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Lysistrata geht um. Kein Pillenknick, sondern die Emanzipation der Frau lehrt die Gesellschaft das Fürchten
Die bürgerliche Gesellschaft geht in sich. Sie muß eine Weile nachdenken. Denn, was da in ihren eigenen Reihen geschieht, ist gegen die Spielregeln. Einsamkeit — Zweisamkeit — dieses Wortpaar in seiner ursprünglichen Bedeutung beginnt an Aussagekraft zu verlieren. Ins Gegenteil verkehrt sich, was negativ, was positiv zu sein hat. Der Bund fürs Leben, die Institution Familie scheint immer weniger gefragt zu sein. Obgleich die Gesellschaft und der Staat alles tun, um den Junggesellen ihre Extratour so unbequem wie möglich zu machen, verglichen etwa mit den Steuergeschenken für die Familie, steigt die Zahl derjenigen, die lieber ledig bleiben als sich zu binden. Und diejenigen, die gebunden sind, entledigen sich zunehmend dieser Bindung und werden wieder ledig.
Zumal die Frauen machen sich selbständig, hängen das Geschirrtuch an den Nagel und verlassen ihr Ehereservat. Oder betreten es erst gar nicht. „Wir wollen nicht mehr ausschließlich für die Gesellschaft da sein“, was für sie gebären und Kinder großziehen bedeutet. Jedenfalls wollen sie das fürs erste nicht. Der Gesellschaft hat es zunächst einmal die Sprache verschlagen. Und dann hat sie nachgerechnet: Wenn das so weitergeht, werden die derzeit 57,9 Millionen Bundesbürger gegen Ende des 21. Jahrhunderts auf 22 Millionen heruntergekommen sein. Ob das angesichts der Überbevölkerung in anderen Ländern nun so tragisch ist oder nicht, sei für diesmal dahingestellt. Was sich Politiker aber sorgenvoll fragen, ist, wer arbeitet in 40 oder 50 Jahren noch für unsere Renten? Und nicht nur für die der heute Berufstätigen, sondern auch für die Altersversorgung der ins Erwerbsleben drängenden Mütter, ob geschieden oder ledig, und jener Frauen, die partout erst gar nicht heiraten und Kinder in die Bundesrepublik setzen wollen?
Dabei ist das Junggesellen-Dasein so rosig nicht. Die Einzelgänger, die rund 1 226 000 unverheirateten Männer über 30 Jahre und die etwa 8 172 000 ledigen, geschiedenen oder verwitweten Frauen im Alter von 20 Jahren aufwärts kann ein Staat, der die Funktionstüchtigkeit seines Systems auf die Familie stützt, nicht so sehr auf der Rechnung haben. Junggesellen sind ohne Lobby. Als bevölkerungspolitische Blindgänger haben sie mehr Nach- denn Vorteile: Bei der Lohn- und Einkommenssteuer und bei den Abgaben für die Sozialversicherung. In die Rentenkasse zahlen sie weniger als Verheiratete, obgleich im Fall des Falles sie Vater Staat keine Verwitweten oder Waisen überantworten. Das selbe gilt für die Kranken- und Arbeitslosenversicherung.
Kinder — was soll‘s
Für die Frauen kommt noch die Diskriminierung in der Berufswelt hinzu. Für sie hält der Arbeitsmarkt vorwiegend die Textil- und Bekleidungsbranche, das Dienstleistungsgewerbe und Berufe im Gesundheitswesen bereit. 77 Prozent der erwerbstätigen Frauen sind in nur 16 Berufen tätig. Obgleich das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg jetzt ermittelte, daß Frauen sehr wohl über ein Drittel der Arbeitsplätze einnehmen könnten, die Männer besetzt halten, sind rund 480 000 Frauen arbeitslos. Es fehlt ihnen nicht nur an der „entsprechenden Qualifikation“, wie Vorgesetzte dem Berufsforschungs-Institut verrieten; sie werden im Einvernehmen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber auch noch vorzeitig aus der Berufswelt hinauskatapultiert.
Daß Frauen mit 60 Jahren bereits ins Rentenalter eintreten können, hat Unternehmer und Arbeitnehmer-Vertreter das Wort von der „Betriebsvereinbarung“ erfinden lassen. Berufstätige Frauen, die das sechzigste Lebensjahr erreicht haben, müssen oft genug ihren Platz räumen. Ausnahmen werden nur bei Härtefällen gemacht. Und was ein Härtefall ist, entscheiden wiederum Betriebsrat und Arbeitgeber.
Die Generation dieser alleinstehenden Frauen ist sowieso übel dran. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren haben sie meist ihren Beruf vorübergehend aufgeben müssen, weil [ihre Rolle in] der Gesellschaft die Nachkriegsgeneration aufzuziehen, für die Gesellschaft Nachkriegsaufbauarbeit zu leisten gewesen war. Ausfalljahre in der Rentenversicherung hat ihnen der Staat dafür nicht angerechnet. Sie waren ja weder Soldaten noch in der Kriegsgefangenschaft. Vergleichbar ist die Situation der jungen Mütter. In ihren „109 Tips für die Frau“ versicherte im April 1976 die Bundesregierung großartig: „Eine Frau kann auch nach der Schutzfrist kündigen, um sich ihrem Kind besser widmen zu können.“ Daß eine Frau — befolgt sie diesen Rat — keinen Anspruch auf ihren ehemaligen Arbeitsplatz hat, wie etwa der für die Bundeswehr freizustellende Soldat, verschwiegen die Koalitionspolitiker in ihrer Informationsschrift vor dem Bundeswahlkampf.
Berufstätige Frauen haben da noch weitere Nachteile in Kauf zu nehmen. Und so träumen sie noch immer vom gleichen Lohn für gleiche Arbeit, von mehr Verantwortung und weniger untergeordneten Positionen. Die Flucht in den Haushalt ist meist das Ergebnis ihrer schlechten Erfahrungen im Berufsleben. In diesem Sinne zweideutig muß wohl auch das beurteilt werden, was das Familienministerium ermittelte: Von den rund 550 000 berufstätigen Müttern mit mindestens einem Kind unter drei Jahren wären zwei Drittel bereit, für ein Erziehungsgeld ihre Arbeit aufzugeben. Was aber nicht gleichzeitig heißen muß, daß sie auch ihren Beruf aufgeben wollen, schon gar nicht für immer.
Inzwischen nun macht sich ein neues Bewußtsein breit. Frauen im heiratsfähigen Alter unterwandern die „Kinderproduktion“. Kein Pillenknick bedroht die deutsche Bevölkerung. Eher beginnt sich eine schleichende Lysistrata-Bewegung abzuzeichnen.
„Die Welt ist mütter- und kinderfeindlich geworden“, finden junge Frauen, die den Bogen ihrer Argumente vom patriarchalischen Mann bis zum Kernkraftwerk spannen. Die Panik der Politiker angesichts des Geburtenrückgangs sei nicht mehr als „nationale Eitelkeit“. „Die sollen doch froh sein“, finden „gebäraktive“ Nichtmütter, „Arbeitslosigkeit, überfüllte Universitäten, wegrationalisierte Arbeitsplätze, kostspielige Sozialpolitik, zu wenig Kindergärten, keine Planstellen für Lehrer — was soll's also.“
32 Prozent der von der Frauenzeitschrift Brigitte kürzlich unter die Lupe genommenen Männer hielten nichts von der Gleichberechtigung und fanden dafür so triftige Gründe wie: „Männer wollen keine Frauen haben, die ein Kreuz wie ein Holzfäller und Pranken wie ein Bauarbeiter haben“, oder „auch für Spitzenpositionen sind Frauen zu emotionell veranlagt“, und „mit Eintreten des Mutterdaseins sehe ich die Frauen lieber in völliger Hinwendung zu ihren Kindern“. Zu fast 100 Prozent waren sich die Männer in der Tendenz einig: Bedauerndes Kopfschütteln, aber zum Zuge kommen könne nunmal eben nur die eine Hälfte der Menschheit. Die logische Konsequenz daraus: Die andere Hälfte will das Gegenteil beweisen, um zu ihrem Recht zu kommen.
Eheberatungsstellen in der Bundesrepublik machen immer öfter die Erfahrung: Konflikte, die den Bund fürs Leben sprengen, entstehen aus dem Wunsch und Wollen der Frauen nach Selbständigkeit. Selbst junge Mütter mit Kleinkindern klemmen sich entschlossen den Nachwuchs unter den Arm und versuchen es auf eigene Faust. 72 Prozent der Ehescheidungen reichen nicht die Männer ein, sondern ihre „bessere Hälfte“. Daß sie damit den harten Existenzkampf der ledigen Mutter auf sich nimmt, beweist, wie ernst sie es meint. Angesichts dieser Entwicklung ist man fast versucht zu behaupten, die Zahl der männlichen Junggesellen wächst nur deshalb, weil die Frauen das unbezahlte Dienstleistungsgewerbe Haushalt satt haben.
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Natürlich wird noch geheiratet. Aber dort, wo bestehende Familien durch aufgeschlossenere Erziehung für Jugendliche ein neues Bewußtsein schaffen können, wird die Ehe zumindest verzögert, hinausgeschoben. Als Alternative zur Familie gegen die Vereinzelung oder Vereinsamung wird die Wohngemeinschaft genannt. Unter Umständen ist diese Form des gesellschaftlichen Zusammen- oder Nebeneinanderlebens auch zu empfehlen. Auf dem freien Wohnungsmarkt sind Ein-bis Zwei-Zimmer-Appartements vergleichsweise teurer als Wohnungen für eine mehrköpfige Familie. Und vom Konsumprinzip, nach dem im Dutzend alles billiger ist, können Einzelgänger sowieso nicht profitieren. Allein bei Nahrungsmitteln zahlen sie für kleinere Mengen nicht nur mehr, sondern drauf. Ein Teil verdorbener Ware wandert immer in den Abfalleimer.
Was spricht denn nun eigentlich dafür, dem Staat seinen die Renten sichernden Kindersegen zu verweigern? Frauen suchen die materielle Unabhängigkeit und die Selbstbestätigung im Beruf. Sie umgehen den Streß der Doppel- und Dreifachbelastung als Hausfrau, Mutter und Arbeitnehmerin. Sie genießen ihre Freiheit. „Abends kommt man nach Hause, läßt die Klamotten fallen und legt die Beine hoch.“ Ein Blick auf den Anzeigenmarkt unter „Heirat und Partnerschaft“, unter „Vermischtes“ läßt allerdings vermuten, daß es Frauen und Männer ab etwa 35 Jahren auf die Dauer nicht genügt, die Beine hochlegen zu können.
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In der Bundesrepublik fällt den vom Innenministerium bemühten Politikern und Wissenschaftlern nichts Besseres ein, als etwas konsterniert auf ein verändertes Rollenverständnis bei Frauen hinzuweisen, nach dem die Mutterrolle nicht mehr im Mittelpunkt aller Wünsche steht, sondern zunehmend verdrängt wird von Berufsplänen. Und nun wird überlegt, wie dem abzuhelfen sei.
Ganz klar, die Mutterrolle muß aufgewertet werden, das Erziehungsgeld muß her, die Hausfrauenrente, ein Familiengründungsdarlehen. Tagesmütter rücken wieder ins Blickfeld. Die Teilzeitarbeit will man fördern. Ein Versprechen, das nur der geben kann, der stur und scheinbar naiv an der Arbeitsmarktlage und dem Wollen der Unternehmer vorbeisieht. Und endlich will man den Frauen schon helfen, ihre Rollenkonflikte zu überwinden. Mit verstärkter Propagandaarbeit. Die Bundesregierung wird wiedermal informieren, und diesmal dürfte auch die Opposition die zu erwartenden „Tips für Frauen im Haus“ in neuer Auflage nicht als Parteipropaganda verteufeln. Gilt es doch, die Frauen auf ihrem Alleingang in die Berufswelt wieder auf den rechten Weg zu bringen — Richtung Kreißsaal.
Die „Eheschließung begünstigende Darlehen“ gab es schon einmal, „wenn die künftige Ehefrau ihre Tätigkeit als Arbeitnehmerin spätestens im Zeitpunkt der Eheschließung aufgibt“. Zur „Verminderung der Arbeitslosigkeit“ verfiel man bereits im Juni 1933 auf diesen Trick.
Daß Frauen sich vermehrt in Gruppen solidarisieren, führt bei ihnen dazu, ihre Situation realistischer einzuschätzen. Führt weiter dahin, eigene Wege zu suchen, die ihnen eine zufriedenstellendere Lebensform garantieren sollen und wohl auch können — verglichen mit dem Lebensraum, den die Gesellschaft ihnen zugedacht hat. Die Chance, daß hier die Frauenbewegung noch mehr in ihrem Sinne erreichen wird, scheint größer zu sein als die, daß Frauen weiterhin geduldig darauf warten, was die 479 Männer im Bonner Parlament als ideale Rollenkombination zwischen Mutter und berufstätiger Frau ihnen zugestehen werden.
Quelle: Viola Roggenkamp, „Lysistrata geht um. Kein Pillenknick, sondern die Emanzipation der Frau lehrt die Gesellschaft das Fürchten“, Die Zeit, Nr. 18, 22. April 1977. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Autorin.