Kurzbeschreibung

Auf der bisher größten Kundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik protestierten am 10. Oktober 1981 zwischen 250.000 und 300.000 Demonstranten in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss und zeigten trotz unterschiedlicher politischer Orientierung ein erstaunliches Maß an Solidarität und gemeinsamem Willen, den Marsch friedlich durchzuführen.

Protestmarsch in Bonn (12. Oktober 1981)

Quelle

Bonn, halb Festung halb Festival
Beobachtungen beim Aufmarsch der 250 000 im Hofgarten

Einige haben schon an der Poppelsdorfer Allee übernachtet. Es ist kalt, es regnet. Um 5.26 Uhr läuft am Hauptbahnhof der erste Sonderzug ein. Die Bonner haben ihre Autos in Nebenstraßen abgestellt. Die Polizei steht bereit, weiße Dienstmütze, Pistole zwar, aber kein Gummiknüppel. 3000 zivile Ordner. Die Stadt verwandelt sich von Stunde zu Stunde in eine Mischung aus Festung und Festival.

Fünf Marschsäulen formieren sich in Richtung Hofgarten. Nur ein Viertel der 250 000 (oder 300 000? Oder noch mehr?) findet dort Platz. Der Rest verteilt sich. Bonn hat 285 000 Einwohner. Man sieht sie, sofern sie nicht selber mit draußen sind, hinter ihren Gardinen, manche fröhlich winkend, andere zweifelnd ängstlich. Was wird dieser Tag bringen?

An den Straßen wachsen die ersten Informationsstände aus dem Boden. Zwei junge Leute schleppen auf einem Moped eine Pappmaché-Bombe von zwei Meter Länge mit sich. „Dies ist das Kreuz unserer Zeit“, steht darauf. Die Leute vom „Komitee für Frieden und Abrüstung“ haben auf ihre weißen Tuniken Gerippe gemalt. Mütter tragen ihre Kleinkinder auf dem Schoß. Selbst einige Hunde, artig an der Leine, führen Schilder mit sich. Zum Beispiel: „Ich sch ... auf die Neutronenbombe.“

Die Leute lachen viel, wildfremde Menschen haken sich ein. Weiße Fahnen und Transparente überwiegen das Rot. Selbst die DKP hat auf ihre Farbe hier und da verzichtet: Auf dem Fahnengrund flattern weiße Friedenstäubchen. Die Aufschriften sind grün.

Überall finden Vorauskundgebungen statt. Man hört im Lautsprecher Helmut Gollwitzer, sehr laut, mit starker Bewegung in der Stimme: „Helmut, wir kommen, Helmut, wir kommen.“ Er erinnert an die Ostermarschbewegung. „Leistet Widerstand!“ ruft er. Man hört Worte wie „Volkskampf“ und „Aufstand der Massen“.

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Viele Geschäfte, vor allem Juweliere und Moden- und Pelzgeschäfte, haben nicht nur geschlossen. Ihre Schaufenster sind zum Teil auch mit Brettern gegen etwaige Steinwürfe geschützt. Auf die Bretter spritzen Demonstranten ihre Kommentare. Einer lautet: „Lieber Geschäftsfreund, auch eine zweite Holzwand nützt nichts, wenn die Neutronenbombe fällt.“ Ein Autofahrer, der für seinen Wagen vor der Haustür kein sicheres Plätzchen mehr fand, hat zur Sicherheit einen Zettel an die Windschutzscheibe geklemmt: „Gewerkschafter für den Frieden“. Einige, die hier marschieren, wollen mit dem, was sie vorhaben, wohl noch etwas warten. An der Parfümerie Douglas, Kaiserplatz, liest man Sprüche wie: „Ihr habt die Macht, wir haben die Nacht“ oder „Gut Holz, wer hat Angst vor dem ersten Stein“.

Musik überall. Irische Folkmusik mit Dudelsack, Arbeiterlieder, Chansons. Plötzlich, alles übertönend: „Völker, hört die Signale“. Das Lied der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung „We shall overcome“. Junge DKP-Leute versuchen mitzusingen, aber sie kennen offenbar den Text nicht.

Die Reden bei der Hauptveranstaltung sind für viele akustisch kaum verständlich. Überhaupt kommt bei denen, die den Hofgarten nicht mehr erreichen, so etwas wie gemeinsame Hochstimmung nicht auf. Doch auch die, die überhaupt nichts mitbekamen und schließlich vor dem Regen in ein Lokal geflüchtet waren, sind eigentlich nicht enttäuscht. Sie hatten halbwegs damit gerechnet: „Das ist doch gar nicht so wichtig. Hauptsache, daß so viele gekommen sind, das ist doch schon toll.“

Prominenz auf Klappstühlchen. Erhard Eppler, Heinrich Böll, General a. D. Bastian, der vom Ausschluß aus der CSU bedrohte Wehrtheoretiker Mechtersheimer, Professor Gollwitzer, Filmstar und Sänger Harry Belafonte, Doretta [sic] King, die Witwe des ermordeten Martin Luther King. Petra Kelly, die Bundesvorsitzende der Grünen, fordert in ihrer Ansprache Bundeskanzler Schmidt zum Rücktritt auf und ruft Eppler sozusagen zum neuen Kanzler aus. Eppler faltet in diesem Moment die Hände in Kinnhöhe und verdreht die Augen nach oben. Der einzige Redner, der da oben in kreischende Demagogie verfällt, ist – Uta Ranke-Heinemann, die Tochter des früheren Bundespräsidenten. Ein peinlicher Auftritt: „Unsere Politiker merken nicht, daß sie wahnsinnig sind. Wir wollen keinen Opfertod für fremden Größenwahn.“

Hinter der Bühne gibt Eppler Interviews, deutsch, englisch (fließend), französisch (nicht ganz so fließend): „Vor fünf Wochen war Sitzung des SPD-Parteipräsidiums. Ich habe gesagt, daß ich hier sprechen werde – und keiner hat etwas dagegen gehabt, auch Herbert Wehner nicht.“ Überhaupt ist Eppler der Wichtigste hier, so scheint es. Pastor Albertz nennt ihn als möglichen Führer einer neuen Partei links von der SPD. Und als der Berliner FDP-Altpolitiker William Borm seine Rede hält, schallen ihm Sprechchöre „Eppler! Eppler!“ entgegen.

Um 17.30 Uhr ist die Kundgebung zu Ende. Nur der Kommunistische Arbeiterbund Deutschlands (KABD) verbreitet sich auf der Poppelsdorfer Allee weiter über das Thema „Ein atomwaffenfreies Europa vom Atlantik bis zum Ural“. Das Absingen ihrer Hymne „Wir sind die junge Garde des Proletariats“ wird leicht gestört durch vorbeitanzende Mitglieder der Hare-Krishna-Sekte, die Kleingebäck an die Umstehenden verteilen.

Am Hofgarten geschieht das Unwahrscheinliche. Auf eine Lautsprecherermunterung von der Tribüne kriechen Hunderte durch den Schlamm, um Papier und Unrat aufzusammeln. Man trägt es zu großen Bergen zusammen, um den nachfolgenden Großeinsatz der Bonner Müllabfuhr etwas zu erleichtern. Am Hotel Bristol, das den Durchziehenden nicht nur seine Toiletten, sondern auch seine Terrasse zur Verfügung gestellt hat, lobt der Portier die Disziplin der Friedensdemonstranten.

Die Leute suchen ihre Busse. Andere rennen, um ihren Zug zu kriegen. Ein paar lassen, wie es ihnen Heinrich Böll im Schlußwort ans Herz legte, die von zu Hause mitgebrachten Steine fallen.

Bahnhof 18 Uhr. Ein kleiner Blondschopf von fünf Jahren wartet mit seinen Eltern auf den Zug. Sein weißes Kleidchen trägt hinten die Aufschrift: „Ich will keine Atombomben“. Vorn ist eine Taube aufgemalt. Viele Demonstranten finden ihre Abfahrtsstellen nicht mehr, im U-Bahnhof Auswärtiges Amt haben sich zahlreiche Irrläufer ein Nachtlager eingerichtet. Am nächsten Morgen, bei Sturm und Regen, ist die Stadt wieder die, die sie vorher war.

Quelle: „Bonn, halb Festung, halb Festival. Beobachtungen beim Aufmarsch der 250 000 im Hofgarten“, Die Welt, 12. Oktober 1981.