Kurzbeschreibung

Die Provinz Elsaß-Lothringen hatte keine eigene Verfassung und unterstand als „Reichsland“ direkt der preußischen Verwaltung. Dies war für die örtliche Bevölkerung unbefriedigend und trug dazu bei, den französischen Groll gegen Deutschland zu schüren, das die Provinz nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg annektiert hatte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien das politische Klima günstig, um eine Verfassung für Elsaß-Lothringen durchzusetzen und die Provinz als Bundesstaat ins Reich zu integrieren. Dieses Memorandum des preußischen Innenministers umreißt Möglichkeiten und Umstände dieser Entwicklung. Die Verfassung wurde schließlich am 31. Mai 1911 verabschiedet und Elsaß-Lothringen erhielt dadurch ein eigenes, frei gewähltes Parlament sowie drei Vertreter im Bundesrat.

Eine Verfassung für Elsaß-Lothringen (1911)

Quelle

Berlin, 19. Februar 1911

Die Kommission des Reichstags zur Beratung der elsaß-lothringischen Verfassungsreform hat mit einer Mehrheit von 17 Stimmen beschlossen, daß Elsaß-Lothringen einen selbständigen Bundesstaat bilden, und mit 28 Stimmen gegen 4, daß Elsaß-Lothringen im Bundesrat mit 3 Stimmen vertreten sein solle.

Über die staatsrechtliche Ausgestaltung dieses zukünftigen Bundesstaates hat die Kommission bisher beschlossen, daß an seiner Spitze ein Statthalter stehen soll, der auf Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers auf Lebenszeit ernannt wird und nur durch Bundesratsbeschluß abberufen werden kann. Nach der Tendenz dieses Beschlusses soll zwar der Kaiser als erblicher Vertreter der Gesamtheit der Bundesstaaten formell Träger der Staatsgewalt bleiben, sein Recht aber mit der Ernennung des Statthalters sich erschöpfen. Die Ausübung der gesamten Staatsgewalt einschließlich des Rechts der Gesetzgebung soll nach Anträgen des Zentrums, deren Annahme mit einer Mehrheit von 17 Stimmen (Zentrum 8, Freisinnige und Sozialdemokraten je 4, die Polen je 1 Stimme) sicher ist, dem Statthalter zustehen, für dessen Anordnungen und Verfügungen ein von ihm selbständig ernanntes Ministerium die Verantwortung übernehmen soll, während er selbst von jeder Verantwortung frei bleibt. Der Kaiser würde hiernach jeglichen Einflusses auf die Gestaltung der elsaß-lothringischen Verhältnisse beraubt werden. Der Bundesrat würde nur bei der Ernennung und Abberufung des auf Lebenszeit bestellten Statthalters mitzuwirken haben. Jede mögliche Einwirkung des Reichskanzlers auf die Politik in Elsaß-Lothringen wäre beseitigt. Abgesehen von der Ernennung und Abberufung des mit den weitestgehenden Regentenrechten ausgestatteten Statthalters würde also alle Tätigkeit der Reichsorgane ausgeschaltet werden. Eine derartige Regelung erscheint staatsrechtlich wie politisch in gleicher Weise unannehmbar.

Die Gewährung von Bundesratsstimmen an Elsaß-Lothringen ist im Plenum des Reichstags von den Abgeordneten Vonderscheer, Emmel, Bassermann, Naumann, Preiss, von Hertling, Böhle, Grégoire, Dous und Höffel gefordert worden, und in der Kommission haben sich die Vertreter sämtlicher Parteien einschließlich der Freikonservativen mit alleiniger Ausnahme der Konservativen und der Wirtschaftlichen Vereinigung hierfür ausgesprochen. Es unterliegt hiernach keinem Zweifel, daß der Reichstag die Verfassungsreform ohne die Gewährung von Bundesratsstimmen nicht annehmen wird. Auf der anderen Seite läßt sich nicht verkennen, daß ein völliges Scheitern der Vorlage bei der Entwicklung, die die öffentliche Meinung in Elsaß-Lothringen genommen hat, und bei der Aufmerksamkeit, die das Ausland, insbesondere Frankreich, der Angelegenheit widmet, zu unbequemen politischen Konsequenzen führen könnte.

Preußen ist bereit, um diese Schwierigkeiten zu beheben, Opfer zu bringen, indem es unter der Voraussetzung, daß die Bestimmungen des Entwurfs über die Stellung des Kaisers und des Statthalters unverändert bleiben, folgenden Vorschlag macht:

1. In die Reichsverfassung wird als Artikel 6 a folgende Vorschrift eingestellt: Solange die Bestimmungen in § 1, § 2 Abs. 1 und § 25 des Gesetzes über die Verfassung Elsaß-Lothringens von [] 1911 in Kraft sind, führt Elsaß-Lothringen im Bundesrate 3 Stimmen.

– Die elsaß-lothringischen Stimmen werden nicht gezählt, wenn die Präsidialstimme nur durch den Hinzutritt dieser Stimmen die Mehrheit für sich erlangen oder im Sinne des Artikel 7 Abs. 3 Satz 3 den Ausschlag geben würde. Das Gleiche gilt bei der Beschlußfassung über Änderungen der Verfassung. Elsaß-Lothringen gilt im Sinne des Artikel 6 Abs. 2 und der Artikel 7 und 8 als Bundesstaat.

2. § 25 des Entwurfs eines Gesetzes über die Verfassung Elsaß-Lothringens erhält folgende Fassung:

Die Bevollmächtigten Elsaß-Lothringens zum Bundesrat werden vom Statthalter ernannt und instruiert.

Zur Erläuterung dieses Vorschlags sei das Nachstehende bemerkt:

Wenn in der Gesetzesvorlage davon abgesehen wurde, Elsaß-Lothringen eine Vertretung im Bundesrat einzuräumen, so war hierfür die Besorgnis maßgebend, daß jede Verleihung von Bundesratsstimmen eine Verschiebung der Machtverhältnisse, wie sie Artikel 6 der Reichsverfassung regelt, herbeiführen müßte und daß insbesondere eine Vermehrung des preußischen Einflusses eintreten werde. Um letzteres zu vermeiden, gleichzeitig aber Elsaß-Lothringen Stimmrecht im Bundesrat zu geben, wollen die Zentrumsanträge die Stellung des Statthalters so gestalten, daß diese nicht mehr die eines Vertreters des Kaisers im Reichslande, sondern vielmehr die eines lebenslänglichen Präsidenten einer Republik würde. Aus diesen Schwierigkeiten dürfte der Vorschlag, den das Königlich Preußische Staatsministerium mit Allerhöchster Genehmigung im Interesse des Zustandekommens der elsaß-lothringischen Verfassungsreform zu machen sich entschlossen hat, für die Gesamtheit der nichtpreußischen Regierungen einen befriedigenden Ausweg bieten.

Daß Elsaß-Lothringen bei Verfassungsänderungen kein Stimmrecht haben soll, findet seine Rechtfertigung darin, daß es an der Vereinbarung der Bundesverfassung nicht teilgenommen hat und nicht Bundesmitglied ist. Soweit die Präsidialmacht nach den Artikeln 5 und 37 der Reichsverfassung ein Vetorecht hat, kommt den elsaß-lothringischen Stimmen keine Bedeutung zu. Es wird hiernach die vorgeschlagene Einführung des Stimmrechts eine materielle Bedeutung für alle diejenigen Angelegenheiten haben, in denen die Beschlüsse des Bundesrats mit einfacher Mehrheit gefaßt werden. Nach dem gegenwärtigen Recht gibt die Präsidialmacht den Ausschlag, auch wenn sie nicht die Mehrheit, sondern nur 29 Stimmen für sich hat, also Stimmengleichheit besteht (Art. 7 Abs. 3 Satz 3 der Verfassung), während ein von ihr ausgehender oder unterstützter Vorschlag nur abgelehnt ist, wenn mindestens 30 Stimmen dagegen abgegeben werden. Durch Einführung von 3 elsaß-lothringischen Stimmen würde dies Verhältnis geändert werden, da alsdann bei Abgabe sämtlicher Stimmen eine Stimmengleichheit nicht mehr vorkommen kann und die Mehrheit 31 Stimmen betragen wird. Preußen müßte also in Zukunft, um mit seiner Meinung durchzudringen, zwei Stimmen mehr für sich gewinnen als bisher, während ein von ihm gemachter oder unterstützter Vorschlag zu Falle gebracht werden würde, wenn nur eine Stimme mehr als bisher dagegen in die Waagschale geworfen würde. Um auszuschließen, daß die Präsidialmacht durch Beeinflussung der elsaß-lothringischen Stimmen eine sonst nicht mögliche Majorisierung der zur Minderheit gehörenden Regierungen ausübt, sollen die elsaß-lothringischen Stimmen nicht gezählt werden, wenn Preußen nur mit ihnen den Ausschlag geben könnte. Ob sie für oder gegen die preußische Meinung abgegeben werden, wird bei Abgabe sämtlicher Stimmen, wie sich aus der anliegenden Tabelle ergibt, nur von Erheblichkeit sein, wenn die Stimmen 31:30 stehen. Die praktische Folge dieser Regelung würde sein, daß die elsaß-lothingischen Stimmen zwar den nichtpreußischen Bundesstaaten zur Bildung einer Majorität gegen die Präsidialmacht, nicht aber dieser selbst für eine Mehrheitsbildung zur Verfügung stehen. Sie können nur den Ausschlag geben, wenn sie gegen die preußische Meinung abgegeben werden. Die mit den angegebenen Kautelen geregelte Einführung von 3 Stimmen für Elsaß-Lothringen läuft daher lediglich auf eine Minderung des Einflusses der Präsidialmacht hinaus.

Die Preußische Regierung vermag die vorgeschlagene Regelung aus der Erwägung zu verantworten, daß der Statthalter, wenn sich aus seiner Instruktion der elsaß-lothringischen Stimmen ein ernster Konflikt mit der Präsidialmacht ergeben sollte, äußerstenfalls in der Lage wäre, seine Entlassung zu erbitten. Es muß deshalb durch ein unter den Garantien des Artikels 78 der Reichsverfassung stehendes Gesetz ausdrücklich bestimmt werden, daß die vorgeschlagene Verleihung des Stimmrechts nur solange Geltung haben soll, als die gegenwärtige und im Gesetzentwurfe aufrechterhaltene staatsrechtliche Stellung des Kaisers und seines Statthalters in Elsaß-Lothringen unverändert bleibt.

Wenn auch die elsaß-lothringischen Stimmen im Hinblick auf die vorgeschlagenen Beschränkungen den Stimmen der Bundesstaaten an Wert nicht völlig gleich stehen werden, so wird die Gewährung dieses Stimmrechts für Elsaß-Lothringen doch eine außerordentliche Mehrung seines Einflusses im Reiche zur Folge haben. Man wird genötigt sein, die Wünsche Elsaß-Lothringens in stärkerem Maße zu berücksichtigen als bisher. Insbesondere wird Elsaß-Lothringen durch seine mit Stimmrecht ausgestattete Mitarbeit in den Ausschüssen des Bundesrats, deren Regelung im Einzelnen späterer Erwägung vorbehalten bleiben kann, in die Lage versetzt, schon bei den Vorbereitungen der Bundesratsbeschlüsse auf deren Gestaltung Einfluß zu üben.

Es darf hiernach erwartet werden, daß die so geregelte Verleihung von Bundesratsstimmen in Elsaß-Lothringen mit Befriedigung aufgenommen und den Reichstag veranlassen wird, weitergehende Forderungen zurückzustellen.

Quelle: Denkschrift des Reichsamts des Innern zur elsaß-lothringischen Verfassungsfrage, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 74 Bü 163.; abgedruckt in Hans Fenske, Hrsg., Quellen zur deutsche Innenpolitik 1890–1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellchaft, 1991, S. 389–92.