Kurzbeschreibung

Das Paradox, dass gerade die Kinder des Wirtschaftswunders zum Protest aufriefen, veranlasste ältere Liberale wie Horst Krüger, über die Widersprüche in der Motivation, im Auftreten und in den Aktionen der radikalen Studenten nachzudenken.

Gedanken eines liberalen Journalisten zum Charakter des Generationenkonflikts (18. Oktober 1968)

  • Horst Krüger

Quelle

Die Kinder des Liberalismus – Unsere APO, aus persönlicher Beobachtung

Äußerlichkeiten, Visuelles, Details zunächst. Ich kam, ich sah, ich hörte: Es fiel mir ihre Anmut, ihre Wohlausgestattetheit, ihre provozierende Sorglosigkeit auf. Ästhetisch gesehen sind sie ein reines Vergnügen; sie haben Stil. Noch nie war eine Jugend in Deutschland auf eine so entschlossene und zugleich überzeugende Weise jung. Dies ist eine erstaunlich schöne Generation jener Deutschen, die doch in der Welt als die Häßlichen etikettiert werden. Die Mädchen in ihren verwegenen Pullovern, die Jungens mit ihren imponierenden Backenbärten, sie erinnern an die apartesten Modelle aus der Werbebranche; kein Designer für Pepsi-Cola könnte sie attraktiver erfinden. Etwas Paris, etwas Greenwich Village, etwas Swinging London: heiter, verpopt, mit einem spontanen Sinn für die Effekte des Skurrilen und Grotesken, sind sie zunächst einmal die neuen deutschen Vertreter jener weltweiten Jugendkultur, die, von Amerika inspiriert, in allen westlichen Metropolen Fuß gefaßt hat. Ein uralter Regenschirm, rhythmisch auf – und zugeklappt nach den Redefiguren des Professors – ich kann mich der grotesken Ästhetik solcher Provokation nicht ganz entziehen. Dies ist eine, bei allem Geist der Revolte, merkwürdig fröhliche Generation.

Eine luxuriöse Generation hat man sie genannt; das Wort ist mir zu vieldeutig, zu schillernd, um das Phänomen zu fassen, aber sicher ist, daß ihr Lebensgefühl, diese skurrile Mischung aus Heiterkeit und Aggressivität, nicht ohne unsere Wohlstandsgesellschaft denkbar ist. Obwohl sie gegen die Konsumform der Gesellschaft im Überfluß protestierten, bleiben sie doch zunächst einmal deren Geschöpfe und Kreationen. Maskottchen des Spätkapitalismus, könnte man in ihrer eigenen Sloganform sagen. Sicher ist, daß unsere florierende Ökonomie sie mitproduziert hat. Es sind Revolutionäre der Prosperität.

Das zweite, das ins Auge fällt, ist ihre soziale Herkunft. In Gesprächen stellt sich bald heraus, daß ihre beredtsten Vertreter fast durchweg Kinder aus wohlhabenden Bürgerhäusern sind. Man weiß das: Es sind Söhne von Kaufleuten, Anwälten, Ärzten, Industriellen. Arbeiterjugend ist, entsprechend der Klassenstruktur unserer Universitäten, nicht vertreten. Kinder aus Bauernhäusern, aus dem Handwerk, der breiten Schicht der Unterprivilegierten fehlen. Von daher bekommt ihr revolutionärer Anspruch, die Arbeiter aus den Zwängen des Kapitalismus befreien zu wollen, den Zug ins Romantische und kraus Verstiegene.

Massenpsychologisch gesehen sind diese Studenten unendlich allein und isoliert; sie haben keine nennenswerte soziale Gruppe hinter sich, sieht man von den Sympathien aus Intellektuellenkreisen ab. Freischwebende Intelligenz.

Sie sprechen mit ihrem von Marcuse, Adorno, Habermas rasch übernommenen Soziologenjargon eine Sprache, die in ihrer starren, formelhaften Verkürzung an die Gebetsmühlen eines neuen Parteichinesisch erinnert. Es ist alles etwas zu rasch erstarrt und »umfunktioniert«.

Schließlich fällt die Geste kindlich-großartiger Selbstsicherheit auf, die mitunter blitzschnell Züge des Terrorismus annehmen kann, wie immer bei Kindern. Ein leidenschaftlicher Aktionswille paart sich mit einem Machtanspruch, der Heiterkeit auslösen müßte, wäre das Establishment selber nicht so verdutzt und ratlos.

Zivilcourage muß man ihnen attestieren. Keine Institution ist ihnen zu mächtig – prominente Schriftsteller, kapitale Verleger, etablierte Staatsmänner, von der Justiz und Polizei ganz zu schweigen: je stabiler die Macht, um so stolzer der Stil der Provokation. „Sie wissen, meine Herren Verleger“, sagte da einer zu unseren Buch-Kapitalisten, „daß wir Sie zu gegebener Zeit enteignen werden. Im Augenblick aber bitten wir um Ihre Solidarität. Gehen Sie morgen früh [] “. Sind das infantile Omnipotenzphantasien, die solche Worte beflügeln? Ein Hauch von pubertärer Großmannssucht geht sicher durch ihre Reihen. Ihr Verhältnis zur Masse und zur Macht ist emotional, unkritisch, aber wäre es nur pubertär, so würde es kaum Krisen dieses Umfangs auslösen.

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Quelle: Horst Krüger, „Die Kinder des Liberalismus – Unsere APO, aus persönlicher Beobachtung“, Die Zeit, 18. Oktober 1968. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

Gedanken eines liberalen Journalisten zum Charakter des Generationenkonflikts (18. Oktober 1968), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-226> [26.04.2024].