Kurzbeschreibung

An ihrem zehnten Jahrestag zieht Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Bilanz der Regierungskoalition aus SPD und FDP. In diesem Textauszug bezieht er sich auf den Wandel in der Gesellschaft, liefert eine kritische Betrachtung der Schwierigkeiten und erkennt an, dass die Koalition auf einigen Gebieten noch Arbeit zu leisten hat.

Zehn Jahre sozialliberale Koalition (19. Oktober 1979)

Quelle

Zehn Jahre vernünftige Politik
Die sozial-liberale Koalition – ein Bündnis der Hoffnung

I.
„Wir machen es!“ Als Willy Brandt und Walter Scheel in der Wahlnacht des 28. September 1969 sich dies versprachen, da faßten sie im doppelten Sinne einen kühnen Entschluß.

Zum einen: Man hatte sich in der Bundesrepublik an große Regierungsmehrheiten gewöhnt; die sozial-liberale Koalition aber, noch dazu ohne dominierende Stellung im Bundesrat, verfügte gegenüber der CDU/CSU nur über einen Vorsprung von zwölf Mandaten. Einzig Konrad Adenauer begann 1949 auf einer ähnlich schmalen Basis. Doch hatte er es – mit Ausnahme der Sozialdemokraten – mit einer zersplitterten Opposition zu tun, die im Sog seiner Politik mehr und mehr der Auflösung verfiel.

Zum anderen: Erstmals sollte in der Bundesrepublik ein demokratischer Machtwechsel gegen die Konservativen durchgesetzt werden, die sich hierzulande stets als die einzig „Staatstragenden“ zu betrachten pflegen. Sozialdemokratie und Liberalismus waren seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die politischen Kräfte, in denen sich die neuen sozialen und geistigen Strömungen der Zeit sammelten. Aber wann immer in Deutschland ihre Teilnahme an der politischen Macht anstand, wurde versucht, sie durch Diffamierung und Aufspaltung, durch Ablenkung oder Zerschlagung der fortschrittlichen Kräfte zu verhindern. So erging es der bürgerlichen Freiheitsbewegung 1848, so den Liberalen im Vorfeld der Reichsgründung beim preußischen Verfassungskonflikt. Danach wurde die Sozialdemokratie verfemt und verfolgt. 1879 nannte Bismarck die politischen Ziele der Nationalliberalen „Untergrabungen des Reichsbestandes gerade so gut wie die sozialdemokratischen Untergrabungen“. In der Weimarer Republik bildeten Antiliberalität und der Kampf gegen die soziale Demokratie den gemeinsamen Nenner der Reaktion und aller gegen die Republik anrennenden Kräfte, wie uneinheitlich sie im übrigen sein mochten.

Dieser historische Hintergrund stand vielen Bürgern 1969 vor Augen. Sie sahen einen großen Schritt vorwärts, wenn jetzt der demokratische Machtwechsel nicht bloß versucht wurde, um dann Episode zu bleiben, sondern gelang.

Übrigens wäre der Entschluß zur Bildung der sozial-liberalen Koalition wohl kaum gefaßt worden, wenn SPD und FDP wenige Monate zuvor sich nicht erstmals zu einer Koalition auf Bundesebene zusammengefunden hätten: bei der Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten. Heinemann war ein Bürger im besten Sinne: als bekennender Christ, als Mann des unbeirrbaren Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, auf den Neubeginn mit der CDU hoffend und tief enttäuscht, mit seiner Gesamtdeutschen Volkspartei um den Zusammenhalt des Vaterlandes; kämpfend und gescheitert, schließlich Sozialdemokrat – so verband er Engagement und Nüchternheit, den Willen zur Reform mit dem Sinn für das Bewahren, soziale Verpflichtung und Liberalität.

Für viele war die sozial-liberale Koalition ein Bündnis der Hoffnung. Die Bundesrepublik bestand gerade zwanzig Jahre. In dieser Zeit war atemlos und wirtschaftlich erfolgreich für den Wiederaufbau gearbeitet worden. Aus dem politischen, moralischen und wirtschaftlichen Chaos nach dem Ende des Krieges war eine respektable Republik entstanden. Aber es gab auch eine Reihe von „alten Zöpfen“, wie es die FDP in ihrem Wahlkampf formulierte. In den sechziger Jahren war erkennbar geworden, daß das neugewachsene Selbstgefühl der Deutschen und daß die aufgestauten Probleme eine veränderungsbereite Republik verlangten. Die Große Koalition war 1966 diesem Verlangen zwar mit der Beteiligung der SPD entgegengekommen; doch konnte die Große Koalition angesichts der Unbeweglichkeit der CDU/CSU ihre Reformaufgaben nur ungenügend erfüllen, vor allem galt dies für die Außen- und Deutschlandpolitik. Auch war die parlamentarische Opposition der FDP in den späten sechziger Jahren zu schwach gewesen – die außerparlamentarische war die Folge.

Es wäre ein Irrtum, das damalige Aufbegehren der jungen Generation, vor allem in den Reihen der Studenten, als linksradikale Entgleisung abzutun. Die entstandene Unruhe war ein Zeichen für die Bereitschaft zum demokratischen Engagement, sie zeigte Sensibilität für die Notwendigkeit von Veränderungen und Reformen in unserem Land. Den deutschen Konservativen, die solche Notwendigkeiten seit je bestritten haben, möchte man raten, die eigenen Klassiker zu lesen. Edmund Burke schrieb bereits 1790: „Einem Staat ohne Möglichkeiten des Wandels fehlen zugleich die Möglichkeiten der Selbsterhaltung. Ohne solche Möglichkeiten riskiert er den Verlust sogar jener Bestandteile seiner Verfassung, die er als geheiligste zu bewahren wünscht.“

II.
Im Mittelpunkt der ersten Regierungserklärung Willy Brandts am 28. Oktober 1969 standen folgerichtig innere Reformen. Aber zum eigentlichen Kampffeld wurde zunächst die neue Ostpolitik.

Ihre Stationen müssen hier nicht aufgezählt werden. Ihre Schwierigkeit lag nicht allein, nicht einmal in erster Linie darin, mit Geduld und Augenmaß über Abgründe von Fremdheit und gegenseitigem Mißtrauen hinweg Brücken zu den Nachbarn im Osten zu schlagen. Wesentliche Hindernisse für die Verwirklichung dieser Politik kamen vielmehr von der Opposition der CDU/CSU, die mit allen Mitteln die Verträge zu Fall bringen wollte. Dabei ging es nur vordergründig um eine angeblich leichtfertige Verhandlungsführung oder um das behauptete Wegschenken von Rechtspositionen. Im Kern ging es um das Feindbild der Sowjetunion und des Kommunismus und um seine innere Funktion im Kampf um die verlorene Macht. Darum geht es übrigens der Opposition auch heute noch.

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Bundesregierung und Koalition haben mit ihrer Ost- und Deutschlandpolitik vier miteinander verbundene Ziele verfolgt: den Frieden zu festigen, Berlin zu sichern, eine Versöhnung mit den Völkern einzuleiten, die unter Hitlers Aggression besonders schwer gelitten hatten, und das Miteinander der Menschen im geteilten Deutschland zu erleichtern und damit zum Zusammenhalt der Nation beizutragen. Die Ostverträge erhalten die Option für eine Einheit Deutschlands. Sie sind zugleich gegen die Spaltung Europas gerichtet.

Die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition war stets in die Politik des westlichen Bündnisses eingebettet, welche die Aufgabe militärischer Sicherheit mit der Zielsetzung politischer Verständigungsbereitschaft verbindet. Die Vereinigten Staaten und unsere anderen westlichen Verbündeten haben diese Politik unterstützt – sie wäre sonst nicht zu verwirklichen gewesen. Die in den sechziger Jahren aufscheinende Gefahr einer außenpolitischen Isolierung der Bundesrepublik wurde abgewendet. Unsere auf Gleichgewichtserhaltung bedachte Außenpolitik wurde sogar zur entscheidenden Voraussetzung für den ganzen europäischen Entspannungsprozeß: Helsinki, Wien (MBFR) usw.

Unserem Land ist dadurch neues Vertrauen und vermehrtes Ansehen in der Welt zugewachsen, damit freilich auch mehr und weiterreichende politische Verantwortung. []

III.
Dem Bemühen um die Festigung des äußeren Friedens entsprach eine Politik der inneren, sozialen Friedenssicherung. Diesem Ziel dienten und dienen die inneren Reformen der sozialliberalen Koalition.

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Es bedeutet viel für den sozialen Frieden in unserem Land, daß der Koalition eine vorbildliche Ausgestaltung unserer Wirtschaftsverfassung gelungen ist. Für mich sind das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 und das Gesetz über die Mitbestimmung in den Großbetrieben von 1976 Meilensteine dieser Entwicklung. Sie markieren die eigentliche Ursache für unseren relativen wirtschaftlichen Vorsprung vor anderen demokratischen Industriegesellschaften; die weitreichende Mitwirkung der Arbeitnehmer und ihrer autonomen Gewerkschaften – weiterreichend[er] als in jedem anderen Staat der Welt. Die Fähigkeit der Tarifpartner, ihre Konflikte kompromißweise und partnerschaftlich zu lösen, das heißt: kompromißweise Verträge zu schließen, bedarf staatlicher Flankierung, wenn sie nicht überwuchert werden soll. Dies verlangt nach einer auf „soziale Symmetrie“ zielenden Sozial- und Gesellschaftspolitik.

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V.
Das Grundgesetz hat sich für eine offene Gesellschaft entschieden, die der Vielfalt von Überzeugungen und Meinungen, von Lebensformen und Lebensstilen Raum geben muß. Diese – auch im Hinblick auf ethische Normen und Wertvorstellungen – bewußt gewollte Pluralität war in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik, bedingt durch Nachkriegsnot, Wiederaufbau und durch eine konservative Gesellschaftspolitik, sicherlich zu kurz gekommen.

Zu den wichtigen Leistungen der sozialliberalen Koalition zählt es, in den letzten zehn Jahren die Möglichkeiten für mehr soziale, geistige und politische Vielfalt verbessert zu haben. Es gibt weniger Enge, mehr Bereitschaft zur Toleranz.

Am Beispiel der Strafrechtsreform möchte ich verdeutlichen, wie die Gesetzgebung dazu beigetragen hat. Im Einklang mit dem Grundgesetz war es schon des längeren Einsicht der Wissenschaft, daß es nicht Aufgabe des Strafrechts sein könne, die Sittenvorstellungen einzelner Gruppen für die ganze Gesellschaft verbindlich festzulegen. Das Strafrecht hat statt dessen Gefahren vom einzelnen oder der Gesellschaft, also Sozialschädlichkeit abzuwehren.

Die Pluralität unserer demokratischen Ordnung fordert von allen Gruppen den Verzicht darauf, ihre Auffassungen denen aufzuzwingen, die sie nicht teilen, insbesondere mit den Mitteln des Strafrechts. Dem entsprach unser Reformziel. Das bedeutet nicht Verzicht auf Wertsetzungen in der Rechtsordnung überhaupt, wohl aber Beschränkung auf jene sittlichen Normen, die das Grundgesetz als dem Staate vorgegeben erklärt hat oder bei denen eine allgemeine Übereinstimmung in der Gesellschaft besteht.

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Erfolge und Leistungen der sozial-liberalen Koalition haben Gewicht für die Zukunft unseres Landes. Gab es keine Fehler und Versäumnisse? Dies kann man nicht behaupten.

Ich weiß, daß es bei vielen Bürgern auch enttäuschte Hoffnungen gibt. 1969 waren die Erwartungen sehr groß, daß sich nach zwei Jahrzehnten konservativer Politik in der Bundesrepublik nun neue Horizonte öffnen würden. Bei manchen stand die Begeisterung vor jener Nüchternheit und Beharrlichkeit, die eine Politik der Reformen erst erfolgreich machen können. Der politische Alltag hat uns zu dieser Nüchternheit zurückgeführt, ohne die es politischen Fortschritt in einer demokratischen Gesellschaft nicht geben kann. Aber, und da komme ich auf meine Bemerkungen zur Friedenspolitik zurück: Die vielen Widerstände gegen Reformen hätten ohne den Schwung, den Hoffnungen und Erwartungen mit sich bringen, nicht überwunden werden können. Selbstkritisch füge ich an, daß sich in den letzten Jahren die Balance zwischen Nüchternheit und Beharrlichkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite Hoffnung und phantasiebeflügelnder Erwartung zugunsten des ersteren verschoben hat.

Viele haben aber die Widerstände gegen neue politische Ansätze der sozial­liberalen Koalition unterschätzt. Sie waren beträchtlich: Seit fast zehn Jahren kämpft die Koalition um die Durchsetzung ihrer politischen Ziele gegen eine Bundesratsmehrheit, die von CSU und CDU bestimmt ist und die zahlreiche vom Bundestag beschlossene Gesetze zu blockieren oder zu verwässern sucht. []

Ich spreche von den oppositionellen Widerständen, nicht, um von eigenen Fehlern und Versäumnissen abzulenken. Ich möchte auf zwei Bereiche eingehen, wo es auf die Lernfähigkeit unserer Politik in besonderem Maße ankommt, wenn wir die Zukunft der achtziger Jahre bestehen wollen: Ich meine das Problem einer Integration der Gastarbeiter, und ich meine die wechselseitigen Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und junger Generation.

Unsere Gesellschaft hat die Hilfe von Gastarbeitern in Anspruch genommen, weil wir ihre Arbeitskraft für den erfolgreichen Ausbau unserer Wirtschaft, für den wachsenden Bedarf an Arbeit und Dienstleistungen brauchten. Für ihre Integration haben wir bisher zu wenig getan. Die sich daraus ergebenden Probleme, für die einzelnen Menschen wie für den inneren Frieden unserer Gesellschaft, werden drängender. Inzwischen sind ihre Kinder herangewachsen; viele sind bereits hier geboren, sie sprechen deutsch besser als die Heimatsprache ihrer Eltern, und viele von ihnen wollen nicht in das Land ihrer Väter zurückkehren. Für mich ist klar, daß sie die Chance bekommen müssen, nicht bloß formal deutsche Staatsbürger zu werden, wenn wir unserer Verantwortung gerecht werden wollen.

In der jungen Generation hat ein einzelner Vorgang die verantwortlichen Politiker in der Bundesrepublik viel Vertrauen gekostet: Ich meine den „Extremistenbeschluß“ von 1972. Als der Bundeskanzler und die Regierungschefs der Länder diesen Beschluß faßten, wollten sie – auf der Grundlage des bestehenden und nur bestätigten Rechts – zu einer Vereinheitlichung der Überprüfungs- und Einstellungspraxis von Bewerbern für den öffentlichen Dienst gelangen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Statt dessen kam es vielerorts zu bürokratischen Auswucherungen des Überprüfungsapparates, von denen wohl kaum jemand anfangs eine Vorstellung hatte. Daraus entstanden Ängste bei der jüngeren Generation, weit über den sehr begrenzten Kreis derer hinaus, die tatsächlich Anlaß hatten, eine Überprüfung zu fürchten.

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Wenn von Korrekturen die Rede ist, muß auch die Rentendiskussion von 1976 erwähnt werden. Die Rentenfinanzierungsprognosen erwiesen sich als zu optimistisch. Zwar hatte dies mit „Betrug“ (so F. J. Strauß) nichts zu tun. Wohl aber hatten wir nüchterne ökonomische Prognosen für realistisch gehalten, die von der späteren Entwicklung und von neuen ökonomischen Prognosen überholt wurden. Es war bitter, solche Fehler einsehen und sie öffentlich eingestehen zu müssen. Trotzdem habe ich dies noch im Dezember 1976 getan.

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Die Fähigkeit zum gemeinsamen politischen Handeln der Koalition hat drei Voraussetzungen: einmal eine grundsätzliche programmatische Nähe zueinander, die viele politische Bereiche betrifft und deren historische Dimension ich zu Anfang kurz erläutert habe; zum anderen den politischen Willen und die Fähigkeit zum Kompromiß, das heißt: Gemeinsamkeit für die politische Alltagsarbeit immer wieder neu herzustellen, wenn Probleme und Entwicklungen das erfordern; und drittens die Tatsache, daß Sozialdemokraten und Freie Demokraten sich als eigenständige politische Kräfte gegenseitig respektieren.

Diskussionsbereitschaft und Fähigkeit zum Kompromiß haben nichts mit politischer Zerrissenheit oder Handlungsunfähigkeit zu tun, wie sie die Opposition der Regierung vorzuwerfen pflegt. Wer Konflikte leugnet und Kompromisse ablehnt, der taugt nicht zu Demokratie und innerem Frieden. []

Die Fähigkeit hierzu werden wir Deutschen in den achtziger Jahren stärker brauchen als bisher. Wir werden uns mit großen Schwierigkeiten konfrontiert sehen. Rüstungswettlauf oder Rüstungsbegrenzung, Nord-Süd-Konflikt oder Partnerschaft, Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung im Spannungsverhältnis zu Energieverknappung und Umweltschutz, Integration der Jugend, Verwirklichung gleicher Rechte für Frauen: das sind nur einige Stichworte. Nichts davon ist leichthin zu haben oder zu entscheiden, und von manch einer bequemen Gewohnheit werden wir Abschied nehmen müssen.

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Die historische Dimension Europas umfaßt Vielfalt und Gemeinsamkeit. Dieses Kapital ist für Europa zu nutzen. Sozialdemokraten und Freie Demokraten haben Voraussetzungen dafür geschaffen. Sie haben die Fähigkeit, darauf aufzubauen: Das Bündnis aus Sozialdemokraten und Liberalen hat Zukunft in Deutschland.

Quelle: Helmut Schmidt, „Zehn Jahre vernünftige Politik“, Die Zeit, Nr. 43/1979. © Die Zeit. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.