Quelle
Ich lasse diese Anrede drucken, weil meine Mitbürger es wünschen, weil ich es tun zu müssen glaube. Ein Mann, der alle Tage zum Volke redet wie ich, soll nicht beurteilt werden wie ein anderer, der selten auftritt. Überdem ist es nicht so leicht, als viele der Herren, die schön, elegant und erhaben zu schreiben wissen, glauben, auch populär zu schreiben.
Ich suche das zu lernen, weil ich sonst wenig nützen würde, und ich bitte andere, daß sie es auch bald lernen und es mir darin zuvortun mögen.
Mainz gewinnt durch eine Revolution, die Mainzer sind schuldig, eine Revolution zu unternehmen, und wer ihnen zu einer bloßen Verbesserung ihrer alten Verfassung rät, der rät ihnen übel.
Es sind noch manche unter uns, meine Brüder, die sagen: Wozu eine Veränderung unserer alten Verfassung? Wir sind zufrieden. Andere sagen: Eine Veränderung unserer Verfassung ist unmöglich, oder sie würde doch so viele üble Folgen nach sich ziehen, wodurch das Gute, welches die Revolution herbeiführte, weit überwogen würde. Andere sagen: Wir wollen keine Revolution, keine gänzliche Abschaffung unserer alten Verfassung, sondern nur eine Verbesserung derselben. Wieder andere sind endlich der Meinung, eine Revolution, ja sogar eine bloße Abänderung unserer gegenwärtigen Regierungsform sei unerlaubt und pflichtwidrig.
Ich will über alle diese Dinge Euch meine Gedanken eröffnen, und denn seid Ihr wieder so gut und sagt auch Eure Meinung frei heraus.
Zuerst laßt uns untersuchen, ob Mainz bei einer Revolution gewinne?
Was ich habe, das brauche ich nicht erst zu gewinnen. Es fragt sich also wieder: Hat unsere gegenwärtige Verfassung Mängel? – Schon wenige Betrachtungen werden Euch davon überzeugen.
Unser Mainzer Staat war bis itzt eine elektive Monarchie, das heißt, er stand unter dem fast unumschränkten Willen eines nicht vom Volke, sondern von einer gewissen Anzahl von adeligen Geistlichen gewählten Fürsten.
Hier bemerke ich gleich folgende große Fehler in unserer Verfassung.
Jede Regierung ist fehlerhaft, welcher ein Regent vorsteht, das heißt, alle Monarchien taugen nichts.
Die Beweise sind:
1. Ein einzelner Mensch ist an sich zur Führung einer Regierung untauglich, weil er allen den Schicksalen unterworfen ist, welche einzelne Menschen treffen können. Der Regent kann also krank, er kann ein Narr werden, er kann aus einem Betbruder in einen Wollüstling und Verschwender ausarten, er kann zu alt, er kann zu jung sein und so weiter. Da ist denn der Staat übel daran. Ein Beispiel habt Ihr an Friedrich Karl Joseph Erthal. Im Anfang seiner Regierung machte er den Betbruder, und hernach wurde aus ihm ein Wollüstling und ein Verschwender. Mehrere Jahre hindurch litt er an der Hypochondrie, und das hatte die traurige Folge, daß alles in Verwirrung geriet. Leute, die Räuber waren, plünderten das Land, und die Intrige hatte die Herrschaft.
2. Ein einzelner Mann kann nicht alle Kenntnisse besitzen, welche zu einer Regierung, die doch das Beste so verschiedener und auf so mancherlei Art ihr Gewerbe treibender Menschen bezwecken soll, erfodert werden, denn es ist unmöglich, daß ein einzelner Mensch das verschiedene Interesse von so vielen Tausenden von Untertanen beurteilen könne. – Ihr seht das leicht ein – »Aber« (werdet Ihr sagen) »dafür hat jeder Fürst seine Räte, die müssen die Sache verstehen.« Gut; indessen, wenn die Räte die Regierung führen sollen, so ist ja der Fürst überflüssig.
3. Ein jeder Fürst ist ein Mensch wie andre Leute. Nun hat jeder Mensch seinen Privatehrgeiz und sein Privatinteresse überhaupt, welches sehr oft dem Interesse der Untertanen ganz entgegen ist. Zum Beispiel dient folgendes: Es war gewiß nicht das Interesse der Mainzer, daß der Kurfürst sich mit den Aristokraten so eng einließ, daß er mit ihnen schwelgte, daß er alle anderen großen Herren gegen sie aufzuhetzen suchte, daß er 2000 seiner braven Untertanen nach Speyer auf die Schlachtbank und in die Gefangenschaft schickte. Bloß seine Eitelkeit war an allen dem schuld. Er wollte den großen Herrn spielen, er wollte sich zum Beschützer des ehemaligen Königs von Frankreich, der ehemaligen Prinzen und des ehemaligen französischen Adels aufwerfen. Das schmeichelte seiner Ehrsucht. Die französischen Damen taten so gut das Ihrige wie die halbfranzösische Frau von Coudenhoven. So vergaß er, durch seine Eitelkeit geblendet, das Wohl seiner Untertanen. Überhaupt lag ihm immer die Erzkanzlerwürde bei dem sogenannten Deutschen Reiche mehr am Herzen wie die Regierung seines Landes, weil sie mehr seiner Ruhmsucht schmeichelte. Statt sich mit so viel Gesandtschaften abzugeben, hätte er die Hütten seiner elenden Untertanen im Eichsfeld und im Spessart besuchen sollen. Alle die hohen Händel, die er als Erzkanzler gehabt hat, brachten seinen Untertanen keinen Vorteil, wohl aber Schulden. War es nicht eben auch seine Eitelkeit, daß er beinah alle seine Soldaten ins Lüttichsche sandte, um ein von einem schlechten Fürsten gedrücktes Volk, dessen Sache doch so gerecht war, in Sklaverei zurückzubringen?
4. Das Gesetz soll der Ausdruck des allgemeinen Willens der Nation sein. Wie kann aber ein einzelner Mann diesen allgemeinen Willen gehörig erkennen und beurteilen, selbst wenn er auch wollte? »Durch seine Räte?« O gewiß nicht. Diese Leute haben ihr Privatinteresse, und sie müßten den gnädigsten Herrn schmeicheln, müssen sprechen, wie er es gern hört, damit sie in Ansehn bleiben, damit sie Zulagen erhalten. Und denn sind auch die Räte nicht imstande, über das Interesse der Untertanen gehörig zu urteilen, weil sie sich zu groß dünken, mit ihnen Umgang zu haben. Wer hat wohl je einen Hofrat und einen Professionisten oder einen Landmann beisammen in Gesellschaft gesehen? Die Leute kennen sich kaum. Wer weiß nicht, daß die Herren Räte sich schämen, an öffentliche Örter zu gehen, wo die Bürger oder die gemeinen Leute, wie sie sagen, zusammenkommen? Und solche Menschen, die es für eine Schande halten, den Bürgersmann näher kennenzulernen, die sollen das Land regieren! Bürger, öffnet doch einmal Eure Augen, seid doch nicht blind gegen Euren eigenen Vorteil. Erinnert Euch an einen gewissen Hofrat, der Euch anfuhr oder gar mit dem Kerker bedrohete, wann Ihr Klagen anzubringen hattet.
5. Fast alle Fürsten betrachten ihre Länder wie der Güterbesitzer sein Gut. Es kommt nur darauf an, daß das Land vieles dem gnädigsten Herrn eintrage. Oder noch besser der Vergleich: Der Fürst betrachtet seine Untertanen wie der Fabrikant (als Fabrikant) seine Fabrikarbeiter. Alle Richtungen müssen so getroffen werden, daß die Fabrikarbeiter dem Fabrikanten vieles eintragen. Wann nur dieser Zweck erreicht wird, so ist alles gut. Ob die Fabrikarbeiter glückliche Menschen sind, das kümmert den Fabrikanten (als Fabrikanten) nicht. So was, meine Brüder, kann nun wohl bei einer Fabrik angehen; aber ein Land darf nicht wie eine Fabrik angesehen werden. Dafür haben die Bürger dem Regenten die Macht nicht in die Hand gegeben. Sie wollen zu glücklichen, gesunden, frohen, vernünftigen Menschen erzogen sein. Nun findet Ihr aber, daß von der Regierung alles mit kameralistischen Augen angesehen wird. Gute Anstalten können nicht aufkommen, wenn sie der Kammer, das heißt soviel als dem Beutel des Fürsten, nichts eintragen. Lesen, schreiben und rechnen höchstens, denn auch eine oberflächliche Kenntnis der Landesreligion, das ist alles, worin man den gemeinen Mann unterweiset, damit er ja nicht zu klug werde. Dieses satanische Prinzipium, daß ja der Untertan nicht zu klug werde, daß er so dumm bleibe, wie nur möglich ist, diesen höllischen Grundsatz hört Ihr allenthalben.
6. Es ist wahr, es hat auch gute Fürsten gegeben, obgleich auch der gute Fürst, weil er nur eine Person ist, nie ein Land gut regieren kann. Aber wieviel äußerst schlechte Fürsten gab es dagegen? Was der eine Fürst in Ordnung gebracht hat, das zernichtet der andere. Die meisten stehen unter dem Einflusse ihrer Beichtväter, Mätressen, Kammerdiener, Leibärzte und so weiter. Die meisten, ja fast alle Fürsten sind schlecht erzogene Menschen, die den Bürger und den Bauer niemals kennengelernt haben, die von Kindesbeinen auf durch Schmeichelei verdorben worden sind, denen man schon in der frühesten Jugend weisgemacht hat, daß sie eine Gattung von höheren Wesen wären als wir übrigen armen Erdensöhne. Was steht von solchen verdorbenen Menschen zu erwarten?
7. Ein anderer Fehler liegt darin, daß unsere Mainzer Fürsten aus dem Domkapitel gewählt werden. Was sind das für Leute? Ich verkenne nicht die Verdienste von verschiedenen unter ihnen. Die meisten Domherren aber sind unwissende Menschen, die nichts tun als fressen, saufen und huren. An Arbeit sind sie nicht gewöhnt, was sie einzunehmen haben, bekommen sie ohne ihr Bemühen. Wie kann man nun von solchen Leuten eine weise Regierung erwarten, wie kann man glauben, daß solche Bauchpfaffen über die Bedürfnisse des Untertans urteilen können? – Die meisten mainzischen Kurfürsten dachten darauf, wie sie ihre Familie bereichern wollten, für welche sie Paläste baueten und Kapitalien aufhäuften. – Sowie ein neuer Kurfürst zur Regierung kommt, so geht alles drunter und drüber; teils weil der neue Fürst sich zeigen will und doch gewöhnlich nicht weiß, wie er es machen soll, teils weil nun eine andere Frau Base oder ein anderer Herr Vetter das Wort führt. Da kann man denn sicher darauf zählen, daß, wenn ein neuer Herr die Regierung antritt, fast alles das Gute, was der Vorgänger etwa einrichtete, wieder unterdrückt wird.
8. Ein dritter Fehler ist der, daß unsere Fürsten Geistliche waren. Fürst und Priester gehören aber nicht zusammen. Jesus sagte den Juden, die ihn zum Könige machen wollten: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Ihr würdet es lächerlich finden, wenn ich Euch von einem Lande erzählen wollte, wo das Domkapitel aus lauter Medizinern bestände und wo der Kurfürst notwendig immer ein Arzt sein müßte. Aber äußerst gefährlich ist es, die geistliche und die weltliche Würde miteinander zu verbinden. Wer die weltliche Macht in Händen hat, der macht gar zu leicht von der geistlichen einen bösen Mißbrauch. Da wird Gewissenszwang eingeführt, und die Leute müssen eben glauben, was dem gnädigsten Herren gut dünkt. Mit der einen Hand fegt der Herr den Leuten den Beutel, und mit der andern gibt er ihnen den Segen. Er bringt es dahin, daß sich die Leute einbilden, ihn für einen wahren Nachfolger der Apostel zu halten, den der liebe Gott eingesetzt, mit einer besonderen Macht versehen hat und dem sie blindlings gehorchen müssen. Hat es der gnädigste Herr dahin gebracht, so kann er tun, was er will. Seht, darum hat also Jesus die geistliche Macht [nicht] mit der weltlichen verbinden wollen. Er wollte, daß jeder Priester sich von seiner Arbeit nähren sollte, so wie denn auch die Apostel alle Handwerker waren und ihr Gewerbe forttrieben. Der Herr Jesus, wenn er hier unter uns aufstehen sollte, würde es gewiß tadlen, daß Leute, die sich seine Nachfolger nennen, eine große Garde halten, Kammerherrn, Generäle, Stallmeister, Heidukken und so weiter haben, da er, des Menschensohn, doch kaum hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Stellt Euch, bitte ich nochmals, stellt Euch doch einen Nachfolger Christi auf Erden vor, der in einem Staatswagen daherrollt und Menschen, wie Narren gekleidet, so herabwürdigt, daß sie vor ihm her laufen müssen wie die Hunde.
So glaube ich denn dargetan zu haben, daß es unklug sei, einem einzelnen Menschen, und zumal einem Priester, die Regierung in die Hände zu geben.
[…]
Quelle: Georg Wedekind, „Anrede an seine Mitbürger“ (27. Oktober 1792), gehalten in der Gesellschaft der Volksfreunde zu Mainz, in C. Träger, Hrsg., Mainz zwischen Rot und Schwartz. Berlin: Rütten & Loening, 1963, S. 161–67; abgedruckt in Jost Hermand, Hrsg., Von deutscher Republik 1775–1795. Texte radikaler Demokraten. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1968, S. 142–48.