Quelle
Die künftige teutsche Verfassung
[…] Was uns Not tut vor Allem, und was zuerst durch die Verfassung gesetzlich begründet werden muß, ist innere Festigkeit und geschlossene Haltung dem Ausland gegenüber. Haben alle andren Völker nur eine einzige Seite gegen uns zu decken, dann sind wir, wie die Persier in Asien, nach allen Seiten bloß gegeben. Deutschland ist der Kreuzungspunkt, wo alle Völkerstraßen sich begegnen; alles stößt und drängt, wie von einer inneren Schwerkraft getrieben, gegen uns in der Mitte an; und besäßen die Spanier noch die Niederlande, kein Volk könnte unruhig in seinem Sitze sich bewegen, ohne daß die Wellen irgendwo unmittelbar an die Ufer unseres Landes schlügen. […]
Darum ist unsere Stellung auf der hohen Warte des gesamten Weltteils, von wo aus wir mit unablässiger Wachsamkeit auf alle Völkerbewegungen zu achten haben; sicher, daß jede, die wir sorglos vorübergehen lassen, zu unserm Verderben führt. Wie das alte Germanien mit einem Walle von Markmännern und kriegerischen Völkerschaften im Süden gegen die Weltherrschaft der Römer sich umgab: so müssen wir rundum mit einer solchen Wehre uns umgürten, und mit einer Schildburg uns umschließen. Die bewaffneten Völker werden die Mauern dieser großen Feste sein, und hoch über ihre Zinnen werden die Fürsten, starke Türme, sich erheben, die weit umschauen in die Ferne und alle Zugänge sichern und bewehren. Innen muß alles dann ein Leben und ein Bund zum Schutz und Trutze sein, damit beim ersten Schlage, der an ferner Grenze an Schildesrand auffällt, alles aufmerkend horche, und beim wirklichen Angriff alle insgemein dem angegriffenen Stamme zu Hilfe eilen. Dann allein kann es uns gelingen, daß wir die Schmach nicht wieder sehen, daß Feindesheere aus Donau, Elbe, Weser, Main und Lech und Inn unser Herzblut trinken. Wir können in Ruhe unseres Wohlstands pflegen, und dürfen nicht besorgen, daß er mit jedem Jahrhundert einmal dem frechen Raub zur Beute werde.
Dazu muß alles im gemeinen Wesen sich stark und fest zusammenfügen, also daß die Bande in ruhigen Zeiten lose und nicht drückend das Einzelne umschlingen, im Druck und Not und dem Anstoß fremder Gewalt aber immer stärker sich zuziehen. Alle benachbarten Völker haben zu diesem Zwecke die Einheit der monarchischen Form ohne Mittelbehörden gewählt, und dadurch für den Angriff große Mittel, für die Verteidigung starke Schnellkraft sich gewonnen, dabei aber auch Vieles an innerem eigentümlichem Leben aufgeopfert. In Deutschland widerstrebt zu oberst die religiöse Entzweiung dieser Einheit; ihr widerstrebt der uralte selbstständig eigentümliche Stammesgeist, der wie in Bergzüge die Nation in sich abgeteilt und gegliedert hat; die liebevolle Anhänglichkeit der Völkerschaften an ihre Fürstenstämme; endlich die fromme Achtung für das Herkömmliche und den urkundlichen und durch die Verjährung langer Zeitläufte gesicherten Besitzstand. Darum ist Deutschland die schwerere Aufgabe zu Teil geworden, die Vielherrschaft durch die Macht der Verfassung und den Gesamtwillen der Nation also zu bemeistern, daß sie stark wie die Einheit, wenn auch nicht zum Angriff, doch für die Verteidigung wirkt. Größer ist dann auch der Preis, der auf der Lösung steht; denn das Beste ist die starke Einheit in der freien Vielheit, und das Gegenteil führt nur allzuleicht zu Erstarrung, Tod und Despotismus.
Zu diesem Zwecke müssen die Fürsten vor Allem erkennen, daß sie dieselbe Liebe, Treue, Ergebenheit und den gleichen Gehorsam, den sie von den Untergebnen verlangen, auch ihrerseits der Gesamtheit und dem Vaterlande schuldig sind; daß dieselbe Einigkeit und Einheit, die ihre besondere Herrschaft stark macht und kräftigt, auch nach aufwärts allein das Ganze, und in ihm auch wieder ihr Besonderes, bleibend und bestehend machen kann. Die Völker müssen sich in gleicher Weise überzeugen, daß ohne einen entschiednen, kräftig bestimmten öffentlichen Geist der Wille der Fürsten fürs gemeine Wohl ohnmächtig ist, und daß, wenn sie in Lässigkeit versinken, der gesamte Verband notwendig zu Grunde gehen muß. Völker und Fürsten sind nacheinander die schwere Prüfung dieser Zeiten durchgegangen, jene, indem sie zuerst aus dem Taumelbecher französischer Freiheit getrunken, diese, indem sie im Schirlingstranke von Napoleons Despotismus sich betäubt, und Beide in der Anarchie ihre Freiheit zu begründen wähnten. […]
Damit aber der öffentliche Geist, wie er sich jetzt glücklicherweise in Deutschland entzündet hat, nachwirken, und die Fürsten halten, tragen und in allem Guten unterstützen, im Bösen abmahnen und ihm entgegenstreben könne, muß ihm in innerer ständischer Verfassung eine verfassungsmäßige Stimme und eine Einwirkung in das Getriebe der Staatsverwesung gestattet werden. […]
Wo der Staat nur in Wenigen lebt, da führt ihr Verderben ihn auch leicht zum Untergang, und er sinkt und steigt mit ihnen; wo die Gesamtheit aber ihm ihre Teilnahme zugewendet hat, da lebt er ein unverwüstlich immer sich verjüngend Leben. In dem gleichen Gemeinsinn, womit die Fürsten sich zusammenschließen, werden darum auch die Völker sich um die Fürsten drängen, und also, durch solche Doppeltkraft gebunden, wird mit wachsender Gefahr die Verbindung immer enger werden, und genauer und fester geschlossen stehen. […]
Ein Rat, den die Fürsten zu bestimmten Zeiten in eigner Person besuchen, übe unter ihrem Vorsitz die gesetzgebende Gewalt, und bringt fortschreitendes, sich immer selbst ergänzendes Leben in die Verfassung, damit diese, als bleibend gesetzt, nicht erstarre und, wenn wir, den Franzosen gleich, sie in jedem Jahre ändern wollen, nicht zum Gespötte werde. […]
Es sind aber die drei Säulen, auf welche alle ständische Verfassung gegründet ist, Lehrstand, Wehrstand und Nährstand, dieselben, welche weise, wenn auch nicht vollkommen, in der Reichsstandschaft der alten Verfassung, durch die geistlichen Fürsten, die weltlichen samt der Reichsritterschaft, und die Reichsstädte dargestellt wurden. Auf dieser dreifachen Grundlage, die so alt ist wie die Geschichte, und in ihren Uranfängen und in tiefster Wurzel schon also geteilt erscheint, wird auch der neue Staatsvertrag errichtet werden. Die Häupter der drei Stände werden um den Fürsten stehen als Teilnehmer seiner Verantwortlichkeit, Beistand ihm und Räte, antreibend, wo die Herrscherkraft nachläßt, hemmend, wo sie allzu scharf sich spannt: Vermittler zwischem dem Volke und der Regierung.
Quelle: Joseph Görres, „Die künftige teutsche Verfassung“, Rheinischer Merkur, 18. August 1814 und 20. August 1814; abgedruckt in Peter Longerich, Hrsg., Was ist des Deutschen Vaterland, Dokumente zur Frage der deutschen Einheit 1800 bis 1990. München und Zürich: Piper Verlag, 1990, S. 51–53.