Kurzbeschreibung

Die links gerichtete Journalistin Ulrike Meinhof appelliert an die Studentenbewegung, vom Protest zu offenem Widerstand überzugehen, um die Hetze von rechts und die Repression durch die staatlichen Autoritäten zu bekämpfen. Sie rechtfertigt damit den Einsatz von Gewalt, der schließlich zum Terrorismus der Roten-Armee-Fraktion führt.

Ulrike Meinhof ruft dazu auf, vom Protest zum Widerstand überzugehen (Mai 1968)

  • Ulrike Meinhof

Quelle

Vom Protest zum Widerstand

Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle andern auch nicht mehr mitmachen“. So ähnlich – nicht wörtlich – konnte man es von einem Schwarzen der Black Power Bewegung auf der Vietnamkonferenz im Februar in Berlin hören.

Die Studenten proben keinen Aufstand, sie üben Widerstand. Steine sind geflogen, die Fensterscheiben vom Springerhochhaus in Berlin sind zu Bruch gegangen, Autos haben gebrannt, Wasserwerfer sind besetzt worden, eine BILD-Redaktion ist demoliert worden, Reifen sind zerstochen worden, der Verkehr ist stillgelegt worden, Bauwagen wurden umgeworfen, Polizeiketten durchbrochen – Gewalt, physische Gewalt wurde angewendet. Die Auslieferung der Springerpresse konnte trotzdem nicht verhindert werden, die Ordnung im Straßenverkehr war immer nur für Stunden unterbrochen. Die Fensterscheiben wird die Versicherung bezahlen. An Stelle der ausgebrannten Lastautos werden neue ausfahren, der Wasserwerferbestand der Polizei wurde nicht verkleinert, an Gummiknüppeln wird es auch in Zukunft nicht fehlen. Also wird das, was passiert ist, sich wiederholen können: Die Springerpresse wird weiter hetzen können, und Klaus Schütz wird auch in Zukunft dazu auffordern können, „diesen Typen ins Gesicht zu sehen“ und die Schlußfolgerung nahelegen, ihnen reinzuschlagen – was am 21. Februar bereits geschehen ist –, schließlich zu schießen.

Die Grenze zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand ist bei den Protesten gegen den Anschlag auf Rudi Dutschke in den Osterfeiertagen erstmalig massenhaft, von vielen, nicht nur einzelnen, über Tage hin, nicht nur einmalig, vielerorts, nicht nur in Berlin, tatsächlich, nicht nur symbolisch – überschritten worden. Nach dem 2. Juni wurden Springerzeitungen nur verbrannt, jetzt wurde die Blockierung ihrer Auslieferung versucht. Am 2. Juni flogen nur Tomaten und Eier, jetzt flogen Steine. Im Februar wurde nur ein mehr amüsanter und lustiger Film über die Verfertigung von Molotowcocktails gezeigt, jetzt hat es tatsächlich gebrannt. Die Grenze zwischen Protest und Widerstand wurde überschritten, dennoch nicht effektiv, dennoch wird sich das, was passiert ist, wiederholen können; Machtverhältnisse sind nicht verändert worden. Widerstand wurde geübt. Machtpositionen wurden nicht besetzt. War das alles deshalb sinnlose, ausufernde, terroristische, unpolitische, ohnmächtige Gewalt?

Stellen wir fest: Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Steinwürfe und Brandstiftung hier verurteilen, nicht aber die Hetze des Hauses Springer, nicht die Bomben auf Vietnam, nicht Terror in Persien, nicht Folter in Südafrika, diejenigen, die die Enteignung Springers tatsächlich betreiben könnten, stattdessen Große Koalition machen, die in den Massenmedien die Wahrheit über BILD und BZ verbreiten könnten, stattdessen Halbwahrheiten über die Studenten verbreiten, deren Engagement für Gewaltlosigkeit ist heuchlerisch, sie messen mit zweierlei Maß, sie wollen genau das, was wir, die wir in diesen Tagen – mit und ohne Steinen in unseren Taschen – auf die Straße gingen, nicht wollen: Politik als Schicksal, entmündigte Massen, eine ohnmächtige, nichts und niemanden störende Opposition, demokratische Sandkastenspiele, wenn es ernst wird den Notstand. – Johnson, der Martin Luther King zum Nationalhelden erklärt, Kiesinger, der den Mordversuch an Dutschke telegrafisch bedauert – sie sind Repräsentanten der Gewalt, gegen die King wie Dutschke angetreten sind, der Gewalt des Systems, das Springer hervorgebracht hat und den Vietnam-Krieg, ihnen fehlt beides: Die politische und die moralische Legitimation, gegen den Widerstandswillen der Studenten Einspruch zu erheben.

Stellen wir fest: Es ist dokumentiert worden, daß hier nicht einfach einer über den Haufen geschossen werden kann, daß der Protest der Intellektuellen gegen die Massenverblödung durch das Haus Springer ernst gemeint ist, daß er nicht für den lieben Gott bestimmt ist und nicht für später, um einmal sagen zu können, man sei schon immer dagegen gewesen, es ist dokumentiert worden, daß Sitte & Anstand Fesseln sind, die durchbrochen werden können, wenn auf den so Gefesselten eingedroschen und geschossen wird. Es ist dokumentiert worden, daß es in diesem Land noch Leute gibt, die Terror und Gewalt nicht nur verurteilen und heimlich dagegen sind und auch mal was riskieren und den Mund nicht halten können und sich nicht bange machen lassen, sondern daß es Leute gibt, die bereit und fähig sind, Widerstand zu leisten, so daß begriffen werden kann, daß es so nicht weiter geht. Es ist gezeigt worden, daß Mordhetze und Mord die öffentliche Ruhe und Ordnung stören, daß es eine Öffentlichkeit gibt, die sich das nicht bieten läßt. Daß ein Menschenleben eine andere Qualität ist als Fensterscheiben, Springer-LKWs und Demonstranten-Autos, die bei der Auslieferungsblockade vor dem Springerhochhaus in Berlin von der Polizei in Akten blanker Willkür umgeworfen und beschädigt wurden. Daß es eine Öffentlichkeit gibt, die entschlossen ist, das Unerträgliche nicht nur unerträglich zu nennen, sondern dagegen einzuschreiten, Springer und seine Helfershelfer zu entwaffnen.

Nun, nachdem gezeigt worden ist, daß andere Mittel als nur Demonstrationen, Springer-Hearing, Protestveranstaltungen zur Verfügung stehen, andere als die, die versagt haben, weil sie den Anschlag auf Rudi Dutschke nicht verhindern konnten, nun, da die Fesseln von Sitte & Anstand gesprengt worden sind, kann und muß neu und von vorne über Gewalt und Gegengewalt diskutiert werden. Gegengewalt, wie sie in diesen Ostertagen praktiziert worden ist, ist nicht geeignet, Sympathien zu wecken, nicht, erschrockene Liberale auf die Seite der Außerparlamentarischen Opposition zu ziehen. Gegengewalt läuft Gefahr, zu Gewalt zu werden, wo die Brutalität der Polizei das Gesetz des Handelns bestimmt, wo ohnmächtige Wut überlegene Rationalität ablöst, wo der paramilitärische Einsatz der Polizei mit paramilitärischen Mitteln beantwortet wird. Das Establishment aber, die „Herren an der Spitze“ – um mit Rudi zu reden –, in den Parteien, Regierungen und Verbänden haben zu begreifen, daß es nur ein Mittel gibt, „Ruhe & Ordnung“ dauerhaft herzustellen: Die Enteignung Springers. Der Spaß hat aufgehört. „Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht“.

Quelle: Ulrike Marie Meinhof, „Vom Protest zum Widerstand“, konkret, Mai 1968, S. 5. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.