutzt.

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Der Benutzungsart der Bäche und Flüsse zur Betreibung von Maschinen, welche größtentheils das Eigenthum von Privaten sind, kann es zum Theil zugeschrieben werden, daß die Regulirung und die Erhaltung der Bäche und Flüsse, nicht in der Art geschehen ist, wie sie hätte geschehen sollen.

Die Entwässerung und Bewässerung eines Landes, die Sicherung des Eigenthums der Uferbewohner, die Flößerey und die Schifffahrt, erfordern die Herstellung und Erhaltung regelmäßiger Flußbette, Fluß-Correctionen oder Fluß-Rectificationen, die Anlegung von Kanälen, u.s.w.; also einen den Wirkungen der Bäche, Flüsse und Ströme, und den Zwecken ihrer Benutzung angemessenen Flußbau, Strombau und Kanalbau.

In der Regel sollten in kultivirten Ländern, die Bäche, Flüsse und Ströme, – Kanäle – seyn, und die Leitung der Gewässer in der Gewalt der Bewohner stehen. []

Quelle: Johann Gottfried Tulla, Der Rhein von Basel bis Mannheim mit Begründung der Nothwendigkeit, diesem Strom zu regulieren. Leipzig, 1822, S. 1–7. Online verfügbar unter: https://digital.blb-karlsruhe.de/blbihd/content/titleinfo/5608652

Johann Gottfried Tulla, Der Rhein von Basel bis Mannheim mit Begründung der Nothwendigkeit, diesen Strom zu regulieren (1822), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/vom-vormaerz-bis-zur-preussischen-vorherrschaft-1815-1866/ghdi:document-5007> [25.04.2024].