Kurzbeschreibung

Einer der führenden westdeutschen Journalisten analysiert das breite Spektrum der Bürgerinitiativen, das seiner Ansicht nach von lokalen Reformbemühungen bis zu nationalen Extremisten reiche, verweist auf ihr nicht mehrheitsfähiges Verständnis von direkter Demokratie und unterstreicht ihre ambivalente Einstellung zur Gewaltanwendung, um politischen Wandel zu erzwingen.

Bürgerbewegungen zwischen friedlichem Protest und Gewaltausbrüchen (5. August 1977)

  • Ralf Zundel

Quelle

Anschlag auf die Parteien oder Ventil der Verdrossenheit?
Die Bürgerinitiativen pendeln zwischen friedlichem Protest und Gewaltaktion

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Die Volksbewegung der Bürgerinitiativen, die inzwischen wahrscheinlich mehr Mitglieder zählt als die politischen Parteien – die letzten Schätzungen schwanken um etwa zwei Millionen –, ist ein sehr buntgewürfeltes Heer. Da gibt es den großen Bundesverband Umweltschutz mit etwa 950 Mitgliedsorganisationen und 300 000 Mitgliedern; daneben, gleichfalls eine Großorganisation – teils in Konkurrenz, teils in Ergänzung –, den Bund Natur- und Umweltschutz Deutschland, dessen Mitglieder (geschätzt: 40 000) mehr zu den politisch Konservativen gehören und der manchen zünftigen Umweltschützern als zu staatsfromm und institutionentreu gilt. Und da gibt es schließlich, um das politische Spektrum nach der anderen Seite abzuschreiten, die verschiedenen K-Gruppen[1], von denen einige, wenn sie nur könnten, den bewaffneten Volkskampf inszenieren würden und vor Gewalt nicht zurückschrecken.

Da finden sich ferner neben diesen Großorganisationen Tausende von Initiativen, die, oft nur lokal bekannt, sich für bessere oder jedenfalls andere Stadtplanung einsetzen, Ausländerbetreuung organisieren, Kinderspielplätze, Lärmschutz, Altenhilfe, Resozialisierung von Strafgefangenen und vieles andere mehr. Manche Initiativen sind kurzlebige Spontanbewegungen, manche werden zu Traditionsvereinen. Da treffen sich romantische Naturliebhaber und radikale Gesellschaftsveränderer; da gibt es, wie der Ausnahmefall Bergkamen gezeigt hat, pfiffige Jungs, die sich ihren Protest teuer abkaufen lassen, und eine überwältigende Mehrheit von Idealisten; da erscheinen Betriebsnudeln, so manche Geltungssüchtige, die sonstwo zu kurz gekommen sind, und viele, viele Menschen, die an Einsatzbereitschaft und politischem Verantwortungsgefühl kaum zu übertreffen sind – Bürger, die eine Demokratie am Leben erhalten.

Auf die Nerven fallen

Wie dieses Völkchen einteilen, wie einordnen? Am hilfreichsten ist immer noch die einige Jahre zurückliegende Untersuchung des Deutschen Instituts für Urbanistik, das 1400 Bürgerinitiativen unter die Lupe genommen hat. Davon kümmerten sich um Umweltschutz 16,9 Prozent, um Kindergärten und Spielplätze 15,8 Prozent; auf Verkehrsfragen entfielen 11,8 Prozent; es folgen Schule 8,1, Stadtentwicklung 8,0, Randgruppen 7,1 Prozent. Auch rein kommerziell orientierte Initiativen (2 Prozent) tauchten dabei auf. Als besonders konfliktträchtig haben sich Bürgerinitiativen erwiesen, die im Bereich des Umweltschutzes und der Stadtplanung tätig sind. Die meisten anderen Themen dagegen sind nur begrenzt geeignet, Konflikte hervorzurufen. Beim Bau von Kindergärten und Spielplätzen oder bei der Randgruppenbetreuung entsteht zwar mancher Ärger mit der Verwaltung oder mit Parteipolitikern, aber im allgemeinen ist ein vernünftiger Dialog möglich, und oft wird er auch von beiden Seiten gesucht.

Es gibt also eine große Gruppe von Bürgerinitiativen, die auch ängstlichen Anhängern der repräsentativen Demokratie keine Sorge bereiten dürften: Es sind die Organisationen der sozialen Selbsthilfe, die mindestens ein Drittel der Bürgerinitiativen ausmachen. Wer sich bei ihnen ein wenig umhört und umsieht, fühlt sich an die Graswurzel-Demokratie in Amerika erinnert: Selbstbewußte Bürger werden aktiv, und zwar dort, wo die staatliche Großorganisation versagt oder wo sie Fehlentwicklungen produziert. Sehr häufig trifft man in diesen Initiativen intelligente und durchsetzungsfähige Frauen, oft mit einer anspruchsvollen Berufsausbildung.

Natürlich fallen auch diese Initiativen den etablierten Institutionen hie und da auf die Nerven – durch Hartnäckigkeit oder Sachverstand, manchmal auch durch Gruppenegoismus und Unbelehrbarkeit. Insgesamt aber sind sie ebenso notwendig wie hilfreich. Eine Administration, die jede Verästelung des Sozialstaats reglementieren will, gerät – die letzten Jahre haben es gezeigt – schnell an ihre finanziellen und organisatorischen Grenzen; und sie erstickt die Menschlichkeit. Wo Bürgerinitiativen solche Aufgaben, die vom Staat weder vollständig gelöst werden könnten noch sollten, aufgreifen, kann man ihnen eigentlich nur dankbar sein. Unlösbare, grundsätzliche Probleme entstehen dabei nicht. Gleichwohl haben auch diese Bürgerinitiativen ihre Sorgen. Auch sie streift nun der Verdacht, Teil jener neuen, gewalttätigen Volksbewegung zu sein. Die Stimmung gegenüber Bürgerinitiativen ist feindselig geworden; die Zusammenarbeit mit Verwaltung und Parteien wird schwieriger. Förderer und Spender haben sich zurückgezogen.

Von Gewaltanwendung sind die Organisationen der sozialen Selbsthilfe sehr weit entfernt, und eine Volksbewegung sind sie gewiß nicht in dem Sinne, daß sie durch ein gemeinsames, großes Ziel vereint wären. Auch viele andere Initiativen, die etwa gegen eine Straßenführung oder gegen eine Stadtplanung rebellieren, die gegen diesen oder jenen lokalen oder regionalen Mißstand zu Feld ziehen, sind kaum unter die Volksbewegung zu rechnen. Allerdings ist bei ihnen der Unwille über die Administration und die etablierten Parteien so deutlich, daß man schon von einer verbindenden, gemeinsamen politischen Motivation sprechen kann.

Ganz gewiß eine Volksbewegung aber stellen die Bürgerinitiativen für den Umweltschutz dar, und in den letzten Jahren sind sie wohl weit über den ursprünglichen Anteil von 17 Prozent hinausgewachsen. Ihr emotionales und politisches Zentrum ist der Kampf gegen die Kernenergie. Ihre Stimmungslage ist ähnlich wie bei der studentischen Rebellion der sechziger Jahre: Ihre Enttäuschung über die Etablierten sitzt tief; sie sehen überall das häßliche Gesicht des Systems.

„Innerparteiliche Auseinandersetzungen und Intrigen, von Parteipolitikern verursachte Skandale und Affären, Vetternwirtschaft, öffentliche Konfrontation der Parteien auf so ziemlich allen Gebieten . . . “, so malt Hans Günter Schumacher, stellvertretender Vorsitzender des BBU[2], das Bild der Parteien. Sein Urteil über die Fähigkeit des politischen Systems, Probleme der Bürger aufzugreifen, ist vernichtend: „Das Wort von der ‚Volkspartei’ dürfte zur Zeit weder für die CDU/CSU noch für die SPD zutreffen. Der Verfassungsauftrag, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ist verfälscht. Aus ‚Mitwirken’ wurde in vielen Fällen Machtanspruch. Die so häufig beschworene Bürgernähe entpuppt sich immer mehr als Bürgerferne, ja als Bürgerfeindlichkeit. Aktuelle Beispiele wie Gebietsreformen, Rentendebakel, Streckenstillegungspläne der Bundesbahn, Kostenexplosion im Gesundheitswesen, Konzeptionslosigkeit in der Energiepolitik und vieles andere mehr verdeutlichen, wie verbürokratisiert unser öffentliches Leben, wie selbstherrlich unser Staat und seine Instanzen geworden sind.“

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Ähnlich wie bei der Studentenbewegung ist auch bei den Umweltschützern ein sehr starkes Elitegefühl vorhanden. Zum Teil erklärt es sich daraus, daß sich in den Initiativen tatsächlich viele engagierte Idealisten sammeln, zum anderen aber findet sich dort häufig die elitäre Überzeugung, das politische System durchschaut und dessen Hauptgefahr erkannt zu haben: Es schlittert führungslos in die Welt der Nuklearzivilisation hinein. Die Entscheidung für oder gegen Kernenergie macht bei vielen Umweltschützern den Unterschied zwischen falschem und richtigem Bewußtsein aus, und aus der Wahrheitsgewißheit entspringt der missionarische Eifer.

Eine dritte Ähnlichkeit zur Apo der sechziger Jahre springt ins Auge: Aus der Gewißheit, die Wahrheit erkannt zu haben, wächst die Unfähigkeit zum Kompromiß. Was im politischen Geschäft unvermeidlich ist, ja, was normale Politik erst möglich macht, die Organisation des Kompromisses, ist bei den Umwelt-Bürgerinitiativen völlig unterentwickelt. Und aus dieser Unfähigkeit zum Kompromiß entsteht die Neigung, im Namen der Legitimität die Legalität zu durchbrechen; die Grenzen der Gewalt werden unscharf, von einigen besonders militanten Gruppen werden die Grenzen überhaupt nicht mehr anerkannt.

Wann wird Widerstand zur Pflicht?

Da werden, ähnlich wie bei der Studentenbewegung, die Ausnahmerechte aus ungewöhnlich hoher moralischer Zielsetzung begründet. War es dort die freie Gesellschaft, die als Rechtfertigung der Grenzüberschreitung diente, so ist es hier der Schutz des Lebens, das erste und wichtigste Grundrecht, das fast alle Mittel heiligt. Wo Politik sich vor diesem Grundrecht schuldig macht, muß sie bekämpft werden – und dies ist eine Überzeugung, die keineswegs nur die laute, gewalttätige Radikalität von K-Gruppen prägt, sondern auch den stillen Fanatismus, der aus bemühter Rechtschaffenheit gewachsen ist. Schließlich lautet auch das Motto für den Entwurf des BBU-Aktionskatalogs: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“

In den Initiativen ist die Gewißheit weit verbreitet, daß sie das wichtigste Instrument der Basisdemokratie sind, daß sich in ihnen das Volk zu Wort meldet. Daß es sich vorläufig um eine Minderheit handelt (je nach Umfrage sind 20 bis 40 Prozent Gegner der Kernenergie), stört dabei wenig. Wenn den Bürgern erst einmal die Schuppen von den Augen gefallen sind, wenn sie die verdummende Propaganda durchschaut haben – so lautet die Argumentation, und da schimmert die Ähnlichkeit zur Studentenbewegung wieder durch –, wird die Bewegung über eine Mehrheit in diesem Lande verfügen.

Innerhalb der Umweltschutz-Bewegung ist das wichtigste Unterscheidungsmerkmal die Einstellung zur Gewalt. Der jüngst zurückgetretene BBU-Vorsitzende Wüstenhagen (von rechts angefeindet, weil er vor 30 Jahren in die Nähe der Kommunisten geraten war; von links, weil er für ein Forschungsprojekt des „Umweltwissenschaftliches Instituts“ Mittel des Bundes in Anspruch genommen hatte), ist vor allem wegen seiner (relativ) gewaltlosen Politik attackiert worden. Da gab es kaum eine größere Veranstaltung der Umweltschützer, wo nicht Vertreter der K-Gruppen Wüstenhagen (und damit die BBU-Führung) der mangelnden Solidarität ziehen – so jüngst in Frankfurt, als eine junge Kommunistin als heilige Johanna der Kernkraftwerke in die Schranken trat und Wüstenhagen vorwarf, er unterscheide tatsächlich zwischen Gewaltbefürwortern und Gewaltgegnern. „Wer ist da der Spalter?“, so fragte sie mit schneidender Logik. „Wir benutzen die Frage der Gewalt nicht als Trennungsstrich.“

Wie früher in der Apo, so wird auch jetzt die „Gewalt gegen Sachen“ von der „Gewalt gegen Personen“ getrennt. Gewalt gegen Personen, von manchen K-Gruppen in Brokdorf und Grohnde gesucht oder in Kauf genommen, wird von der überwältigenden Mehrheit der Bürgerinitiativen abgelehnt. Illegale Aktionen dagegen, ein bürgerlicher Ungehorsam, der Gewalt gegen Sachen nicht ausschließt – das ist auch im jüngst verabschiedeten Entwurf des BBU-Aktionskatalogs zu finden.

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Ein heißer Herbst droht

Im Verhältnis zu den Bundestagsparteien gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Opposition und Koalition, in den Regierungsparteien wird wiederum differenziert – zwischen Basis und Führung. Unionsmitglieder sind mehr bei den „braven“ Organisationen anzutreffen, insgesamt aber scheint ihre Neigung, sich bei Bürgerinitiativen zu engagieren, relativ gering.

Anders dagegen bei den Koalitionsparteien. Bei ihnen gibt es weit mehr entschiedene Kernkraftgegner als in der CDU, und entsprechend stärker ist auch die Beteiligung von SPD- und FDP-Mitgliedern in der Umweltschutzbewegung. Vor allem die Parteijugend scheint, wenn auch etwas spät, das Thema der Kernenergie entdeckt zu haben. Sehr viele junge Umweltschützer aber sind mit den Parteien völlig unzufrieden. Wie Ende der 60er Jahre, so sucht auch heute ein großer Teil der jüngeren Generation, diesmal motiviert durch Gegnerschaft zu Kernenergie und Wachstumszivilisation, beflügelt auch von radikaldemokratischen Idealen, ihr politisches Heil außerhalb der etablierten Parteiorganisationen. Und es ist keineswegs sicher, daß wiederum gelingt, was unter Brandt und Scheel noch möglich war: den Hauptteil der Bewegung in die Parteien zurückzukanalisieren. Den größten Verlust muß vorläufig die SPD registrieren.

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Die Umweltschützer bilden längst nicht mehr eine schlichte Einzweck-Organisation. Die Gegnerschaft zur Kernenergie ist zwar ihr emotionaler Fixpunkt, aber die politischen Überlegungen reichen weit in andere Bereiche hinein – vor allem in der Energie-, Wachstums- und Wirtschaftspolitik. Sie sind zwar noch keine Partei, und die große Mehrheit will es auch gar nicht werden – eine politische Macht sind sie auf jeden Fall: schwer kontrollierbar, eine Verbindung von Studenten-Apo und Anti-Atom-Bewegung, von radikaldemokratischem Zorn und Zivilisationsskepsis, von Bürgertugend und Parteienfeindschaft, unheimlich für Berufspolitiker, schwer steuerbar – ein Potential gewaltiger, auch gewalttätiger Veränderung.

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Anmerkungen

[1] Als K-Gruppen wurden überwiegend maoistisch orientierte Kaderparteien innerhalb der Neuen Linken bezeichnet—Hrsg.
[2] Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e.V.—Hrsg.

Quelle: Rolf Zundel, „Anschlag auf die Parteien oder Ventil der Verdrossenheit?“, Die Zeit, 5. August 1977. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.