Kurzbeschreibung

Die Bundesregierung versuchte Einsparungen zu machen, indem eine neue Regelung in Kraft gesetzt wurde, der zufolge Kinder von Gastarbeitern, die in ihren Heimatländern zurückblieben weniger finanzielle Unterstützung erhielten als diejenigen, die ihren Eltern in die Bundesrepublik folgten. Die Maßnahme sollte sich als Fehlschlag erweisen, da die Männer, die sich bereits in Deutschland aufhielten nun zunehmend begannen, ihre Frauen und Kinder nachzuholen, da die Sozialleistungen für letztere in der BRD höher waren als in den Heimatländern. Durch die Familienzusammenführung wird der seit einem Jahr praktizierte Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte wieder unterlaufen, da die Frauen der Gastarbeiter mit ihren Kindern in die Bundesrepublik zogen und auf den bereits übersättigten Arbeitsmarkt drängten.

Wachsender Zuzug von Gastarbeiterkindern (8. November 1974)

  • Christian Schneider

Quelle

Von einer Invasion von Gastarbeiterkindern?
Eine Einsparung die teuer werden kann

Bonns Unterhändler, angesichts des zu erwartenden Haushaltsdefizits auf strikte Sparsamkeit eingeschworen, waren wieder einmal erfolgreich, nachdem auch die Türkei als letztes von fünf Ländern, nach Spanien, Portugal, Jugoslawien und Griechenland, einem neuen Kindergeldabkommen zugestimmt hatte, das der Bundesregierung jährlich rund zwei Milliarden Mark sparen helfen soll: Die in den Heimatländern der Gastarbeiter verbliebenen Kinder erhalten niedrigere Beihilfen als die in der Bundesrepublik lebenden. Noch sind diese Abkommen nicht in Kraft getreten, da mehren sich freilich schon die Zweifel, ob der von Bonn erhoffte Spareffekt auch wirklich eintreten wird.

Was die Bundesrepublik als Folge dieser Abkommen in den nächsten Monaten möglicherweise zu erwarten hat, formulierte das in Istanbul erscheinende Massenblatt Hürryet schon zwei Tage nach der Vertragsunterzeichnung in Ankara drastisch so: „Deutsche, haltet euch fest, jetzt kommen die türkischen Kinder!“ Um auch dem Letzten die Zweifel an dieser Absicht zu nehmen, illustrierte Hürryet seine Schlagzeile mit dem Bild einer türkischen Mutter, die zusammen mit ihrer vielköpfigen Kinderschar inmitten von Koffern und Kisten auf den Abflug nach Deutschland wartet.

So unwahrscheinlich ist die angekündigte Türken-Invasion gar nicht. Schon Anfang Oktober machte das Diakonische Werk der evangelischen Kirche, das sich speziell der Ausländerbetreuung widmet, warnend darauf aufmerksam: „Es liegen Berichte vor, daß ausländische Arbeitnehmer schon jetzt allein wegen der höheren Kindergeldbeträge ihre Kinder in die Bundesrepublik holen.“ Ähnliche Beobachtungen machte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der unter den Gastarbeitern wegen der neuen Kindergeldregelung eine „erhebliche Beunruhigung“ – so der Ausländerreferent Hans Maier des DGB in München – ausgemacht hatte und sich deswegen zur Herausgabe interner Argumentationshilfen für Gastarbeiterveranstaltungen genötigt sah.

Komitees und Parolen

Nach den neuen Bonner Kindergeldabkommen, die am 1. Januar 1975 in Kraft treten sollen, gibt es künftig für den in der Bundesrepublik lebenden Nachwuchs der Gastarbeiter dasselbe Kindergeld wie für Deutsche, während für die in der Heimat Verbliebenen beträchtlich niedrigere Beihilfen gewährt werden. Begründung der Bundesregierung: Da in den Heimatländern der Gastarbeiter die Lebenshaltungskosten niedriger seien als in der Bundesrepublik, bräuchten die Beihilfen auch nicht so hoch zu sein.

Diese Regelung ist nicht ohne Folgen geblieben. Kaum lag das neue Bewertungssystem für die unterschiedliche Bewilligung von Kindergeld auf dem Tisch, organisierten sich überall in der Bundesrepublik sogenannte Ausländer-Komitees, die in gleichlautenden Parolen „Soziale Gerechtigkeit für alle“ forderten. Vielerorts nimmt man jetzt verschreckt zur Kenntnis, daß diese Ausländer-Komitees meist mehr oder weniger stark linksorientiert sind, daß sie sich demnächst auf Bundesebene zusammenschließen wollen und völlig außer Kontrolle des DGB oder ähnlicher Organisationen geraten sind. Özegär E., türkisches Mitglied des Ausländer-Komitees in München: „Wir nehmen unsere Sache jetzt selbst in die Hand. Wir wollen uns nicht mehr diskriminieren und wegschmeißen lassen.“ Einig sind sich Ausländer-Komitees und Gewerkschaftsfunktionäre in der Beurteilung, daß diese neue Bewegung einen noch viel stärkeren Zulauf hätte, „wenn nicht so viele Angst um ihren Arbeitsplatz hätten.“

Für den DGB und die kirchlichen Organisationen zeichnen sich auch noch andere Folgen der neuen Kindergeldregelung ab. DGB-Maier: „Wenn die jetzt verstärkt ihre Familien in die Bundesrepublik nachholen, um in den Genuß des vollen Kindergeldes zu kommen, dann werden wir vor völlig neue soziale Probleme gestellt.“ Auch beim Diakonischen Werk in Stuttgart glaubt man, daß die dann anfallenden Kosten für neue Wohnungen, Kindergärten, Kinderhorte, Schulen und ähnliche Einrichtungen letztlich höher sind als die von der Bundesregierung mit der unterschiedlichen Kindergeldzahlung beabsichtigten Haushaltseinsparungen.

Weniger Freizügigkeit?

Drängen schon jetzt jährlich etwa 70 000 der in der Bundesrepublik lebenden Gastarbeiterkinder nach ihrem Schulabschluß auf den deutschen Arbeitsmarkt, wo die Lehrstellen ohnehin von Jahr zu Jahr knapper werden, so wird sich diese Situation nach Ansicht des DGB künftig eher noch verschärfen. Würden allein alle in Deutschland lebenden Türken ihre Kinder nachkommen lassen, würde diese Nationalitätengruppe um etwa eine halbe Million zunehmen. Da Kinder bis zu 16 Jahren keine Aufenthaltserlaubnis brauchen, hätten die deutschen Behörden kaum eine Möglichkeit, die Familienzusammenführung zu unterbinden. José Moll, Redakteur für das spanische Ausländerprogramm beim Bayerischen Rundfunk, befürchtet, daß angesichts dieser Prognose sich die Bundesregierung sehr wohl veranlaßt sehen könnte, die bis jetzt freizügige Regelung bei der Familienzusammenführung drastisch einzuschränken, was neue menschliche Probleme schaffen würde.

Letzte Konsequenz der neuen Kindergeldregelung: Durch die Familienzusammenführung wird der seit einem Jahr praktizierte Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte wieder unterlaufen, weil nicht nur Jugendliche, sondern auch die mitkommenden Mütter auf den Arbeitsmarkt drängen. Sollten diese Familiennachzügler dann keinen Arbeitsplatz bekommen, so fürchtet DGB-Ausländerreferent Maier, „dann werden sie illegale Arbeiten annehmen.“ Für die beschäftigungslosen Söhne und Töchter von Gastarbeitern sieht Maier noch schwärzer: „Da bildet sich unter Umständen ein kriminelles Reservoir.“

Gleichwohl gibt man sich im Bundesarbeitsministerium „fest überzeugt, daß die Leute jetzt nur aufgeputscht und Emotionen ausgelöst werden, denen aber keine Taten folgen.“ Freilich, Rechtsanwalt Herbert Becher, Bischofsreferent der katholischen Kirche, hat bereits angedeutet, daß das Bundesverfassungsgericht über die Neuregelung des Kindergelds entscheiden sollte, wenn sie von den Parlamenten in Bonn und in den Herkunftsländern der Gastarbeiter ratifiziert werden sollte.

Quelle: Christian Schneider, „Eine Einsparung, die teuer werden kann,“ Süddeutsche Zeitung, 8. November 1974. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.