Quelle
Erhard Eppler auf der Internationalen Arbeitstagung der IG Metall in Oberhausen am 11. April 1972
1. Von der Quantität zur Qualität
Wir sprechen heute von Qualität des Lebens, obwohl wir nicht genau wissen, worin sie besteht, noch weniger, wie sie zu verwirklichen sei. Wir sprechen von Qualität, weil wir an der Quantität irre geworden sind. Am Anfang steht also auch hier nicht das Wissen, sondern der Zweifel. Wir zweifeln, ob dies gut für die Menschen sei:
– immer breitere Straßen für immer mehr Autos
– immer
größere Kraftwerke für immer mehr Energiekonsum
– immer
aufwendigere Verpackung für immer fragwürdigere Konsumgüter
–
immer größere Flughäfen für immer schnellere Flugzeuge
–
immer mehr Pestizide für immer reichere Ernten
– und, nicht
zu vergessen, immer mehr Menschen auf einem immer enger werdenden
Globus.
Denn wir haben in den letzten Jahren gelernt, daß dies auch bedeutet:
– immer schlechtere Luft
– immer widerlichere
Schutthalden
– immer unerträglicherer Lärm
– immer
weniger sauberes Wasser
– immer gereiztere Menschen
–
immer mehr Giftstoffe in den Organismen
– und immer mehr Tote
auf den Straßen.
Wir stellen dies fest, ohne daß wir schon exakt sagen könnten, wie denn das Verhältnis zwischen Wirtschaftswachstum und Lebensqualität genau aussieht. Sicher scheint nur, daß dasselbe Wirtschaftswachstum, das unser Leben in den letzten 100 Jahren in vielem angenehmer gemacht hat, es schließlich auch unerträglich machen kann.
Was wir, auf unser Land bezogen, langsam in unser Bewußtsein aufnehmen, die Jüngeren rascher als die Älteren, haben die Computer des Klubs von Rom für den ganzen Globus durchgerechnet.
[…]
2. Neue Maßstäbe
Daß wirtschaftliches Wachstum nicht als Maßstab für den Fortschritt taugt, wird bald nicht mehr umstritten sein. Daß die Verdoppelung des Schlaftablettenkonsums innerhalb von sieben Jahren – eine Leistung, die sicher nicht nur die USA aufzuweisen haben – sich statistisch als Erhöhung des Lebensstandards niederschlägt, wird bald ebenso als Kuriosum gewertet werden wie die Tatsache, daß die Arbeit der Hausfrau im eigenen Haushalt nicht in das Bruttosozialprodukt eingeht, wohl aber die – bezahlte – Arbeit im fremden Haushalt. Die Lebensqualität eines Kleinkindes dürfte jedenfalls ziemlich genau proportional zu der Zeit sein, in der die Mutter sich auf das Kind konzentrieren kann.
Im übrigen gibt keine der gängigen Rechnungsarten darüber Auskunft, ob das wirtschaftliche und menschliche Potential eines Landes sorgfältig genutzt, teilweise verschwendet oder bereits überbeansprucht wird, ob damit mehr oder minder dringende Bedürfnisse befriedigt werden, ob Investitionen die Zukunft sichern oder gefährden.
[…]
Daß qualitative Maßstäbe unvergleichbar viel schwieriger zu finden sind als quantitative, ist kein Grund, nicht danach zu suchen. So verstehe ich auch die Anregung von Sicco Mansholt in dem Brief, den er am 9.2.1972 an Malfatti schrieb. Mansholt will bekanntlich den Begriff der utilité nationale brute an die Stelle des Bruttosozialprodukts setzen.
Neue Maßstäbe brauchen wir auch für Wissenschaft und Technik. Das kann nicht heißen, daß Affekte gegen Wissenschaft und Technik uns weiterhelfen, erst recht nicht ein romantisches „Zurück zur Natur“.
Es kommt nicht darauf an, den menschlichen Erfindungsgeist zu frustrieren, sondern ihn auf neue Aufgaben zu lenken. Wie es eine umweltfeindliche Technik gibt, so kann es auch eine umweltfreundliche geben.
[…]
3. Herausforderung an die Politik
Wer das Reden von der Qualität des Lebens ernst meint, muß politische und gesellschaftliche Veränderungen wollen.
[…] Weder die üblichen Mittel der Marktwirtschaft noch die Methoden eines Staatskapitalismus werden für die neuen Aufgaben ausreichen. Anders gesagt: Was jetzt zu bewältigen ist, dürfte die Dogmatiker in Ost und West ebenso in Verlegenheit bringen wie diejenigen, die sich auf ihren Pragmatismus allzuviel zugute halten. Die Denkrevolution von der Ökonomie zur Ökologie wird keines der Gesellschaftssysteme ungeschoren lassen. Wahrscheinlich werden die Dogmatiker noch einige Zeit versuchen, das ganze Thema als einen besonders raffinierten Subversionsversuch gegen ihre etablierte Ordnung abzutun, ehe sie sich daran machen werden, es einzufangen und ideologisch zu integrieren. Ändern wird sich das Verhältnis von Wirtschaft und Politik, und zwar in Ost und West. Wo wirtschaftliches Wachstum unangefochtenes Ziel der Politik, ist, wird Politik vor allem das administrative Gerüst für das wirtschaftliche Wachstum zu liefern haben: Gute Politik ist, was das Wachstum fördert, schlechte, was das Wachstum hemmt. Immer wird der Politiker gefragt sein, was er zum wirtschaftlichen Wachstum beitrage.
Wo Qualität des Lebens gefragt ist, wird der Politiker, gedrängt von der öffentlichen Meinung, den Ökonomen und den Unternehmer fragen, was er – positiv oder negativ – dazu beitrage. Politik wird das Interesse des Gemeinwohls zu konkretisieren haben, an dem sich Wirtschaft und Administration in gleicher Weise orientieren können.
[…]
Quelle: Erhard Eppler, Maßstäbe für eine humane Gesellschaft. Lebensstandard oder Lebensqualität? Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 1974, S. 18–31; abgedruckt in Eckart Conze and Gabriele Metzler, Hrsg., 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Daten und Dokumente. Stuttgart, 1999, S. 223–25.