Quelle
Der schwache deutsche Nachbar
Die Doppelkrise der DDR:
Wirtschaftliche Schwierigkeiten verschärfen ideologische
Probleme
Bis zum 13. August 1961 unterschied sich die DDR durch drei Besonderheiten von allen kommunistischen Staaten Europas. Sie hatte in Berlin eine unkontrollierbare Grenze, wurde international nicht anerkannt und war der kleinere und schwächere Teil eines gespaltenen Landes. Alle drei Umstände hemmten und störten ihre innere Konsolidierung.
Als vor 18. Jahren der Ostteil Berlins gegen den Westteil abgeriegelt wurde, hatten über drei Millionen vor Ulbrichts Sozialismus die Flucht ergriffen – eine Zeitlang nicht unbedingt zum Schaden der DDR, die auf diese Weise ihre schärfsten Gegner los wurde. Doch auf die Dauer hält kein kommunistischer Staat eine offene Grenze aus – nicht nur weil er personell auszubluten droht; vielleicht noch wichtiger ist, daß erst die Einschließung aller Staatsbürger volle Gewalt über sie gibt. Für viele in der DDR war die Möglichkeit, von Zeit zu Zeit in den Westteil Deutschlands zu kommen, ein unentbehrlicher Bestandteil ihres seelischen und geistigen Haushalts. Vor allem beruhte ihre innere Freiheit großenteils darauf, daß es noch einen Ausweg in die äußere Freiheit gab. Solange sie diesen Staat noch verlassen konnten, mußten sie nicht alles von ihm dulden.
Der 13. August war unstreitig ein Triumph entschlossener Machtanwendung, seine psychologischen Wirkungen erscheinen kaum geringer als die tatsächlichen. Führung und viele Funktionäre der SED fühlten sich damals stolz und erleichtert zugleich, daß der nächtliche Überraschungscoup gelungen war, ohne daß der Westen vorher etwas davon bemerkt und nachher etwas dagegen unternommen hatte. Noch heute rühmt sich die Einheitspartei ihrer Tat.
Zweitbeste „Lösung“
Alles jedoch war ihr nicht gelungen. Seit Ende 1958 hatten der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow und der SED-Chef Walter Ulbricht versucht, das Berlinproblem in ihrem Sinne zu regeln. Durch ultimativen Druck und mancherlei Tricks wollten sie die drei Westmächte aus Berlin hinausmanövrieren und selbst allmählich die Kontrolle über die Westsektoren gewinnen. Aber sie scheiterten am zähen Widerstand der Amerikaner, Briten und Franzosen, zuletzt an der Härte Kennedys, und mußten sich schließlich mit der zweitbesten „Lösung“ begnügen: Die Mauer versperrte die Flucht aus der DDR, ließ aber das westliche Berlin unangetastet.
Für Ulbricht bedeutete das eine schwere Enttäuschung und für die Entwicklung der DDR eine ständige Belastung. Wir sind gewohnt, Westberlin immer nur als die Insel in fremder Umgebung zu sehen, permanent bedroht oder sich bedroht fühlend. Für die SED-Führung ist die lebhafte, auf jeweils neue Attraktion bedachte Stadt ein Fremdkörper im Leib ihres Staates; sie konnte ihn zwar abkapseln, aber er bleibt.
Erst Anfang der siebziger Jahre überwand die DDR ihr zweites Handikap. Sie wird als Staat nicht mehr in Frage gestellt, sondern ist von aller Welt anerkannt und in die Vereinten Nationen aufgenommen. Trotzdem blieben Reste des früheren Zustands: ein eigener Staat darf sie sein, doch eine eigene Staatsbürgerschaft wird ihr vielfach abgesprochen. Formal ist sie gleichberechtigt, sozial aber noch nicht: In die internationale Besuchsdiplomatie wird Ostberlin erst langsam einbezogen. Aus der Dritten Welt kamen auch Regierungschefs und Staatsoberhäupter, aus dem nicht-kommunistischen Europa bisher nur die Neutralen Kekkonen und Kreisky, während die Mitglieder der Nato es bei Außenministern beließen: Der norwegische und der belgische Außenminister machten Mitte der siebziger Jahre den Anfang, und vor zwei Wochen erschien François-Poncet als erster Außenminister der drei (für ganz Deutschland verantwortlichen) Westmächte.
Im Umgang mit der Außenwelt hat der ostdeutsche Staat eine überzeugende Selbstsicherheit noch nicht gewonnen. Seine Diplomaten sind teilweise ausgezeichnet, aber die zwanzigjährige Diskriminierung wirkt vielfaltig nach, nicht zuletzt weil sie sich auch nach der Anerkennung nur allmählich abbaut. Ein Blick ins Neue Deutschland genügt: Der geringste Besuch erhält auf Seite eins die feierlich steife Bedeutsamkeit eines historischen Ereignisses – Protokoll als Selbstbestätigung. Um François-Poncet zu empfangen, unterbrach Honecker sogar seinen Urlaub.
Das dritte Hindernis für die Konsolidierung der DDR bleibt auf absehbare Zeit bestehen. Das Gefühl nationaler Gemeinsamkeit hat in beiden deutschen Staaten sicher abgenommen; doch daß es abstirbt, ist höchst fraglich. Die Zeit, so scheint es, gehört mehr den Nationalismen als den Ideologien; und ihr höchster Gott, der Wohlstand, zeigt sich der DDR in deutscher Gestalt: ihr Konsum-„Modell“ ist die täglich durch den Äther einfallende Bundesrepublik.
Außerdem brachte die Ostpolitik Brandts und Scheel der Ostberliner Führung nicht nur die Anerkennung, sondern verlangte auch den Preis dafür: was ein normaler Staat sein will, muß zugänglich sein. Seit 1972/73 strömen die westlichen Deutschen über das Land; sechs Millionen Besucher werden pro Jahr gezählt, die Hälfte davon aus Westberlin, das auch für diese kleine, aber ständig wiederholte Wiedervereinigung eine eigene Rolle spielt. Walter Ulbricht wußte schon, weshalb er sich 1969 gegen Brandts offensive Entspannung sogleich zur Wehr setzte – so heftig und beharrlich, daß man ihn im Interesse des Berlinabkommens schließlich zum Rücktritt nötigen mußte. Wenigstens ein Zweck der Berliner Mauer wurde gemildert: Sie dient nur noch der Kontrolle, nicht mehr der Fernhaltung von Besuchern, die durch ihre Westlichkeit die innere Ruhe des SED-Staates stören könnten.
Auch heute ist die DDR noch ein Sonderfall unter den kommunistischen Ländern Europas, doch viel weniger als vor 18 Jahren. Mit der deutschen Nation hat sie weiter Mühe, aber sonst teilt sie das Schicksal ihrer Bruderstaaten. Unsere Neigung, die DDR isoliert zu sehen und allein aus sich selbst (und sowjetischen Direktiven) zu erklären, führt leicht zu Fehlurteilen. Weder die Intershops noch der Ärger mit eigenwilligen Intellektuellen sind ihre Spezialität. Die bestimmenden Faktoren gleichen oder ähneln sich überall im Osten. Das meiste, was in der DDR auffällt – im Guten wie im Schlechten – erweist sich bald als die deutsche Ausprägung einer allgemeinen Ost-Entwicklung. Einen Unterschied macht nur, daß im deutschen Frontstaat des Kommunismus fast alles schwerer wiegt – es ist, oder erscheint, folgenreicher oder auch gefährlicher.
Wer nach der Stabilität der DDR fragt, muß den ganzen Osten ins Auge fassen: Dort haben alle die gleichen Nöte mit der Ökonomie und der Ideologie. Die Verknappung und Verteuerung von Rohstoffen und Energie schlägt bekanntlich nicht nur direkt auf das östliche Europa durch, sondern auch indirekt. Dessen wirtschaftliche Öffnung zu Anfang der siebziger Jahre, ein schwerer Entschluß damals, beruhte auf der Annahme einer fortdauernden Konjunktur im Westen. Die Weltwirtschaftskrise hat den Osten also doppelt getroffen, fast möchte man sagen dreifach: Denn ein so unbewegliches System wird damit noch schwerer fertig. Welch ein Umstand allein, die politisch tabuisierten Preise der Wirklichkeit anzupassen. Nur Ungarn und die Tschechoslowakei schafften es bisher; die Polen machten es besonders ungeschickt und bekamen zweimal Unruhen; die DDR traut sich nicht und begnügt sich bisher mit bedeutungsvollen Hinweisen, welche Unsummen die Preissubventionen jährlich verschlingen.
Grenzen des Wachstums
Die ökonomische Krise wirkt deshalb so verheerend, weil sie sich mit der ideologischen verbindet. Die ideologische Krise besteht darin, daß auch die Kader kaum mehr an den Marxismus-Leninismus glauben. Sie sind daher außerstande, die viel beschworenen „Massen“ davon zu überzeugen, daß allein die Kommunisten den Weg in die Zukunft kennen und deshalb als Führer Vertrauen verdienen. Wo das ideologische Gottesgnadentum schwindet, bedarf es einer neuen Legitimation – bei näherem Hinsehen ist es die älteste der Welt: Eine Regierung muß sich durch gutes Regieren beweisen; sie muß etwas für ihre Leute tun.
Dieser Zwang hat sich zunächst segensreich ausgewirkt. Zum erstenmal rückten die Bedürfnisse der Bevölkerung neben die der Wirtschaft – in manchen Ländern fast gleichberechtigt. Zwei beliebige Beispiele: In der DDR wurden von 1971 bis 1978 fast ebenso viele Wohnungen gebaut wie in den zwanzig Jahren davor. In Polen wuchsen die Reallöhne in den sechziger Jahren um ein bis zwei Prozent, von 1971 bis 1978 dagegen um fünfzig Prozent. Obwohl die Wirklichkeit etwas differenzierter aussieht – die Besserung, die das letzte Jahrzehnt im ganzen östlichen Europa gebracht hat, läßt sich weder übersehen noch bestreiten. Außer dem Konsum umfaßt sie soziale Fürsorge vielfältiger Art, in den meisten Ländern auch mehr Freiheit für die Kunst und eine Lockerung des Umgangs zwischen Staat und Staatsbürger.
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Doch der Appetit kommt beim Essen. Wenn man erst einmal beginnt, langgehegte Wünsche zu erfüllen, wachsen die Erwartungen schneller als die Möglichkeit, sie zu erfüllen. Deshalb war auch nach Beginn der Konsum-Politik die Stimmung im Osten sehr bald schlechter als die Lage; aber das wäre auszuhalten gewesen, Appelle an die Vernunft hätten nicht vergeblich sein müssen. Den Rückschlag verursachte, daß die Wirtschaft aller Ostländer nicht einmal so viel schaffen kann, wie sie plante. Die Besserung ging nicht nur zu langsam; sie wurde gestoppt.
Auch für den Westen sind die „Grenzen des Wachsturns“ ein Problem, doch den Osten treffen sie sehr viel schwerer, weil er sich nicht schon in der satten, sondern noch in der gierigen Phase der Entwicklung befindet. Gerade in dem Augenblick, da auch die ewig zu kurz Gekommenen ihr Teil am materiellen und geistigen Fortschritt vor sich sehen, fällt wieder eine Barriere.
Die Enttäuschung darüber schlägt auf die regierenden Parteien zurück. […]
Zwar gibt es in den meisten Ost-Staaten selbstkritische Diskussionen über diesen Zustand, aber der Drang zur Moderne (oder was man dafür hält) hat viel mehr Kraft als der Wunsch nach Sozialismus (den man ohnehin schon zu haben meint). Führung und Bevölkerung denken hier ziemlich gleich, und, was noch wichtiger ist: die Führungen haben meist nicht mehr die Kraft, den Forderungen von unten zu widerstehen.
Die neuen Werte kommen aus dem Westen, von den Moden bis zu den Menschenrechten – auch das nicht ohne Schuld der Regierenden. Indem sie die hoch entwickelten Industrieländer quantitativ, in der Pro-Kopf-Produktion, zur Zielmarke erklärten, leiteten sie einen Prozeß ein, in dem der Westen auch qualitativ zum Vorbild wurde. Die politischen Folgen sind ruinös, weil damit ein Maßstab entstand, an dem sich das Versagen des östlichen Systems dauernd ablesen läßt.
Wer im Osten lebt, hat außerdem täglich vor Augen, was alles nicht funktioniert; und wenn er klug ist, weiß er, weshalb es gar nicht funktionieren kann. Hinzu kommt der Faktor Zeit. Daß es 1959 keine Bettlaken gab, war ärgerlich; und daß sie noch 1969 knapp waren, strapazierte die Geduld erheblich; aber daß 1979 auch noch das Fleisch zur Mangelware wurde, muß die Leute zu der Überzeugung bringen, daß sie von diesem System nichts mehr zu erwarten haben.
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Die gegenwärtige Schwäche des Ostens ist die Halbheit. Die Ideologie hat abgewirtschaftet, aber wird nicht abgeschafft und verhindert jede wesentliche Änderung. Die ökonomische Vernunft wird auf den Weg gebracht, aber, sobald sie in Fahrt kommt, sogleich gestoppt. Politisch überzeugt das System nicht mehr, und praktisch leistet es zu wenig. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Im nächsten Jahrzehnt werden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten größer und die Ansprüche der Bevölkerung nicht geringer. Der Zwang zu gründlicher Reform nimmt zu, aber ob die herrschenden Parteien noch die Kraft dazu haben, erscheint sehr fraglich.
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Totale Staatssicherheit
[…] Wenn man von praktischen Fragen absieht, mußte sich westliche Ostpolitik immer damit begnügen, positive Entwicklungen nicht zu behindern und negative nicht zu fördern. Auf das Nächstliegende, das Verhältnis zur DDR angewandt, heißt das: wir haben es dort jetzt, und noch mehr in Zukunft, mit einem Partner zu tun, der mit inneren Schwierigkeiten kämpft und mit dem umzugehen noch mühsamer wird. Deshalb wäre zu bedenken:
1. Die ideologische Krise trifft die DDR am meisten, weil sie nur kraft Ideologie eine Existenzberechtigung beanspruchen kann: wenn sie der Bundesrepublik nicht mehr um eine „historische Etappe“ voraus ist – weshalb dann keine Wiedervereinigung? Alle Beschwörung der deutschen Nation trifft die SED- Führung daher heute mehr und nützt, weil es sie zu schärferem Widerstand nötigt, weniger.
2. Das gilt auch für Westberlin. Dessen bloße Existenz belastet die DDR bereits – diese Last durch eine „nationale Aufgabe“ für Berlin noch zu erschweren, schadet der Stadt wie ihrer Umgebung.
3. Hätte vor fünf Jahren jemand prophezeit, westdeutsche Fernsehkorrespondenten würden DDR-Bürger dauernd, öffentlich und auch zu politisch heiklen Themen befragen, westdeutsche Zeitungen würden zum ständigen Diskussionsforum für DDR-Schriftsteller und deren Sorgen mit der Partei, die westdeutsche Währung schließlich würde zur dreiviertel-offiziellen zweiten Währung der DDR – der Mann wäre als Phantast erschienen. Nachdem all dies nun einige Zeit Wirklichkeit war, haben wir uns so daran gewöhnt, daß allgemeine Empörung ausbricht, wenn die DDR daran etwas ändert. Natürlich war es normal, was sich da entwickelte – aber nur für unsere, nicht für östliche Begriffe. Wir haben, wenn wir mit Ostländern umgingen, immer zwischen dem Richtigen und dem Möglichen unterscheiden müssen. Politisch bedenklich ist an Ostberlins Handlungsweise nicht, daß es etwas unternahm, sondern daß es die Proportionen verlor. Aus seiner jüngsten Strafgesetzerweiterung spricht eine Zwangsvorstellung von totaler Staatssicherheit – wenn dieser Geist sich durchsetzt, besteht Grund zur Sorge.
4. Was Eskalation heißt, haben Bundesrepublik und DDR in den letzten Jahren bis zur politologischen Seminarreife vorgeführt. Gewisse Normalität scheint es nur ganz oben und ganz unten zu geben, bei den Spitzen in Bonn und Ostberlin sowie beim Durchschnittsbürger, der seine Verwandten besucht.
Aber noch immer stimmt der Satz, daß mit einer stabilen und selbstsicheren DDR erheblich leichter umzugehen ist als mit einem Staat, der Existenzsorgen hat. Die Hoffnung, daß eine innerlich gestärkte DDR die Kraft zur inneren Reform aufbringt, hat wohl getrogen. Trotzdem werden wir uns weiter bemühen müssen – obwohl es schwieriger wird, weniger Erfolg verspricht und gar keinen Dank einbringt.
Quelle: Peter Bender, „Der schwache deutsche Nachbar“, Die Zeit, Nr. 33/1979. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/1979/33/der-schwache-deutsche-nachbar/komplettansicht