Kurzbeschreibung

Diese von Erich Mielke, dem Leiter der ostdeutschen Geheimpolizei (Stasi), verfassten Richtlinien beginnen mit der Rechtfertigung der Notwendigkeit aktiver Maßnahmen, um die DDR vor „feindlich-negativen Kräften“ zu schützen, welche ihre „gesellschaftliche Entwicklung“ beeinträchtigen oder deren Sicherheit bedrohen könnten. Das Dokument liefert Anleitungen zur Entwicklung „operativer Vorgänge“ der innerstaatlichen Überwachung. Es listet zudem Kriterien für die Überwachung von Bürgern und Dissidenten auf und enthält Empfehlungen zum Sammeln von „Ausgangsmaterialien“. Die Richtlinien bezeugen die systematischen Bemühungen, um jeden Versuch der freien Meinungsäußerung zu unterdrücken, welcher der SED-Diktatur gefährlich werden könnte.

Stasi-Richtlinien (1976)

Quelle

Richtlinie zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)

Die weitere Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR, die allseitige Stärkung der sozialistischen Staatengemeinschaft, die weitere Durchsetzung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der Kampf um die Erhaltung und Sicherung des Friedens erfolgen in harter Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus.

Der zuverlässige Schutz der gesellschaftlichen Entwicklung und die allseitige Gewährleistung der inneren Sicherheit der DDR erfordern vom Ministerium für Staatssicherheit die zielstrebige, konzentrierte und schwerpunktmäßige vorbeugende Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung aller subversiven Angriffe des Feindes.

Eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Lösung dieser Hauptaufgabe ist die ständige Qualifizierung der Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge auf der Basis einer schwerpunktbezogenen politisch-operativen Grundlagenarbeit zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung im jeweiligen Verantwortungsbereich.

Mit der zielstrebigen Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge ist vor allem vorbeugend ein Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte zu unterbinden, das Eintreten möglicher Schäden, Gefahren oder anderer schwerwiegender Folgen feindlich-negativer Handlungen zu verhindern und damit ein wesentlicher Beitrag zur kontinuierlichen Durchsetzung der Politik der Partei- und Staatsführung zu leisten.

Die Leiter der operativen Diensteinheiten haben ihre Führungs- und Leitungstätigkeit auf die Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge zu konzentrieren und zu gewährleisten, daß die operativen Kräfte und Mittel, insbesondere die IM und GMS, zur Lösung dieser Aufgaben konzentriert eingesetzt und entwickelt werden. Durch die Leiter aller Leitungsebenen sind alle Möglichkeiten zur zielgerichteten politisch-ideologischen Erziehung der operativen Mitarbeiter und zu ihrer tschekistischen Befähigung für eine qualifizierte Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge zu nutzen.

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Bei der Führungs- und Leitungstätigkeit zur Qualifizierung der Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge, bei der Vorbereitung und Durchführung aller darauf gerichteten politisch-operativen Maßnahmen sowie bei der Führung der Vorgangsakten sind die Festlegungen über die Gewährleistung von Konspiration und Geheimhaltung konsequent durchzusetzen.

1. Die zielstrebige Entwicklung Operativer Vorgänge

1.1 Die systematische, schwerpunktbezogene Erarbeitung von Ausgangsmaterialien für

Operative Vorgänge mit hoher sicherheitspolitischer Bedeutung

Zur Verwirklichung der dem MfS von der Partei- und Staatsführung gestellten Aufgaben hat die Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge vor allem zur Sicherung politisch-operativer Schwerpunktbereiche und zur Bearbeitung politisch-operativer Schwerpunkte zu erfolgen. Das schließt ein, wenn Hinweise auf feindlich-negative Handlungen außerhalb bisher erkannter politisch-operativer Schwerpunktbereiche bekannt werden, diese ebenfalls zielstrebig zu Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge zu entwickeln bzw. anderweitig zu klären. Es ist zu gewährleisten, daß alle Hinweise auf feindlich-negative Handlungen rechtzeitig erkannt und konzentriert bearbeitet werden.

Die Leiter haben zu gewährleisten, daß Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge vor allem dort entwickelt werden, wo

-- durch feindliche Angriffe die größten Gefahren für die innere Sicherheit der DDR hervorgerufen werden können;
-- der Feind nach unseren Erkenntnissen mit hoher Wahrscheinlichkeit angreifen wird und bedeutende Schäden herbeiführen kann;
-- feindlich-negative Handlungen, Einflüsse und Gefahren sowie andere, die gesellschaftliche Entwicklung störende und hemmende Erscheinungen offensiv zu bekämpfen sind;
-- begünstigende Bedingungen und Umstände für die Schädigung der DDR bzw. den Mißbrauch, die Ausnutzung und die Einbeziehung von Bürgern der DDR in die Feindtätigkeit vorbeugend zu beseitigen sind.

Die systematische Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge erfordert die gründliche und allseitige politisch-operative Durchdringung der politisch-operativen Schwerpunktbereiche. Sie hat folgenden Anforderungen gerecht zu werden:

1. Die umfassende Vertiefung der Kenntnisse über die sicherheitspolitische Bedeutung der politisch-operativen Schwerpunktbereiche, insbesondere hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Erfüllung der von der Partei- und Staatsführung gestellten Aufgaben und der in der Vergangenheit gegen die politisch-operativen Schwerpunktbereiche gerichteten feindlichen Angriffe bzw. aufgetretenen feindlich-negativen Handlungen.

2. Die Herausarbeitung der Bereiche, Prozesse, Personenkreise und Personen, die innerhalb des politisch-operativen Schwerpunktbereiches bedeutenden Einfluß auf die planmäßige Realisierung der gesellschaftlichen Schwerpunktaufgaben haben, zu denen operativ bedeutsame Hinweise vorliegen und die aus anderen Gründen im Mittelpunkt zu erwartender feindlicher Angriffe stehen.

3. Die Gewährleistung einer ständigen Übersicht über alle im politisch-operativen Schwerpunktbereich vorhandenen operativen Materialien, Personenkontrollakten, Operativen Vorgänge sowie anderen mit dem politisch-operativen Schwerpunktbereich im Zusammenhang stehenden politisch-operativen Arbeitsergebnisse, insbesondere die Ergebnisse der Klärung der Frage „Wer ist wer?“ im politisch-operativen Schwerpunktbereich, und deren exakte Analyse.

Der Einsatz der IM und GMS ist bei der politisch-operativen Durchdringung der politisch-operativen Schwerpunktbereiche zu konzentrieren auf das Erkennen und Herausarbeiten von

-- Hinweisen auf feindlich-negative Handlungen;
-- Personen bzw. Personenkreisen in den politisch-operativen Schwerpunktbereichen, auf die sich der Feind konzentriert und über die er seine Pläne, Absichten und Maßnahmen durchzusetzen versucht, und Möglichkeiten des Feindes (Wege, Verbindungen, Kontakte), auf diese Personenkreise Einfluß zu nehmen und wirksam zu werden;
-- begünstigenden Bedingungen und Umständen für die Durchführung und Verschleierung feindlich-negativer Handlungen;
-- imperialistischen Geheimdiensten und anderen feindlichen Zentren, Organisationen und Kräften, die gegen den politisch-operativen Schwerpunktbereich wirksam werden;
-- Bereichen, Prozessen, Personenkreisen und Personen im politisch-operativen Schwerpunktbereich, die für die Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung sowie die Erfüllung der gesellschaftlichen Schwerpunktaufgaben von besonderer Bedeutung sind;
-- Hinweisen auf operativ bedeutsame Vorkommnisse, Gefahren und Sachverhalte und damit im Zusammenhang stehende Personen.

Auf der Grundlage der dabei erarbeiteten Informationen haben die Leiter der operativen Diensteinheiten den unterstellten Leitern und operativen Mitarbeitern konkret vorzugeben,

-- welche Bereiche, Prozesse, Personenkreise und Personen, die innerhalb des politisch-operativen Schwerpunktbereiches bedeutenden Einfluß auf die Erfüllung der gesellschaftlichen Schwerpunktaufgaben haben, durch den konzentrierten Einsatz der operativen Kräfte und Mittel langfristig und kontinuierlich zu sichern sind;
-- wo und wann vorrangig Ausgangsmaterialien über welche Personen oder Sachverhalte zur Abwehr feindlich-negativer Handlungen zu entwickeln sind;
-- wo und wann bei Vorliegen von Hinweisen auf die Planung, Vorbereitung und Durchführung von Terror- oder Diversionsverbrechen, von staatsfeindlichem Menschenhandel, ungesetzlichem Verlassen der DDR, Gewaltverbrechen sowie schweren Militärstraftaten das Einleiten von Sofortmaßnahmen zu deren rechtzeitigen Verhinderung notwendig ist;
-- auf der Grundlage welcher bereits verdichteter und überprüfter Ausgangsmaterialien ein Operativer Vorgang anzulegen ist;
-- wo, wann und wie Informationen an andere Staats- und wirtschaftsleitende Organe, Betriebe, Kombinate und Einrichtungen sowie gesellschaftliche Organisationen und Kräfte zur Einleitung wirksamer vorbeugender Maßnahmen zu übergeben sind.

Die erforderlichen politisch-operativen Aufgaben und Maßnahmen zur Entwicklung Operativer Vorgänge sind entsprechend der Richtlinie Nr. 1/70 in die Arbeitspläne der Diensteinheiten aufzunehmen.

Für die Schaffung von Voraussetzungen zur Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge ist eine auf die politisch-operativen Schwerpunktbereiche bezogene ständige analytische Einschätzung (Bestandsaufnahme) der Wirksamkeit der operativen Kräfte und Mittel, insbesondere der IM und GMS, vorzunehmen. Dabei ist vorrangig zu erarbeiten:

-- welche IM und GMS zur zielstrebigen Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge zur Verfügung stehen;
-- mit welchen Aufträgen die IM und GMS bisher eingesetzt wurden, welche Möglichkeiten vorhanden sind und welche politisch-operativen Ergebnisse bisher durch die IM und GMS erzielt wurden;
-- welcher konkrete Stand bei der planmäßigen Qualifizierung der IM und GMS zur Entwicklung von Ausgangsmaterialien für Operative Vorgänge erreicht wurde.

Die Leiter der operativen Diensteinheiten haben auf der Grundlage dieser Einschätzungen festzulegen,

-- wie die operativen Kräfte und Mittel, insbesondere die IM und GMS, zur vorbeugenden Verhinderung und Aufdeckung von feindlich-negativen Handlungen einzusetzen sind;
-- welche Maßnahmen zur weiteren Qualifizierung und Profilierung der IM und GMS eingeleitet werden müssen;
-- wie bestehende Lücken bei der Sicherung der politisch-operativen Schwerpunktbereiche, insbesondere durch zielgerichtete Gewinnung geeigneter IM und GMS, zu schließen sind;
-- wie vorhandene Möglichkeiten für die Entwicklung Operativer Vorgänge zu erschließen sind,

Diese Festlegungen sind in die Arbeitspläne und die Bearbeitungskonzeptionen für die politisch-operativen Schwerpunktbereiche aufzunehmen und haben die erforderlichen Verantwortlichkeiten und Termine zu enthalten.

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Quelle: Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) (GVS MfS 008-100/76); abgedruckt in David Gill und Ulrich Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit: Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin: Rowohlt, 1991, S. 349–52.

Stasi-Richtlinien (1976), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/zwei-deutsche-staaten-1961-1989/ghdi:document-5056> [24.04.2024].