Kurzbeschreibung

Der schlesische Gutsbesitzer Arthur von Posadowsky-Wehner (1845–1932), Mitglied der Freikonservativen Partei, stieg von der Lokalpolitik in Schlesien zum preußischen Abgeordnetenhaus und 1897 zum Staatssekretär im Innenministerium und Vizekanzler auf. Während seiner Amtszeit änderte sich die Regierungspolitik gegenüber den Sozialdemokraten von rechtlicher Verfolgung und Diskriminierung hin zu einer Sozialgesetzgebung, die durch die Umsetzung einiger politischer Forderungen der SPD eine Versöhnung mit der Arbeiterbewegung anstrebte. In enger Zusammenarbeit mit der katholischen Zentrumspartei arbeitete Posadowsky-Wehner Reformen des Renten- und Unfallversicherungssystems aus und ebnete den Weg für das 1903 verabschiedete Kinderschutzgesetz, das einige der schlimmsten Formen der Kinderarbeit in Fabriken und anderen Gewerben eindämmen sollte. Posadowsky-Wehners Unterstützung für diese Politik kostete ihn jedoch die Unterstützung der Konservativen und Nationalliberalen, und nach Meinungsverschiedenheiten mit Reichskanzler Bernhard von Bülow trat er 1907 von seinen Ämtern zurück. Dennoch blieb er politisch aktiv und kandidierte 1919 – skeptisch gegenüber der neuen Republik – sogar als konservativer Kandidat für das Amt des Reichspräsidenten gegen Friedrich Ebert.

In diesem Auszug aus einer Rede, die Posadowsky-Wehner 1905 im Reichstag hielt, fordert er eine „geistige und moralische Erneuerung” der Zivilgesellschaft (also der angesehenen Bürger, d. h. der Mittelschicht), die ihre materialistische Denkweise aufgeben sollte. Nur so, argumentiert er, könnten die besitzenden Klassen ihren Einfluss und ihre Autorität zurückgewinnen und damit die Bedrohung durch die Sozialdemokratie überwinden. Dieser kurze Auszug macht deutlich, dass Posadowsky-Wehners Sozialreformpolitik durchaus nicht nur aus moralischen Motiven heraus entstand, sondern auch ein Manöver war, um Wählerstimmen von der SPD abzuwerben.

Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Aufruf zu einer geistigen Erneuerung der bürgerlichen Gesellschaft (1905)

Quelle

Die bürgerliche Gesellschaft wird die Sozialdemokratie nicht mit großen Worten überwinden, sondern sie wird sie nur überwinden, wenn sie in sich selbst geht, wenn sie selbst diesen materialistischen Standpunkt verlässt und wenn in das ganze Leben der bürgerlichen Gesellschaft wieder ein größeres Maß sittlichen Ernstes einzieht. Wir haben im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts und im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Perioden gehabt, wo ein großer sittlicher und geistiger Läuterungsprozess über das deutsche Volk gekommen ist. Und dieser geistigen Wiedergeburt des deutschen Volkes in jenen beiden großen Zeitläufen verdanken wir eigentlich, dass wir zu einem deutschen Nationalstaat gekommen sind. Ich hoffe, und es tut dringend Not, dass das deutsche Volk wieder eine solche geistige und sittliche Wiedergeburt erlebt, voll Opferfreudigkeit und Selbstlosigkeit für die großen Aufgaben der Zeit. Dann werden die besitzenden Klassen in Deutschland und wird die bürgerliche Gesellschaft den Einfluss und die Schwerkraft erhalten, die sie trotz jeden Wahlrechts in jedem Staat und unter jeder Verfassung besitzen muss und die sie in jedem zivilisierten Staat in der Tat auch besitzen.

Quelle: Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Reichstagsrede, 12. Dezember 1905. Aufnahme: 1928. Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv 

DRA