Kurzbeschreibung

In einem viel beachteten Interview mit der westdeutschen Illustrierten Der Stern, das in seiner vollen Länge einen Tag später im Nachrichtenorgan der SED, dem Neuen Deutschland abgedruckt wurde, verteidigt Kurt Hager, Sachverständiger für Ideologiefragen im Politbüro der SED, die Politik der SED und hebt diese von den Reformbemühungen innerhalb der Sowjetunion ab.

Kein Tapetenwechsel (10. April 1987)

  • Kurt Hager

Quelle

Kurt Hager beantwortete Fragen der Illustrierten Stern

Frage: Die SED-Führung unterstützt die von Michail Gorbatschow eingeleiteten Reformen in der Sowjetunion. Zugleich betont die DDR ihre Eigenständigkeit. Sind die Zeiten vorbei, in denen das Land Lenins für deutsche Kommunisten vorbildlich war?

Antwort: Die DDR und die Sowjetunion sind Verbündete. Sie haben einen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand abgeschlossen. Zwischen den Völkern beider Staaten besteht eine feste, unzerstörbare Freundschaft, die in direkten Beziehungen von Betrieben, Hochschulen und anderen Einrichtungen sowie zahllosen persönlichen Begegnungen ihren Ausdruck findet. SED und KPdSU sind Bruderparteien und tauschen regelmäßig ihre Erfahrungen aus, um voneinander zu lernen. So war es, so ist es, und so wird es auch in Zukunft sein.

Frage: Es gilt also nicht mehr die Parole: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen?“

Antwort: Ich erinnere daran, daß der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, auf dem XI. Parteitag der SED im April 1986 sagte: „Sie wissen, daß unsere Partei und unser Volk in all den Jahren seit dem Kriege an Ihrer Seite standen, stets bereit, dem jungen Staat der Werktätigen zu helfen. Wir waren treue Freunde und Verbündete der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der Deutschen Demokratischen Republik, und wir bleiben es für alle Zeiten.“

Sie können also davon ausgehen, daß es vergebliche Mühe wäre, einen Keil zwischen die DDR und die Sowjetunion zu treiben oder Differenzen zwischen der SED und der KPdSU zu konstruieren.

Frage: „Perestroika“, Umgestaltung also auch in der DDR?

Antwort: Bekanntlich hat der XXVII. Parteitag der KPdSU im Interesse der weiteren Stärkung des Sozialismus wichtige Beschlüsse zur Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung der Sowjetunion gefaßt. Bereits in seiner Grußansprache an den XXVII. Parteitag betonte der Generalsekretär des ZK der SED, Erich Honecker, daß die Verwirklichung dieses Aktionsprogramms für das Wohl des Sowjetvolkes von grundlegender Bedeutung und zugleich von entscheidendem internationalem Gewicht ist.

Auch bei zahlreichen anderen Gelegenheiten haben wir gegenüber dem Sowjetvolk und seiner kommunistischen Partei unsere Überzeugung geäußert, daß die vom XXVII. Parteitag eingeleitete Umgestaltung, die Überwindung ungünstiger Tendenzen und Schwierigkeiten, die in den 70er Jahren und Anfang der 80er Jahre aufgetreten waren, von Erfolg gekrönt sein wird, geht es doch darum, das gewaltige materielle und geistige Potential der Sowjetunion voll zur Entfaltung zu bringen und damit den Sozialismus weiter zu vervollkommnen und zu stärken.

Frage: Das klingt sehr danach, als hätte die SED am liebsten mit allem nicht viel zu tun.

Antwort: Wir deutschen Kommunisten haben dem Land Lenins stets große Achtung und Bewunderung entgegengebracht, und daran wird sich nichts ändern. Wir würdigen in diesem Jahr den 70. Jahrestag der Oktoberrevolution, die zum Sturz der Kapitalisten und Großgrundbesitzer und zur Errichtung des ersten sozialistischen Staates in der Geschichte führte und den Sozialismus in den 20er und 30er Jahren, vor allem die Industrialisierung und Kollektivierung, möglich machte. Wir wissen, daß die Sowjetunion die Hauptlast des Kampfes gegen den Hitlerfaschismus trug und vergessen nie, daß ihr vor allem unser Volk die Befreiung vom Naziregime verdankt. Wir haben uns die Lehren Lenins, insbesondere die Theorie der sozialistischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus sowie die Lehre von der Partei, angeeignet und aus dem reichen Erfahrungsschatz der KPdSU Nutzen gezogen.

Dies bedeutete jedoch auch in der Vergangenheit nicht, daß wir alles, was in der Sowjetunion geschah, kopierten.

Frage: Ein hartes Wort. . . .

Antwort: Schon im Aufruf des ZK der KPD vom 15. Juni 1945 heißt es: „Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den Entwicklungsbedingungen in Deutschland.“ Übrigens kopiert die Sowjetunion auch nicht die DDR. Es scheint, daß westliche Medien an diesem Thema vom „Kopieren“ interessiert sind, weil es in ihr Trugbild von der „Hand Moskaus“ oder von der angeblichen Einförmigkeit und Eintönigkeit des Sozialismus paßt. Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?

Frage: Es gibt also einen eigenständigen deutschen Weg zum Sozialismus?

Antwort: Natürlich lernen alle sozialistischen Länder voneinander, haben sie doch grundlegende Gemeinsamkeiten wie den Marxismus-Leninismus als Weltanschauung und das gemeinsame Ziel, den Sozialismus und Kommunismus. Aber jedes sozialistische Land hat auch einen bestimmten ökonomischen und sozialen Entwicklungsstand, historische und kulturelle Traditionen, geographische und andere Gegebenheiten, die berücksichtigt werden müssen. Jede Partei trägt vor ihrem Volk die Verantwortung und wirkt für dessen Wohl. Sie leistet zugleich durch ihre Politik einen Beitrag zur gemeinsamen Sache des Sozialismus, zur Stärkung und Festigung der sozialistischen Gemeinschaft.

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Frage: Die sozialistische Demokratie, sagt Generalsekretär Erich Honecker, sei der bürgerlichen hoch überlegen. Widerlegt Michail Gorbatschows Umgestaltung der Verhältnisse zwischen Bürger und Staat nicht diese These? Wenn die Ausstrahlung des realen Sozialismus wirklich so groß wäre, brauchte man an diesem Modell nichts zu ändern.

Antwort: Die KPdSU ist bestrebt, die sozialistische Demokratie in der Sowjetunion zu vervollkommnen. Sie betrachtet, wie ich weiß, den von ihr eingeschlagenen Weg nicht als Modell für die anderen sozialistischen Länder.

Frage: Also kein Handlungsbedarf in der DDR?

Antwort: Was die DDR anbelangt, so bedeutet Demokratie bei uns, daß Millionen Bürger in Parteien und Massenorganisationen, in Volksvertretungen, verschiedenen Verbänden und Interessengruppen, gesellschaftlichen Kommissionen und Aktivs, in den Haus- und Wohngemeinschaften mitwirken und ihre demokratischen Rechte wahrnehmen. Diese Demokratie ist lebendig und wird ständig weiterentwickelt. Ich greife nur zwei Beispiele heraus: Mehr als 260 000 Abgeordnete und Nachfolgekandidaten der gewählten Volksvertretungen sorgen bei uns gemeinsam mit weiteren 450 000 Bürgern in Kommissionen und Ausschüssen dafür, daß die Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle der Durchführung aller für das Leben der Bürger wichtigen staatlichen Entscheidungen in engern Kontakt mit den Wählern erfolgt.

In der Zusammensetzung unserer Volksvertretungen von der Volkskammer bis zur letzten Gemeindevertretung findet die Realität unserer Demokratie Ausdruck, denn sie widerspiegelt exakt die politische und soziale Gliederung unserer Bevölkerung. So bestehen in der Volkskammer zehn Fraktionen, die alle fünf politischen Parteien und die Massenorganisationen vertreten. So haben alle Klassen und Schichten, die Arbeiter und die Bauern, die wissenschaftliche und künstlerische Intelligenz wie der Mittelstand, die Jugend und die Frauen teil an der Ausübung der Arbeiter-und-Bauern-Macht.

Ein entscheidendes Merkmal der sozialistischen Demokratie in der DDR besteht darin, daß sie namentlich in der Volkswirtschaft, das heißt in der wichtigsten Sphäre des Lebens der Menschen, der Sphäre der Arbeiter, die umfassende Mitwirkung der Werktätigen an der Leitung und Planung aller wirtschaftlichen Prozesse garantiert.

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Quelle: Neues Deutschland, 10. April 1987, S. 3; abgedruckt in „SED und KPD zu Gorbatschows ‚Revolution‘“, Deutschland Archiv 20, Nr. 6 (1987), S. 655–57. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Deutschland Archivs.