Kurzbeschreibung

Marion Gräfin Dönhoff, die oft als die Grande Dame des westdeutschen Nachkriegsjournalismus angesehen wird, hebt hier die Leistungen der ersten Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD (1966–1969) hervor. Zugleich räumt Dönhoff aber auch ein, dass diese Regierungsform demokratische Mängel aufwies, und sie kommentiert den Aufstieg der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Das Zwischenspiel der Großen Koalition, so Dönhoff, ebnete den Weg für einen Machtwechsel auf Bundesebene 1969. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten immer die CDU/CSU und ihre Koalitionspartner die Bundesregierung gestellt.

Marion Gräfin Dönhoff über die Große Koalition (1981)

Quelle

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Ehe die SPD/FDP-Koalition unter Willy Brandt 1969 die Regierung übernahm und die neue Ostpolitik auf ihr Programm schrieb, gab es noch einen wichtigen Zwischenakt: Die Große Koalition. Die Regierung der beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD kam Anfang Dezember 1966 nach dem Sturz Erhards mit Kurt Georg Kiesinger als Kanzler und Willy Brandt als Außenminister zustande.

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Das Jahr 1968 war ein Jahr tiefer Unruhe, dramatischen Ungestüms, großer Hoffnungen und revolutionärer Träume.

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Als im Frühjahr 1968 die Studenten auch in Polen unruhig wurden und mehr Freiheit verlangten, erkannte Moskau, daß der Zusammenhalt des östlichen Lagers im Zeichen der Entspannung schwer aufrechtzuerhalten sein würde. Mitten hinein in den Taumel der Begeisterung rollten darum am 21. August die sowjetischen Panzer nach Prag. Die bewaffnete Intervention begann, die gesamte tschechoslowakische Führung wurde abgesetzt, alle Hoffnungen des Volkes zunichte gemacht.

Kiesingers CDU hielt die neue Ostpolitik für gescheitert, während ihr Koalitionspartner, die SPD, der Meinung war, daß die Sowjetunion zum erstenmal sichtbar die Initiative gegenüber dem Westen verloren habe, also die neue Politik erfolgreich sei. Der Wahlkampf des Jahres 1969 wurde von der CDU/CSU mit den alten Argumenten defensiv geführt, von der SPD dagegen offensiv unter der Fahne der Ostpolitik. Die FDP war lange Zeit stets Koalitionspartner der CDU gewesen. Bei der Wahl von Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten im Marz 1969 stimmte sie zum erstenmal mit der SPD. Und jetzt, im Wahlkampf 1969, war sie im Hinblick auf die Ostpolitik immer enger an die Seite der SPD gerückt. Das Ergebnis: CDU/CSU verloren die Wahl, SPD und FDP hatten zusammen eine schmale Mehrheit und bildeten gemeinsam die neue sozialliberale Koalition.

Da Bundeskanzler Kiesinger sich der Ostpolitik gegenüber sehr aufgeschlossen gezeigt hatte, war die Große Koalition zum entscheidenden Kugelgelenk geworden zwischen den vier Legislaturperioden, in denen die CDU in Permanenz an der Regierung gewesen war, und der Regierungsübernahme durch die SPD, die damit aus der Rolle der Opposition erlöst wurde, zu der sie scheinbar für immer verdammt gewesen war.

Jedenfalls war dies mein Eindruck, der allerdings von kaum einem anderen Beobachter geteilt wurde, denn alle empfanden diese Periode als Sünde wider den Geist der Demokratie. Natürlich ist eine Große Koalition, bei der es keine effektive Opposition, also keine ausreichende Kontrolle gibt, im Sinne demokratischer Spielregeln auch wirklich nicht empfehlenswert. In diesem Fall aber – und das war mein Argument – wurde durch sie erst einmal die Voraussetzung für die Demokratie, das heißt für das Alternieren der Parteien, geschaffen: Offenbar mußte dem deutschen Volk die SPD erst einmal zweispännig, also zusammen mit dem bewährten Leitpferd, der CDU, vorgetrabt werden, ehe das Publikum es für möglich hielt, daß man auch mit den Sozialdemokraten ganz gut fahren kann.

Vielleicht darf ich, um dem Leser jene kurze Zeitspanne zwischen 1966 und 1969 ins Gedächtnis zurückzurufen, aus einer Bilanz zitieren, die ich damals im September 1969 in der ZEIT gezogen habe: „Zum erstenmal entdecken nun auch breitere Schichten des Bürgertums, daß die SPD regierungsfähig ist. Von den drei Ministern, die sich der Öffentlichkeit als die interessantesten und wirkungsvollsten Mitglieder des Kabinetts darboten – Franz Josef Strauß, Willy Brandt, Karl Schiller –, gehören zwei der SPD an. Es hat sich ferner die prinzipielle Einstellung zu einigen großen Komplexen von Grund auf verändert: In der Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der Außenpolitik und im Bereich der Justiz.

Um mit dieser zu beginnen: Die Große Koalition hat mehr liberale Reformen ermöglicht als die fünf vorangegangenen Kabinette. Ein neues Staatsschutzrecht ist an die Stelle der alten, vom Geist des Kalten Krieges regierten Gesetze getreten, und eine gründliche Durchforstung der Sittenparagraphen fand statt.

Während Erhard jede Form von Planung in der Wirtschaft als Häresie empfand, ist Schiller für Globalsteuerung. Darum wurden die Mittelfristige Finanzplanung und das Stabilitätsgesetz

eingeführt, wurde bewußte Konjunktursteuerung betrieben, die Konzertierte Aktion erfunden und ein Finanz-, Sozial- und Agrarkabinett errichtet. Unter solchen Aspekten konnte endlich auch die Strukturkrise des Bergbaus tatkräftig angegangen werden. Die Reform der Finanzverfassung im Mai dieses Jahres gibt schließlich die Möglichkeit, daß drei Gemeinschaftsaufgaben – Bau von Hochschulen, regionale Wirtschaftspolitik und Agrarstrukturpolitik – nach bestimmten Regeln von Bund und Ländern gemeinsam geplant und finanziert werden . . . .

Auch in der Sozialpolitik hat sich in der Ära der Großen Koalition der Aspekt von Grund auf verändert. Lag der Ansatz früher bei der Überzeugung, Fürsorge und Wohltätigkeit seien nun einmal unvermeidlich, so hat sich jetzt die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß Sozialpolitik aus gesellschaftspolitischen Gründen notwendig ist und sich auch volkswirtschaftlich als Investition rechtfertigen läßt.

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Die Große Koalition hat demnach nicht nur strukturelle Veränderungen hervorgebracht, sie hat auch die Bewußtseinslage der Bürger verändert. Übrigens in einer Weise, wie es einer SPD-Regierung im Alleingang nie möglich gewesen wäre; denn die SPD hat ja den Born der Weisheit auch nicht gepachtet. Sie hätte ohne die Partnerschaft sicherlich versucht, sehr viel kühnere Pläne – erträumt in den Jahren wirkungsloser Opposition – zu verwirklichen. Die Große Koalition aber zwang sie, die Grenzen der Realisierbarkeit solcher Ideen empirisch zu prüfen. Jetzt ist der Weg frei für eine normale Politik, bei der die beiden großen Parteien einander in der Regierung abwechseln können.“[1]

Allerdings gab es ein negatives Phänomen in jener kurzen Periode, den Aufstieg und Fall einer rechtsradikalen Partei, der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Zu ihr hatten sich 1964 verschiedene konservative und rechtsradikale Splittergruppen zusammengeschlossen, die dann ab 1966 bei verschiedenen Landtagswahlen plötzlich erschreckende Erfolge erzielten: 1966 in Hessen 7,9 Prozent aller Stimmen, in Bayern 7,4; 1967 in Niedersachsen 7 Prozent, in Bremen 8,9, in Baden-Württemberg 9,8.

Das Charakteristikum der Partei: Sie rechnete Auschwitz gegen Dresden auf und beklagte „den Geist der Unterwerfung“. Sie geiferte gegen Gammler, lange Haare und „Vergangenheitsbewältigung“ – sie pries die gesunde Familie, wünschte sich eine nationale Wiedergeburt, redete viel von Schicksalsgemeinschaft und hatte überhaupt kein politisches Konzept. Es waren Zukurzgekommene, Rückwärtsgewandte, Ewiggestrige, die sich da zusammengefunden hatten – aber es waren keine Nazis oder Faschisten, sondern einfach Reaktionäre. Sie waren das letzte Aufgebot. In ihrem eigenen Jargon: „Nach uns kommt kein Zug mehr.“

Bei der Bundestagswahl 1969, die die Große Koalition beendete, gelang es ihnen nicht, die Fünf-Prozent-Klausel zu überspringen, und nach 1970 verschwanden sie aus den Landtagen ebenso unerfindlich rasch, wie sie aufgetaucht waren. Es mag durchaus sein, daß diese Partei nicht nur eine Konsequenz der Rezession war, sondern auch eine unerfreuliche Begleiterscheinung der Großen Koalition, die ja als Folge des gemeinsamen Regiments der beiden großen Parteien auf der rechten Seite des Spektrums einen Platz frei ließ für die, die es unüberwindlich fanden, mit den „Sozis“ auf einer Bank zu sitzen. Außerdem waren die ausgehenden sechziger Jahre eine Zeit des Aufbruchs in die Moderne: Nichts war modern genug – da konnten und wollten diese Leute wohl einfach nicht mit.

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Anmerkungen

[1] Marion Dönhoff: Deutsche Außenpolitik von Adenauer bis Brandt (Wegner, Hamburg 1970).

Quelle: Marion Gräfin Dönhoff, Von Gestern nach Übermorgen. Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg: Albrecht Knaus, 1981, S. 189-97.