Quelle
Sozialstruktur und soziale Schichtung in der Bundesrepublik Deutschland
Die soziale Entwicklung der Bundesrepublik ist durch Steigerung des Sozialproduktes und die damit verbundene allgemeine Erhöhung des Lebenshaltungsniveaus charakterisiert. […]
Diese beträchtliche Steigerung des Sozialproduktes und der Einkommen hat die Lebenslage der Bevölkerung insgesamt wesentlich angehoben und eine kollektive Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Einkommensschichten herbeigeführt, die auch zur Ausbildung subjektiver Zufriedenheit mit den eigenen wirtschaftlichen Verhältnissen bei der Masse der Bevölkerung geführt hat. Meinungsbefragungen im Jahre 1969 und 1972 weisen aus, daß rund 60 bis 70 Prozent der Befragten ihre eigene wirtschaftliche Lage als gut beurteilten und nur etwa 10 Prozent sie für schlecht hielten.
Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und Erhöhung sowie Dynamisierung der Renten bilden die Grundlage der subjektiven Wahrnehmung wirtschaftlicher Sicherung und ausreichender Güterversorgung. Mit der Ausnahme einzelner Randgruppen, insbesondere von Personen, die aus biographischen Sondersituationen aus dem sozialpolitischen Sicherungssystem herausfallen, ist Armut kein kollektives Schicksal einer sozialen Schicht mehr.
Dennoch bestehen in der Einkommensverteilung große Unterschiede. […] Die höchsten Einkommen beziehen die Selbständigen, und unter den Durchschnittseinkommen liegen die Rentner. Die tatsächliche Lebenslage wird durch das Haushaltseinkommen bestimmt. Die in einem Haushalt zu versorgende Zahl von Personen und die in ihm zusammenfallenden Einkommen verschiedener Personen bestimmen das für den einzelnen verfügbare Einkommen und die darauf sich gründende Lebenshaltung. […]
Eine Schichtung der Einkommensbezieher nach der Höhe der steuerpflichtigen Einkünfte ergab für das Jahr 1965, daß 50 Prozent aller Steuerpflichtigen über 20 Prozent aller Einkünfte verfügte[n]. Auf weitere 40 Prozent der Steuerpflichtigen entfielen 40 Prozent des Gesamteinkommens, 9 Prozent hatten einen Anteil von 25 Prozent des Einkommens, während 1 Prozent über die restlichen 15 Prozent verfügten. […]
Der kollektive Einkommensanstieg hat zu einer breiten Streuung von langfristigen Konsumgütern geführt. Fernsehgeräte, Kühlschränke und Waschmaschinen sind zu ubiquitären Einrichtungsgegenständen des heutigen Haushaltes geworden; ihr Besitz differenziert nicht mehr nach sozialen Schichten. Diese Gegenstände sind nicht bloßer Ausdruck von Prestigestreben und Ergebnis von Werbesprüchen, sie repräsentieren faktische Teilhabe an Wohlstandsgütern, vor allem aber sind sie Voraussetzungen für die Teilnahme der Gesamtbevölkerung an der Massenkommunikation, für die Strukturwandlung des Einzelhandels und die Entlastung der erwerbstätigen Hausfrauen. Die weitere Verbreitung von derartigen Gütern, insbesondere von Personenkraftwagen, Telefon und Geschirrspülmaschinen ist nicht nur als Konsumverhalten zu erfassen, sondern hat seinerseits eine wichtige Funktion für die weitere Rationalisierung der Haushaltsführung, des Einzelhandels und der Dienstleistungen. Personenkraftwagen sind über die Berufskategorien noch ungleichmäßig verteilt: einen PKW besaßen 1969 etwa 50 Prozent der Arbeiterhaushalte, 60 Prozent der Angestellten- und 70 Prozent der Beamtenhaushalte, während Haushalte von Landwirten und Selbständigen zu 80 Prozent über ein Kraftfahrzeug verfügten. Noch ungleichmäßiger ist der Besitz eines Telefons verteilt: nur 12 Prozent der Arbeiterhaushalte, aber 50 Prozent der Angestellten- und Beamtenhaushalte hatten Telefonanschluß. Im Gegensatz zu anderen Ländern zählt das Telefon in Deutschland noch nicht zur Normalausstattung des Haushaltes, wobei wohl nicht nur Unterschiede in der Kaufkraft eine Rolle spielen. […]
Zusammenfassend kann man festhalten: Von 1950 bis 1970 hat sich das Durchschnittseinkommen der Haushalte mehr als vervierfacht. Das häufigste Einkommen lag stets erheblich unter dem Durchschnittseinkommen, was insbesondere durch die große Zahl von Rentnerhaushalten bewirkt wird. Nahezu gleichbleibend bezog die Hälfte aller Haushalte rund ein Viertel des gesamten verfügbaren Einkommens, die Verteilungsdisparität hat sich über diesen Zeitraum nicht verändert. Innerhalb der Einkommensgruppen trat eine Nivellierungstendenz auf, doch ist das Durchschnittseinkommen der Selbständigen-Haushalte erheblich stärker gestiegen als das der übrigen Gruppen. Das Lebenshaltungsniveau wird nicht nur durch das Erwerbseinkommen und die Vermögenserträge bestimmt, es wird durch das Sozialeinkommen ergänzt. Ansprüche aus der Renten-, Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Arbeitslosenversicherung weisen auch jenen Personen Einkommen zu, die vorübergehend oder dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Insbesondere die Höhe der Rentenversicherung beeinflußt die Lebenslage der Bevölkerung und das Konsumniveau. Die Dynamisierung der Renten verhindert ein permanentes Nachhinken der Renten gegenüber der Lohn- und Gehaltsentwicklung und sichert eine ausgeglichenere Lebenshaltung der älteren Menschen. Das sozialpolitische Sicherungssystem hat immer größere Teile der Bevölkerung erfaßt und sichert dem Träger von Rentenansprüchen eine unabhängige Lebensführung auch bei Krankheit und im Alter. Allerdings bleiben die Hausfrauen, die keine Rentenansprüche aus eigener Erwerbstätigkeit erworben haben, auf die Versorgung über die Renten der Ehemänner angewiesen. Sie sind daher auf den Familienverband zur Sicherung der Lebensführung angewiesen. Die Eltern sind für die Sicherung des Alters von den Kindern unabhängig geworden; sie können zum Teil durch Einkommensübertragungen den Aufbau des Haushalts der Kinder unterstützen. Da jedoch die Rentenhöhe an die Höhe der letzten Einkommen gebunden ist, tritt durch diese Sozialeinkommen keine wesentliche Veränderung der Einkommensdisparität zwischen den sozialen Gruppen ein.
Die Lebenslage wird schließlich und zunehmend von der Versorgung mit Leistungen der öffentlichen Hand bestimmt: Bildungschancen, Verkehrs- und Umweltbedingungen, Gesundheitsvorsorge und Freizeitmöglichkeiten sind durch öffentliche Leistungen zu sichern. Ihre Inanspruchnahme ist unabhängig vom Erwerbseinkommen, private Aufwendungen könnten diese Güter auch nicht schaffen. Gerade auf diesem Gebiet ist neuerdings eine breite Diskussion in Gang gekommen. Sie ist charakterisierbar mit den Stichworten: öffentliche Armut und privater Reichtum, Bedürfnisweckung durch öffentliche Angebote von Sozialgütern (insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen), Steigerung der Lebensqualität und Strukturdifferenzierung durch horizontale Versorgungsdisparitäten in der Lebenslage. […]
Quelle: M. Rainer Lepsius, „Sozialstruktur und soziale Schichtung in der Bundesrepublik Deutschland“; abgedruckt in Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz, Hrsg., Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz. Stuttgart, 1974, S. 272–75. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors.