Quelle
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Die Fortdauer der Zerstückelung Deutschlands in 36 Despotien ist folglich verderblich für die bürgerliche Freiheit und für die Sittlichkeit der Nation und verewigt den überwiegenden Einfluß Frankreichs über eine Bevölkerung von 15 Mill[ionen] zum Nachteil für sie selbst und für die Ruhe der übrigen Mächte Europas. Benutzen die an der Spitze der deutschen Angelegenheiten stehenden Staatsmänner die Krise des Moments nicht, um das Wohl ihres Vaterlandes auf eine dauerhafte Art zu befestigen, beabsichtigen sie nur, auf eine leichte, bequeme Art einen Zwischenzustand herbeizuführen, durch welchen die nächsten Zwecke einer vorübergehenden Ruhe, einer etwas erträglicheren Lage erreicht werden, so werden Zeitgenossen und Nachwelt sie des Leichtsinns, der Gleichgültigkeit gegen das Glück des Vaterlands mit Recht anklagen und als daran schuldig brandmarken.
Die Frage, welche Verfassung soll Deutschland erhalten als Resultat des zwanzigjährigen Krieges, kann auf keine Art umgangen werden, das Wohl seiner Bewohner, das Interesse Europas, die Ehre und Pflicht der die großen Angelegenheiten der Nationen leitenden Staatsmänner erfordert, daß man sie mit allem dem Ernst, der ihrem Umfange, und mit der tiefen Besonnenheit, die ihrer Heiligkeit gebührt, erwäge und Flachheit, Leichtsinn, Genußliebe entferne.
Die Art der Auflösung der Aufgabe muß zwar das Erreichbare, aber auch das unter dieser Bedingung möglichst Vollkommene bezwecken.
Das Wünschenswerte, aber nicht das Ausführbare, wäre ein einziges, selbständiges Deutschland, wie es vom 10.-13. Jahrhundert unsere großen Kaiser kräftig und mächtig beherrschten. Die Nation würde sich zu einem mächtigen Staat erheben, der alle Elemente der Kraft, der Kenntnisse und einer gemäßigten und gesetzlichen Freiheit in sich faßt. Dieses schöne Los ist ihr nicht beschieden, auf anderen Wegen muß sie ihre innere gesellschaftliche Entwicklung zu erreichen suchen, die dieser entgegenstehenden Hindernisse beseitigen, neue Einrichtungen und Verfassungen schaffen.
Deutschland hat eine Richtung genommen zu einer Trennung in zwei größere Teile, in das nördliche und südliche. In dem ersteren besaß Preußen, in dem letzteren Österreich ein Übergewicht in den öffentlichen Angelegenheiten. Verschiedenheit der ursprünglichen Stämme seiner Bewohner, der Sachsen und Franken, der Sitten, der Religion, der Gemeindeeinrichtungen veranlaßten und beförderten diese Trennung, und sie würde ohne Schwierigkeit in dem gegenwärtigen Augenblicke können ausgeführt werden. Ist es möglich, die Einheit der Nation zu erhalten, so hat dieses ohnstreitig einen großen Vorzug in Hinsicht auf Macht und innere Ruhe. In diesem Falle ist es nötig, die Macht des Kaisers oder des Oberhaupts des Staates noch mehr zu verstärken. […]
Die Macht des Kaisers werde vergrößert, man setze ihn in Stand, eine Oberherrlichkeit auszuüben, indem man allen denjenigen Mitgliedern des Reiches, so nach dem Reichsdeputationsschluß von anno 1803 unmittelbar waren, diese Eigenschaft wieder beilege, die Länder in die damaligen Grenzen einschränke, denn es waren die großen deutschen Staaten, so sich durch Neutralitäts-, Allianzverträge an Frankreich anschlossen und ihren Pflichten gegen Deutschland entzogen, nicht die kleineren, die fest an der alten Verfassung hielten und von ihrer Erhaltung ihr Heil erwarteten. […]
Die Macht der Stände werde ferner geschwächt, man nehme ihnen das Recht, Krieg und Frieden zu schließen und übertrage es dem Kaiser und dem Reichstag.
Der Kaiser erhalte das Recht der exekutiven Gewalt, das heißt die Oberaufsicht über die Reichsgerichte, ihre Visitation, die unmittelbare Leitung der Verhältnisse mit fremden Mächten, der Militärangelegenheiten, der Reichskasse. Er ernenne die Generalität, den Generalstab, das Kommissariat allein. In denen kleinen Staaten, so unter dreitausend Mann stellen, ordnet er unmittelbar die militärische Organisation, in denen größeren übe er die Oberaufsicht aus. […]
Erhält Österreich die so verstärkte Kaiserwürde, so wird seine Macht bedeutend vermehrt. Es ist ratsam, sie ihm anzuvertrauen, um sein Interesse an Deutschland zu binden und wegen des langen Besitzes und der Gewohnheit der Völker. Aber auch Preußen darf Deutschland nicht entfremdet werden und es muß eine hinlängliche Kraft erhalten, um zu dessen Verteidigung mitzuwirken, ohne seine Kräfte zu überspannen und sein politisches Dasein auf das Spiel zu setzen – es muß kräftig und selbständig werden. In Preußen erhält sich der deutsche Geist freier und reiner als in dem mit Slaven und Ungarn gemischten, von Türken und slavischen Nationen umgrenzten Österreich, dessen Entwicklung daher auf jeden Fall erschwert würde, wären ihre Fortschritte auch nicht im XVII. und XVIII. Jahrhundert noch durch Geistesdruck und Intoleranz gestört worden. […]
Preußen bleibt wegen seiner geographischen Lage, des Geistes seiner Bewohner, seiner Regierung, des Grades seiner erworbenen Bildung ein für Europa, besonders für Deutschland, wichtiger Staat. Die Notwendigkeit seiner Wiederherstellung ist von Rußland, Österreich und England anerkannt, aber seine Wiederherstellung ist ohne seine innere Verstärkung ohne Wert und ohne wesentlichen Erfolg. Preußen hat seinen politischen Indifferentismus, den es seit dem Baseler Frieden zeigte, teuer gebüßt und seine Ansprüche auf den alten Waffenruhm und eine achtbare Stelle unter den Nationen mit seinem edelsten Blute wieder erkauft. […]
Quelle: Freiherr vom Stein: Briefe und amtliche Schriften, Bd. 4, bearbeitet von Erich Botzenhart, neu herausgegeben von Walther Hubatsch. Stuttgart: Kohlhammer, 1963, S. 242 ff; abgedruckt in Peter Longerich, Hrsg., Was ist des Deutschen Vaterland, Dokumente zur Frage der deutschen Einheit 1800 bis 1990. München und Zürich: Piper Verlag, 1990, S. 47–50.