Kurzbeschreibung

Adelbert von Chamisso (1781–1838) wurde in Frankreich als Sohn einer Adelsfamilie geboren, die später vor der Französischen Revolution floh und erhielt seine Ausbildung in Preußen. Dort machte er zunächst als Armeeoffizier und später als Botaniker Karriere. Eine wichtige Etappe seiner beruflichen Laufbahn war die Tätigkeit als Naturforscher an Bord einer russischen Expedition zum Pazifik und zur Beringstraße. Ziel der Expedition unter der Leitung von Otto von Kotzebue, einem baltendeutschen Offizier der russischen Marine, war die Suche nach einer Nordpassage zwischen Pazifik und Atlantik. Heute ist Chamisso vor allem als Verfasser der klassischen Abenteuererzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte bekannt, in der ein Mann einen Pakt mit dem Teufel schließt, dafür auf seinen Schatten verzichten muss und schließlich die Welt in Siebenmeilenstiefeln bereist. Die Erzählung, die das Motiv der wissenschaftlichen Expedition aufgreift, wurde 1814 – also ein Jahr vor Chamissos Reise mit Kotzebue – veröffentlicht und hatte daher eher Wunschcharakter, als dass sie auf eigenem Erleben aufbaute.

In den folgenden Auszügen aus seiner Entdeckungsreise in die Süd-See und nach der Berings-Straße berichtet Chamisso von seinen Begegnungen mit den Bewohnern der Ratak-Kette in den Marshallinseln. Einer dieser Bewohner war Kadu, der ursprünglich von Ulea im weiter westlich gelegenen Karolinen-Archipel stammte. Kadu wurde auf der Reise in den Nordpazifik sein „Freund und Gefährte“ und lieferte ihm wertvolle Informationen über die Sprache, Kultur und Geografie Mikronesiens. Später wurde Kadu zur Ratak-Inselgruppe zurückgebracht, um dort die Ansiedlung diverser europäischer und nicht-europäischer Pflanzen und Tiere zu beaufsichtigen, die der Lebensmittelerzeugung dienen sollten. Die Passagen vermitteln einen Einblick in die europäischen Einstellungen gegenüber indigenen Völkern und in den Pazifikraum des frühen 19. Jahrhunderts und zeugen zugleich von den komplexen Reisewegen und Austauschbeziehungen deutscher und anderer Akteure über politische Grenzen, Kontinente und Ozeane hinweg.

Adelbert von Chamisso, Entdeckungs-Reise in die Süd-See und nach der Berings-Straße (1821)

Quelle

[…]

Es ist hier der Ort, da wir uns nach eigenen Erfahrungen und gesammelten Nachrichten besonders über die Inseln und Völker dieser Provinz mitzutheilen anschicken, über die neuen Quellen, die wir zu deren Kenntniß darbringen, Rechenschaft abzulegen.

Es sind diese Quellen die Mittheilungen unsres Freundes und Gefährten Kadu, und die von D. Luis de Torres auf Guajan, welche sich an Cantova’s Brief und Karte anschließen. Wir hatten zu Anfang 1817 im äußersten Osten dieser Provinz auf der Gruppe Otdia und Kawen der Inselkette Radack mit dem lieblichen Volke, welches sie bewohnt, Bekanntschaft gemacht und Freundschaft geschlossen. Als wir darauf in die Gruppe Aur derselben Inselkette einfuhren, die Eingebornen auf ihren Booten uns entgegen kamen und, sobald wir Anker geworfen, an unser Bord stiegen, trat aus deren Mitte ein Mann hervor, der sich in manchen Dingen vor ihnen auszeichnete. Er war nicht regelmäßig tatuirt wie die Radacker, sondern trug undeutliche Figuren von Fischen und Vögeln, einzeln und in Reihen um die Knie, an den Armen und auf den Schultern. Er war gedrungenen Wuchses, hellerer Farbe, krauseren Haares als sie. Er redete uns in einer Sprache an, die, von der Radackischen verschieden, uns völlig fremd klang und wir versuchten gleich vergeblich, die Sprache der Sandwich-Inseln mit ihm zu reden. Er machte uns begreiflich, er sey gesonnen, auf unserm Schiffe zu bleiben und uns auf unsern ferneren Reisen zu begleiten. Sein Besuch ward ihm gern gestattet. Er blieb von Stunde an an unserm Bord, ging auf Aur nur einmal mit Urlaub ans Land und verharrte bei uns, unser treuer Gefährte, den Offizieren gleich gehalten und von allen geliebt, bis zu unsrer Rückkehr auf Radack, wo er mit schnell verändertem Entschluß erkohr, sich anzusiedeln, um der Bewohner und Ausgeber unsrer Gaben unter unsern dürftigen Gastfreunden zu seyn. Es könnte Niemand von dem menschenfreundlichen Geiste unsrer Sendung durchdrungener seyn als er.

Kadu, ein Eingeborner der Inselgruppe Ulea, im Süden von Guajan, von nicht edler Geburt, aber ein Vertrauter seines Königs Toua, der seine Aufträge auf andern Inseln durch ihn besorgen ließ, hatte auf früheren Reisen die Kette der Inseln, mit denen Ulea verkehrt, im Westen bis auf die Pelew-Inseln, im Osten bis auf Setoan kennen gelernt. Er war auf einer letzten Reise von Ulea nach Feis, mit zweien seiner Landsleute und einem Chef aus Cap, welcher letztere nach seinem Vaterlande zurückkehren wollte, begriffen, als Stürme das Boot von der Fahrstraße abbrachten. – Die Seefahrer, wenn wir ihrer unzuverläßigen Zeitrechnung Glauben beimessen, irrten acht Monde auf offener See.

[]

Die Einwohner von Ulea, die in größerem Wohlstand und in ausgebreiteterem Verkehr als die Radacker leben, sind ihnen in mancher Hinsicht überlegen. – Kadu stand in einem gewissen Ansehn auf Radack. Er mochte, als wir diese Inseln besuchten, seit etwa vier Jahren auf dieselben angelangt seyn. Er hatte zwei Weiber auf Aur und von der Einen eine Tochter, die bereits zu sprechen begann.

Unsere Erscheinung verbreitet in Aur, wo die Kunde von uns noch nicht erschollen war, Schrecken und Bestürzung. Der vielgewanderte, der vielerfahrne Kadu, der sich zur Stunde auf einer entlegenen Insel der Gruppe befand, ward alsbald herbeigeholt, und man begehrte seinen Rath, wie man den mächtigen Fremden begegnen solle, die man für böse Menschenfresser anzusehen geneigt war.

Kadu hatte von den Europäern vieles erfahren, ohne daß er je eines ihrer Schiffe gesehen. Er sprach seinen Freunden Muth ein, warnte sie vor Diebstahl, und begleitete sie an unser Schiff mit dem festen Entschluß, bei uns zu bleiben und in der Hoffnung, durch uns zu seinem lieben Vaterlande wieder zu gelangen, da einmal ein Europäisches Schiff in Ulea gewesen, zu einer Zeit, wo er selbst abwesend war.

Einer seiner Landsleute und Schicksals-Gefährten der bei ihm war, bemühte sich umsonst, ihn von diesem Vorhaben abzubringen, und seine Freunde bestürmten ihn umsonst mit ängstlichen Reden: er war zur Zeit unerschütterlich.

[]

Wir sind die ersten Europäer, die auf Radack gelandet und dessen anmuthiges Volk kennen gelernt. Wir haben aus Grundsatz und aus Neigung, aus wirklicher inniger Liebe, von dem, was wir für dieses Volk zu thun vermochten, nichts zu unterlassen uns bestrebt. Wir hatten bei unserm ersten Besuch unsere Freunde auf Otdia in Besitz von Schweinen, Ziegen, zahmen Hühnern gesetzt, Ignam waren gepflanzt und Melonen und Wassermelonen waren aufgegangen und in gutem Gedeihen. Wir fanden, als wir nach wenigen Monaten zurückkehrten, die Stelle des Gartens auf der Insel Otdia verödet und leer. Nicht Ein fremdes Unkraut war, unsere fromme Absicht zu bezeugen, zurück geblieben. Die Schweine waren verdurstet, die Hühner waren nicht mehr vorhanden, der Fürst Lamary hatte die Ziegen nach Aur überbracht, und so auch die Igname von der Insel Otdia, die allein der feindlichen Ratte widerstanden, dahin verpflanzt. Der alte Häuptling Laergaß hatte auf einer Insel seines Gebietes andere von uns dort gepflanzte Igname entdeckt. Er hatte diese Wurzeln wohlschmeckend gefunden, und nachdem er sie gegessen, das Kraut sorgfältig wieder gepflanzt. Dieses Verfahren, welches bei der Cultur der Taro beobachtet wird, hatte sein Vertrauen getäuscht.

Der eigentliche Zweck unseres zweiten Besuches war, unsern Freunden wohltätig zu seyn. Wir brachten ihnen Ziegen, Schweine, Hunde, Katzen, zahme Hühner, Bataten aus den Sandwich-Inseln (Ipomoea tuberosa Lour. Coch.), die Melone, die Wassermelone, Kürbisse verschiedener Arten, solche, wovon die Frucht zu schätzbaren Gefäßen benutzt, und andere, wovon sie gegessen wird, das Zuckerrohr, die Weinrebe, die Ananas, den Apfelbaum der Sandwich-Inseln (nicht eine Eugenia), die Tea root (Dracaena terminalis), den Citronenbaum, und den Samen verschiedener auf den Sandwich-Inseln nutzbarer Bäume, des Kukui (Aleurites triloba), dessen Nüsse als Kerzen gebrannt werden und Oel und Farbestoffe gewähren, zweier der Sträucherarten, deren Bast zur Verfertigung von Zeugen dient u.a.m.

Wir haben mit frommem Sinn den Samen ausgestreut, dessen zu warten unser Freund Kadu übernommen hat.

Möge Kadu in seinem schönen Beruf mit Weisheit und Kraft verfahren, möge ihm gelingen, was ohne ihn nicht zu hoffen stand. Möge der Gute das Gute, was er will bewirken, möge er, der Wohlthäter eines liebenswerthen Volkes, dessen Wohlstand begründen, es friedlich und volksthümlich zum Besseren leiten, und es bald bewegen, ein Natur empörendes Gesetz abzuschwören, welches nur in der Noth begründet war.

Wir müssen es uns gestehen, unser Freund steht allein dem Neid seiner Ebenbürtigen, der Begehrlichkeit und Macht seiner Fürsten blos, und die Schätze, womit ihn unsere Liebe überhäuft, ziehen das Gewitter über sein Haupt zusammen. Unsere Besorgniß kann noch weiter gehen. Der wirkliche Reichthum an Eisen, welchen wir mit Lust auf Radack vergeudet, kann zwischen dem Süden und dem Norden dieser Kette, und zwischen ihr und Ralick einen verderblichen Krieg schüren, und Blut die Frucht unserer Milde seyn.

Die dürftigen und Gefahr drohenden Risse Radacks haben nichts, was die Europäer anzuziehen vermöchte, und wir wünschen unsern kindergleichen Freunden Glück, in ihrer Abgeschiedenheit zu beharren. Die Anmuth ihrer Sitten, die holde Schaam, die sie ziert, sind Blüten der Natur, die auf keinem Begriffe von Tugend gestützt sind. Sie würden sich unsern Lastern leicht bildsam erweisen, und wie das Opfer unserer Lüste, unsere Verachtung auf sich ziehen.

Quelle: Entdeckungs-Reise in die Süd-See und nach der Berings-Straße zur Erforschung einer nordöstlichen Durchfahrt. Unternommen in den Jahren 1815, 1816, 1817 und 1818, auf Kosten Sr. Erlaucht des Herrn Reichs-Kanzlers Grafen Rumanzoff auf dem Schiffe Rurick unter dem Befehle des Lieutenants der Russisch-Kaiserlichen Marine Otto von Kotzebue. Dritter Band. Mit dreizehn Kupfern und einer Landkarte. Enthält die Bemerkungen und Ansichten von dem Naturforscher der Expedition, Adelbert v. Chamisso, nebst Beiträgen von andern Gelehrten. Weimar: Gebrüder Hoffmann, 1821, S. 86–88, 119–20. Online verfügbar unter: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN341175544

Adelbert von Chamisso, Entdeckungs-Reise in die Süd-See und nach der Berings-Straße (1821), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/vom-vormaerz-bis-zur-preussischen-vorherrschaft-1815-1866/ghdi:document-5023> [05.11.2024].