Kurzbeschreibung

Der folgende Bericht aus einer Zürcher Zeitung beschreibt den Bau einer Sperre quer durch die frühere deutsche Hauptstadt. Der Schweizer Korrespondent analysiert, inwiefern dadurch der Strom ostdeutscher Flüchtlinge wirksam unterbunden werden könne und spekuliert über die möglichen Konsequenzen einer Zuspitzung der internationalen Krise durch den Viermächtestatus Berlins.

Der Mauerbau aus der Sicht eines neutralen Beobachters (14. August 1961)

Quelle

Abriegelung der DDR gegen den Westen
Bruch der Viermächtevereinbarungen über Berlin durch die Sowjets

Sperre des Fluchtweges aus der Sowjetzone
Tel. unseres Korrespondenten O. F.
Berlin, 13. August

Das Regime von Pankow hat in der vergangenen Nacht das Kernstück des Viermächtestatus von Berlin und die nach der Aufhebung der Berliner Blockade von den vier Mächten getroffenen Vereinbarungen, welche die Freizügigkeit innerhalb der vier Sektoren der Stadt, die freie Wahl des Arbeitsplatzes und den freien Verkehr von der Sowjetzone nach Berlin vorsehen, mit einem Willkürakt zerstört. Der Innenminister, der Verkehrsminister und der Leiter der Verwaltung im Sowjetsektor haben zur gleichen Zeit einseitig Beschlüsse erlassen, durch die den Bürgern der DDR und den Bewohnern Ostberlins verboten wird, den Westsektor der Stadt ohne eine Bewilligung der für den Wohnort zuständigen Volkspolizei zu betreten. Den 60 000 Grenzgängern in Ostberlin und den zur Sowjetzone gehörenden Berliner Randgebieten wird die weitere Ausübung der Beschäftigung in Westberlin untersagt. Für den Verkehr über die Sektorengrenze in Berlin wird eine Regelung in Kraft gesetzt, welche derjenigen entspricht, die im Interzonenverkehr zwischen der Sowjetzone und der Bundesrepublik gilt.

Besetzung des Sowjetsektors

Morgens um vier Uhr begann die Besetzung des Sowjetsektors durch Polizei- und Militärkräfte des SED-Staates. Beamte des Staatssicherheitsdienstes besetzten Straßen und Hauseingänge, und Polizisten zogen Stacheldrahtverhaue an der Sektorengrenze. Zwischen 5 und 6 Uhr morgens erschienen massenweise Angehörige der Volkspolizei, der Bereitschaftspolizei, der sogenannten Kampfgruppen und der paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik, die Schulgebäude und Industriebetriebe besetzten. Um 5 Uhr 30 waren die ersten Einheiten der ostdeutschen Volksarmee mit leichten Panzern zu sehen. Später trafen aus der Sowjetzone größere Kontingente der Volksarmee mit schweren Waffen ein. Zwischen 6 und 7 Uhr mischten sich Helfer des Roten Kreuzes der DDR unter die Polizei. Zwischen dem Potsdamer Platz und dem Brandenburger Tor wurde die Straße aufgerissen und ein Wall von Steinen errichtet. Auf der Grünfläche hinter der Barrikade errichteten die Grenzposten einen Verhau. Als am Morgen die Ostberliner aufwachten, war die militärische Besetzung des Sowjetsektors bereits vollzogen. Auch die Grenze zwischen Westberlin und der Sowjetzone ist hermetisch abgeriegelt worden. Bei der Brücke, die von Westberlin nach Potsdam führt, stehen stark bewaffnete Kräfte und auf der Havel kreuzen Patroullienboote.

Das Regime Ulbrichts ging nach der Methode der kalten Okkupation vor. Alles wurde einkalkuliert, und das Regime traf umfangreiche Maßnahmen, um einen Aufstand im Keim ersticken zu können. Der Schritt Pankows ist ein friedensgefährdender Bruch internationaler Abkommen, durch den das Gebiet mit über einer Million Einwohner, das völkerrechtlich nicht zum Sowjetblock gehört, sondern Bestandteil der unter der gemeinsamen Verwaltung der vier Mächte stehenden Berliner Sonderzone darstellt, in den kommunistischen Machtbereich eingegliedert wurde. Zum ersten Mal seit dem Prager Putsch von 1948 hat die Sowjetunion wieder ein Stück europäisches Gebiet annektiert. Die drei Westmächte sind durch den Willkürakt direkt herausgefordert; aber auch die Regierung in Bonn ist auf den Plan gerufen, da die am 29. Dezember des vergangenen Jahres getroffene Vereinbarung über den deutschen Interzonenhandel auf Voraussetzung des freien Verkehrs in Berlin beruht.

Versiegen des Flüchtlingsstroms

In der vergangenen Nacht sind 16 Millionen Menschen in der Sowjetzone und in Ostberlin vollständig hinter dem Eisernen Vorhang verschwunden und in die Nacht der Unfreiheit gestoßen worden. Auch für polnische und tschechoslowakische Bürger sowie für Bewohner anderer osteuropäischer Satellitenstaaten des Sowjetblocks ist das Tor in die Freiheit zugegangen. Westberlin war bisher aufgrund des Viermächtestatus für die Bewohner Osteuropas leichter zu erreichen als das Gebiet westlich der scharf bewachten Grenze des Sowjetblocks. Durch die Maßnahmen der DDR ist die Grenze, die Europa in zwei Hälften trennt, vollständig geschlossen worden. Heute morgen sind hier keine Flüchtlinge mehr eingetroffen. Es gibt kein Ausbrechen mehr aus dem Zuchthausstaat Ulbrichts. Am Wochenende war der Flüchtlingsstrom zu der bisher größten Stärke angeschwollen.

Gleichzeitig mit den Erlassen der DDR wurde eine Erklärung der Regierungen der Mitgliedsstaaten der Warschauer Paktorganisation veröffentlicht, in der die Willkürakte Pankows als Ausführung eines „Vorschlags“ der Ostblockstaaten bezeichnet werden. Ulbricht erhält also Rückendeckung von Seiten des gesamten Ostblocks. Es ist klar, daß die Entscheidung über die Eingliederung Ostberlins in die Sowjetzone in Moskau und nicht in Pankow fiel und daß Chruschtschew direkt für den aggressiven Akt verantwortlich ist. In der Erklärung der Warschauer-Pakt Staaten wird ausgeführt, daß die Sperrmaßnahmen den Verkehr zwischen Westberlin und Westdeutschland nicht berührten und daß die „Notwendigkeit dieser Maßnahmen fortfällt, sobald die Friedensregelung mit Deutschland verwirklicht ist“. Die „Eingemeindung“ des Sowjetsektors von Berlin in die sowjetische Okkupationszone wird also mit dem Moskauer Friedensvertragsprojekt in Zusammenhang gebracht, und der Schritt Pankows erscheint als eine partielle Antizipierung der „Freien Stadt“ Westberlin.

Die Rolle Westberlins als Strahlungszentrum des Westens in den Ostblock hinein wird durch eine aggressive Politik der vollendeten Tatsachen schwer beeinträchtigt. Die Stadt büßt gleichzeitig zu einem großen Teil die Funktion als Tor zur Freiheit ein. In jedem Jahr hatten schätzungsweise neun Millionen Bewohner der Sowjetzone und des Sowjetsektors Kinos und Theater sowie andere Kulturinstitute besucht.

Stimmungskrise in der DDR

In politischen Kreisen Westberlins befürchtet man, daß die Stimmungskrise in der Sowjetzone akute Formen annehmen könnte. Es ist damit zu rechnen, daß Bewohner von Gemeinden in der 5 Kilometer breiten Sperrzone zur Bundesrepublik versuchen könnten, notfalls mit Gewalt nach Westdeutschland durchzubrechen. Offenbar rechneten auch die Sowjets mit der Möglichkeit einer dramatischen Entwicklung. Die Ernennung Marschall Konjews zum Oberbefehlshaber der in Ostdeutschland stationierten Roten Armee ist zweifellos eine genau berechnete Demonstration gegenüber der Bevölkerung, der auf diese Weise bedeutet werden soll, daß jeder Akt der Auflehnung gegen die kommunistische Ordnung sinnlos wäre. Die Ernennung Konjews und die Konzentration der ostdeutschen Armee an den Grenzen dürften im Moment die Wirkung kaum verfehlen: man müßte wohl eine unkontrollierbare Entwicklung für den Fall befürchten, daß Chruschtschew die Berliner Krise auf die Spitze treiben sollte durch eine unüberlegte Politik in der Frage der von den Westmächten benützten Verbindungen zwischen Westberlin und Ostdeutschland.

Alarmbereitschaft in Westberlin

Die amerikanischen Truppen in Westberlin sind aus Sicherheitsgründen in Alarmbereitschaft versetzt worden. Der Senat der Stadt trat am Morgen zu einer Sondersitzung zusammen. Nachher traf sich der Regierende Bürgermeister Willy Brandt mit den führenden Vertretern der Westmächte. Am Abend versammelt sich das Städteparlament in einer Sondersitzung. Willy Brandt, der heute Nachmittag eine Pressekonferenz abhält, hat in einer ersten Stellungnahme die Westmächte zu energischen Maßnahmen gegen die Aggression des Ostens aufgefordert und dabei vor allem die Notwendigkeit einer entschiedenen Reaktion auf die Maßnahmen gegen die Grenzgänger hervorgehoben. Gleichzeitig forderte Brandt die Bevölkerung der Stadt auf, ruhig Blut zu bewahren.

Quelle: Telefonat eines Korrespondenten, „Abriegelung der DDR gegen den Westen“, Neue Zürcher Zeitung, 14. August 1961, S. 1. © Neue Zürcher Zeitung. Alle Rechte vorbehalten.