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Weihnachtseinkäufe in der DDR
Wie steht es in diesem Jahr um die Weihnachtsversorgung der DDR-Bevölkerung? Dieser Frage sind die beiden ranghöchsten Ost-Berliner Funktionäre für Handel und Versorgung, ZK-Sekretär Jarowinsky und Minister Briksa, Anfang Dezember in Mecklenburg nachgegangen. Sie besuchten Verkaufsstellen und Warenhäuser, informierten sich über das Angebot und diskutierten mit Verkäufern sowie Kunden über aktuelle Versorgungsfragen. In anderen DDR-Bezirken kümmerten sich hohe Funktionäre in den letzten Wochen ebenfalls sehr engagiert „vor Ort“ um die Versorgungslage.
Offensichtlich nimmt die SED-Führung seit der Polenkrise das Versorgungsproblem besonders ernst. Schließlich weiß sie sehr gut, daß eine stabile Versorgung und ein hoher Lebensstandard maßgeblichen Einfluß auf die innere Stabilität der DDR haben und sogar eine Art „Schutzschild“ gegen den „polnischen Bazillus“ sind. Denn die wirtschaftliche Lage, der eigene Wohlstand und Besitz bestimmen in zunehmendem Maß das Denken und Handeln der Menschen im sozialistischen deutschen Staat. Die „sozialistische Lebensweise“ scheint dagegen immer mehr in den Hintergrund zu treten.
Nervosität statt Fröhlichkeit
Die in Rostock erscheinende „Norddeutsche Zeitung“ befürchtet sogar, daß durch die „Hatz nach Status“ und Besitz das menschliche Zusammenleben in der sozialistischen Gesellschaft mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen wird. „Gerade zur Vorweihnachtszeit fällt auf: Mancher Leute Gedanken kreisen allzusehr um materiellen Standard, den es immer wieder zu überbieten gilt, und auch zu diesen eigentlich schönen Feiertagen werden mehr Sachen als Gedanken ausgetauscht“, klagte das Blatt dieser Tage. Nicht nur die Freundlichkeit schlechthin, auch das Für- und Miteinander verkümmere darüber. Ein hilfreicher Partner sei man dem anderen dann, wenn der „etwas besorgen“ könne. Die Zeitung appellierte an die DDR-Bürger, nicht so „verbissen und mit den Ellenbogen“ die Geschäfte zu stürmen und „Jagd nach Weihnachtsgeschenken“ zu machen. Das bevorstehende Fest sollte „fröhlich stimmen“ und nicht „nervös“ machen.
Schöne Worte, die freilich nicht den Kern treffen, denn die DDR-Bürger jagen vor allem wegen der Versorgungslücken von Geschäft zu Geschäft. Nicht ohne Grund konstatierte ZK-Sekretär Jarowinsky bei seinem „Arbeitsbesuch“ in Mecklenburg, daß es größerer Anstrengungen bedürfe, um das Warenangebot (und die Verkaufsbedingungen) zu verbessern.
Das SED-Politbüro sieht die Lage nicht anders. Auf der Tagung des Zentralkomitees in der vergangenen Woche berichtete es zwar von weiteren Fortschritten bei der Versorgung der Bevölkerung mit neuen hochwertigen Konsumgütern. Doch ermahnte das Politbüro die Betriebe zugleich, für eine bedarfsgerechte Produktion von Konsumgütern und „ein entschieden höheres wissenschaftlich-technisches Niveau dieser Erzeugnisse zu sorgen“ sowie den „1000 kleinen Dingen“ und der „Sicherung des notwendigen Aufkommens an Ersatzteilen“ größere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn trotz beträchtlich gesteigerter Produktion sei es bisher „nicht gelungen, die Versorgung auf wichtigen Gebieten zu stabilisieren“.
Forderungen des Politbüros
Für die Forderung des Politbüros an die Betriebe, „bedarfsgerechter“ zu produzieren, gibt es ernste Gründe. Denn obwohl der Volkswirtschaftsplan dieses Jahr erfüllt und die vorgesehene Warenproduktion wertmäßig erreicht wurde, hat eine Anzahl Betriebe bei bestimmten, oft besonders gefragten Sortimenten Lieferrückstände. So kamen Anfang Dezember in Magdeburg auf zehn Betriebe Lieferschulden in Höhe von über fünf Millionen Mark, während im Bezirk Dresden Waren im Gesamtwert von 25 Millionen Mark nicht vertragsgemäß an den Handel geliefert wurden.
In den anderen Bezirken ist die Lage ähnlich. Zwar stehen den ausgebliebenen Waren „Vorauslieferungen“ anderer Erzeugnisse gegenüber. Sie können jedoch, wie die „Sächsische Zeitung“ klarstellte, die zahlreichen Vertragsrückstände nicht wettmachen, denn „wer eine Hose braucht, wird sich kaum damit trösten lassen, er könne ja – weil er sie nicht bekommt – dafür zwei Jacken kaufen“. Jacke sei nun mal nicht gleich Hose. Verschärft wird das Problem dadurch, daß nicht wenige Betriebe verstärkt Waren der oberen Preisgruppe produzieren, weil das für sie lukrativer ist, und deshalb weniger Erzeugnisse der unteren und mittleren Preisgruppe in die Geschäfte kommen.
Die diesjährige Weihnachtsversorgung ist dadurch erheblich beeinträchtigt. Funktionäre räumen ein, daß es „verärgerte Kunden“ gebe. In Briefen an die Medien kritisierten DDR-Bürger, daß zwar reichlich von erfüllten und übererfüllten Plänen berichtet, aber zu wenig geprüft werde, welcher Bedarf denn nun befriedigt worden sei. „Schließlich will ich nicht kaufen, was gerade da ist, sondern was mir gefällt, und was ich brauche“, schrieb ein Leser an die „Norddeutsche Zeitung“. Das Blatt warnte die Betriebe davor, nach dem Motto zu produzieren: „Es wird ja sowieso alles gekauft“. Diese Praxis nutze niemandem, sie richte Schaden an.
Tatsächlich ist der Unmut in der Bevölkerung größer, als er in den Medien zum Ausdruck kommt. Spricht man in diesen Tagen mit DDR-Bürgern, kann man immer wieder Meinungen wie diese (von einer berufstätigen Mutter aus einer Kreisstadt an der Oder) hören: „Nun stehen die Polen bei uns nicht mehr Schlange, aber die Schlangen werden trotzdem immer länger. Was man gern kaufen möchte, ist nicht zu haben oder viel zu teuer: Dauernd rennt man von einem Laden zum anderen. Wenn man nicht bekannt ist, bekommt man nichts. Alles was knapp ist, wird unter dem Ladentisch verkauft. Wo soll das noch hinführen?“
Welche Formen der Verkauf „unter dem Ladentisch“ annimmt, bekamen zwei Studentinnen zu spüren, die in einem Selbstbedienungsladen am Leipziger Leuschnerplatz eine ganze Tiefkühltruhe voller gefrorener Pfirsiche, Erdbeeren und Johannisbeeren entdeckten und natürlich hoch erfreut zugriffen. Die Freude währte indes nicht lange, denn an der Kasse wurden ihnen die seltenen Köstlichkeiten mit der Begründung abgenommen, daß der Inhalt der Truhe bereits verkauft sei, wie die Studentinnen empört an den Ost-Berliner „Eulenspiegel“ schrieben.
Warten auf den „Sonderverkauf“
Praktisch müssen die DDR-Bürger immer auf dem Sprung sein, wenn sie an besondere oder gerade knappe Waren herankommen wollen, und auch das nutzt nicht immer etwas, wie ein anderes Beispiel aus dem „Eulenspiegel“ zeigt: Im Erfurter Centrum-Warenhaus bildete sich ohne erkennbaren Grund eine Menschenschlange vor einem leeren Stand, an dem es wiederholt Geschirr gab. Die Schlange wurde immer länger, obwohl niemand wußte, ob und was verkauft wird, denn das Personal gab keine Auskunft. Als endlich Kartons herangetragen wurden und der „Sonderverkauf“ begann, erfuhren die Wartenden, warum sie überhaupt angestanden hatten: In den Packungen war ein großer Glasteller mit sechs kleinen Kuchentellern – Import aus Ungarn. Wer keine Kuchenteller gebrauchen konnte, hatte umsonst angestanden.
DDR-Bürger können über Dutzende solcher Einkaufserlebnisse berichten, die natürlich böses Blut schaffen. Insbesondere die Berufstätigen beschweren sich darüber, daß sie beim Einkaufen benachteiligt sind und „Sonderverkäufe“ häufig während der Arbeitszeit stattfinden und danach „nichts Vernünftiges“ zu bekommen ist. In verschiedenen Großbetrieben soll es deshalb wiederholt zu Protesten gekommen sein. Nach Berichten aus Rostock sollen sich dort Ende November Hafenarbeiter sogar geweigert haben, Lebensmittel nach Polen zu verladen. Offenbar um die Arbeiter zu beruhigen, sind in den letzten Wochen über die Betriebsverkaufsstellen im großen Umfang „Sonderverkäufe“ zum Weihnachtsfest abgewickelt worden.
Kritik an den hohen Exporten
Angesichts der Versorgungslücken, die es nach Angaben von DDR-Bürgern bei Taschentüchern und Herrensocken ebenso gibt, wie bei Handtüchern, Unterwäsche, Bettwäsche, Oberbekleidung, Geschirr, auch bei hochwertigen Industrieerzeugnissen und sogar bei Pfefferkuchen, Schokoladenweihnachtsmännern und wie im Vorjahr bei Kerzen – wird in der DDR-Bevölkerung immer wieder Kritik an den hohen Exporten laut. Die Medien sind darauf in jüngster Zeit wiederholt eingegangen und haben betont, daß die Versorgung nicht durch eine Drosselung der Exporte verbessert werden könne. Es müsse noch mehr exportiert werden, um dringend benötigte Rohstofflieferungen, bestimmte Nahrungs- und Genußmittel sowie andere Güter, die in der DDR nicht hergestellt werden könnten, bezahlen zu können.
In der Tat kann die DDR das Versorgungsproblem nicht durch Exporteinschränkungen lösen. Vielmehr müssen weit mehr und bessere Waren sowohl für den Export als auch für den eigenen Markt unter strenger Beachtung des Bedarfs produziert werden. Der Volkswirtschaftsplan 1981, den die Volkskammer am Mittwoch verabschiedet hat, sieht denn auch beachtliche Wachstumsraten vor. So soll die industrielle Warenproduktion um fast sechs Prozent steigen, für einige Industriebetriebe und Warengruppen sind zweistellige Zuwachsraten vorgesehen. Der Plan stellt außerdem die Aufgabe, das Angebot „in allen Preisgruppen zu sichern“, um dem Bedarf der Bevölkerung besser zu entsprechen. Freilich ist die DDR trotz aller Anstrengungen von einer wirklich „bedarfsgerechten“ Versorgung noch weit entfernt.
Quelle: Michael Mara, „Weihnachtseinkäufe in der DDR“, Tagesspiegel, 21. Dezember 1980. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors.