Kurzbeschreibung

In seiner ersten Regierungserklärung verbindet Ludwig Erhard eine Rückschau auf die Regierungszeit Adenauers mit einer nüchternen Analyse der Herausforderungen, die Deutschland bevorstehen. Erhard vertritt den Standpunkt, die deutsche Politik müsse sich weiterhin darauf konzentrieren, den Kalten Krieg zu beenden sowie die europäische und transatlantische Zusammenarbeit zu stärken. Er warnt vor Selbstzufriendenheit und mahnt die Deutschen zur Fortführung des produktiven Elans, welcher zu ihrem wirtschaftlichen Erfolg geführt habe. Ebenso warnt er vor dem Einfluss von Interessengruppen und fordert stattdessen eine Politik, welche die Interessen aller vertritt.

Das Ende der Nachkriegsgeschichte? (18. Oktober 1963)

  • Ludwig Erhard

Quelle

Erklärung der Bundesregierung

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Diese Regierung ist eine Koalitionsregierung, die auf vertrauensvoller Partnerschaft beruht. Sie stützt sich auf gemeinsam erarbeitete Grundsätze, wie sie auch in dieser Erklärung ihren Ausdruck finden.

Wir haben die materiellen Kriegsfolgen weitgehend überwunden und konnten durch den Aufbau einer blühenden Wirtschaft vielen dringenden sozialen Aufgaben genügen. Die demokratische Ordnung unseres Landes ist fest gefügt, und die Bundesrepublik hat im westlichen Bündnissystem Sicherheit gefunden. Aber unser Volk ist weiterhin geteilt. Der eine Teil darf sich der Freiheit erfreuen, der andere lebt in von außen aufgezwungener Unfreiheit. Das Einigungswerk Europas ist trotz ermutigender Anfänge keineswegs vollendet. Die freie Welt ermangelt noch jener festen Bindungen, die sie ihre politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben glücklich bewältigen lassen.

Schon dieser kurze Überblick läßt erkennen, daß die Aufgaben, die vor uns liegen, von hohem Rang sind. Wir haben unseren Blick vorwärts zu richten. Nicht nur die Bundesrepublik, sondern die ganze Welt ist im Begriff, aus der Nachkriegszeit herauszutreten. Die Völker sind in Bewegung geraten. Den Strom der Zeit können wir zwar nicht lenken, aber wir werden unser Schiff sicher steuern. In dieser Zeit ist auch die deutsche Politik zum Handeln aufgerufen und hat ebenso überzeugend für die Einigkeit und Stärke des westlichen Bündnisses zu wirken wie auch für den Frieden und die Lösung unserer nationalen Fragen einzutreten.

Die Freiheit ist ein so hoher und absoluter Wert, daß sich ein Volk selbst preisgibt, wenn es auf sie verzichtet. Es muß das Ziel unserer Politik bleiben, den Kalten Krieg beenden zu helfen, den die Sowjets vor allem durch die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Deutschen in der Zone seit eineinhalb Jahrzehnten führen. Die deutsche Politik wird deshalb nach innen wie nach außen immer weltweit orientiert und so freiheitlich gestaltet werden müssen wie nie zuvor in unserer Geschichte. Sie wird ihren Beitrag zur Stärkung der europäischen und atlantischen Zusammenarbeit leisten und sich dabei unverlierbar der schicksalhaften Bedeutung des engen Zusammengehens und Zusammenstehens mit allen unseren Verbündeten bewußt bleiben.

Den Gefahren, die die Bundesrepublik bedrohen, werden wir um so wirksamer begegnen können, je stärker wir unsere Kräfte sammeln und sie der Zukunft unseres Volkes nutzbar machen. Mehr denn je wird künftig die Zusammengehörigkeit unseres Volkes auf eine hohe Probe gestellt und zur Bewährung aufgerufen sein.

Die schöpferischen Energien des deutschen Volkes sind nach dem Kriege in erster Linie dem wirtschaftlichen Wiederaufbau zugute gekommen. Dank unserer freiheitlichen Politik verfügen alle Schichten unseres Volkes über einen weiten Spielraum zur eigenen Entfaltung. Der wirtschaftliche Wettbewerb hat die Kräfte gewogen und gestärkt. So ist die Bundesrepublik heute zu einer der größten Wirtschaftsmächte der Welt geworden. Dabei beruht diese Kraft nicht nur auf ihrer industriellen Potenz, der Leistung der Landwirtschaft, des Handels, des Handwerks, der freien Berufe sowie dem Einsatz und dem Können von Unternehmern, Arbeitern und Angestellten sowie allen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, sondern auch auf der Befruchtung unserer Arbeit durch Wissenschaft und Forschung.

Das Werk lobt alle seine Meister.

Aber welches Bild des öffentlichen Lebens stellt sich uns heute dar? Wir laufen Gefahr, daß der produktive Elan unserer Gesellschaft zunehmend dem Genuß des Erreichten weichen will. Eine oft ausschließlich materiell bestimmte Grundhaltung weiter Kreise der Bevölkerung charakterisiert die Lage 18 Jahre nach Beendigung der größten Katastrophe deutscher Geschichte. Aus diesem Grunde bedeutet es eine wesentliche Aufgabe aller verantwortungsbewußten Kräfte im Lande, jenen Leistungswillen, der uns gerettet hat, für alle Zukunft wachzuhalten.

Wie noch deutlich zu machen sein wird, müssen wir damit aufhören, unsere Kräfte und Mittel jeweils nur an speziellen und individuellen Forderungen auszurichten, sondern wir müssen das Ganze bedenken und alles Handeln an gemeinsamen Zielen messen.

Ich bin gewiß, einer Sorge und zugleich einem Verlangen des deutschen Volkes Ausdruck zu geben, wenn ich Regierung und Parlament mahne, über Interessentenwünsche hinweg sich entschiedener den prinzipiellen Fragen der Politik zuzuwenden.

Vor allem junge Menschen wollen nach übergeordneten Werten und Maßstäben handeln. Sie erwarten, daß sich auch der Staat an diese Maxime hält. Unsere Jugend will vor Aufgaben gestellt werden! Je bewußter und wahrhaftiger wir sie darauf ansprechen, um so besser wird es uns gelingen, sie von dem falschen Weg des nur Geld-verdienen- und Versorgt-sein-Wollens abzubringen.

Bemühen wir uns darum auch, jedwede Forderung an den Staat nicht vorschnell mit dem Wort „sozial“ oder „gerecht“ zu versehen, wenn es in Wahrheit nur zu oft um partikuläre Wünsche geht!

Verschließen wir die Augen nicht vor der Tatsache, daß dem entwickelten Engagement für das Private und für das Gruppeninteresse zunehmend ein Defizit an Bürgersinn gegenübersteht!

Das ist um so gravierender, als die Bundesrepublik ihren Bürgern ein ungewöhnliches Maß an Freizügigkeit in ihren privaten Tätigkeiten zugesteht und ihnen den großen Respekt vor dem Wert individueller Entfaltung bezeugt.

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Wenn darum im politischen Leben dem Staat die Sorge um Verteidigung und Sicherheit aufgetragen ist, wenn er Bildung, Forschung und Gesundheit fördern soll, wenn er für Reinhaltung der Luft und des Wassers sorgen, die Verkehrsverhältnisse ordnen, den Wohnungsbau fortführen soll, wenn ihm zunehmend höhere soziale Leistungen abverlangt werden und der Ruf nach Subventionen und Beihilfen gewiß nicht schwächer wird, dann muß der Staatsbürger begreifen, daß er damit im letzten Grunde sich selbst anspricht.

Aus solcher Sicht spiegelt die Anklage, der Staat bezeuge zu wenig Verständnis und leiste zu Geringes, nur die mangelnde Einsicht des Staatsbürgers wider. Es gibt keine Leistungen des Staates, die sich nicht auf Verzichte des Volkes gründen.

In diesem Zusammenhang sind deshalb die Interessenorganisationen im weitesten Sinne anzusprechen. Wohl gliedern sie das Volk und verhindern auf solche Weise, daß die einzelnen zur beliebig manipulierbaren Masse werden. Auf der anderen Seite können diese Verbände auch zu wachsender Unmündigkeit der Menschen führen. Es ist einzusehen, daß die Gruppen dem Bedürfnis des einzelnen entstammen, durch solidarisches Handeln die private Ohnmacht zu überwinden und auch politisch handlungsfähig zu werden; aber es ist auch nicht zu verkennen, daß die so geschaffene Apparatur ständig der Versuchung unterliegt, die von ihr vertretenen Menschen nach ihrem Willen zu lenken.

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Die Amtsübernahme der neuen Bundesregierung fällt in eine weltpolitische Phase, in der sich Veränderungen im West-Ost-Verhältnis abzeichnen. Langjährige Gespräche über Abrüstungsfragen haben im August dieses Jahres erstmals zu einer Übereinkunft zwischen den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion über eine partielle Einstellung von Kernwaffenversuchen geführt. Die Bundesregierung hat nach den notwendigen politischen Klarstellungen dieses Abkommen unterzeichnet und wird dem Hohen Hause in Kürze das erforderliche Zustimmungsgesetz vorlegen. Dabei gibt sich die Bundesregierung in Übereinstimmung mit ihren Bundesgenossen nicht der trügerischen Hoffnung hin, daß sich durch dieses Abkommen die weltpolitische Lage entscheidend verändert hätte. Die Bedrohung bleibt bestehen; die Unterdrückung der Freiheit dauert auch auf deutschem Boden an.

Die deutsche Frage ist ungelöst, und das freie Berlin leidet weiter unter der unnatürlichen Abschnürung gegenüber dem anderen Teil der Stadt und deutschen Gebieten, die in einer langen Geschichte mit ihm auf das engste zusammengewachsen sind. Die Bundesregierung ist dennoch der Auffassung, daß Kontakte und Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nützlich sein können und daß sie mit dem Ziele fortgesetzt werden sollten, zu prüfen, ob es Möglichkeiten eines Abbaues der Spannungen gibt. []

Quelle: Erklärung der Bundesregierung, Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 90. Sitzung. Bonn, Freitag, den 18. Oktober 1963, S. 4192–94. Online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/04/04090.pdf