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Kindheit und Jugend habe ich als fünftes von acht Geschwistern in meinem Elternhaus in Jena verbracht. Es wurde von meinen Eltern nach meiner Geburt gebaut, weil ihnen die bei ihrer Heirat bezogene Wohnung der „unzumutbaren“ Kinderzahl wegen gekündigt worden war.
Das Haus hatte große helle Räume und nach dem modernsten Stand damaliger Technik Zentralheizung, Gas für Herd, Badeofen und Beleuchtung, fließend Kaltwasser in Küche, Bad und Flur, im Winter Doppelfenster mit zauberhaften Eisblumen und einen handbetriebenen Aufzug von der Küche zu den Schlafzimmern im oberen Stock, der besonders bei Krankheiten von großem Nutzen war.
Wir Kinder hatten keine Einzelzimmer, sondern schliefen zu zweit oder zu dritt miteinander, die jeweils jüngsten im großen Kinderzimmer. An dessen Decke war ein blauer Himmel gemalt mit Schwalben, Rotkehlchen und Zaunkönigen, unter denen jeder von uns seinen Liebling hatte.
In meiner frühen Kindheit war ich nie allein; immer waren viele Menschen um mich herum, Verwandte und Fremde. An Sonntagen waren wir am ausgezogenen Eßtisch stets zwölf bis vierzehn Personen. Öffentlichkeit und Gesellschaft ereigneten sich für uns in Küche und „Wirtschaftszimmer“.
Täglich kamen der Milchmann mit seinen scheppernden Kannen, der Bäckerjunge im weißen Kittel mit Broten (die Semmeln hatte er schon in aller Frühe an die Gartentür gehängt), der kräftige Metzgerbursche mit einem großen hölzernen Trog auf der Schulter, aus dem er jedem Haushalt das bestellte Stück Fleisch zuteilte. Jede Woche erschien die Hühnerfrau; sie nannte uns „mein Täubchen“, wahrscheinlich kannte sie keine anderen Lebewesen als Geflügel. Die Büglerin hantierte mit einem eisernen, abwechselnd am Handgriff zu befestigenden heißen Bolzen oder mit einem großen Instrument, das durch Holzkohle geheizt wurde.
Es kam eine Näherin, um die Leib- und Hauswäsche auszubessern, und die Schneiderin; unsere sämtlichen Kleider und Anzüge wurden im Hause angefertigt. Wenn der Schornsteinfeger kam, versäumte er nie, uns im Gesicht anzuschwärzen. Der „Leitermann“, der aus dem Gebirge Holzlöffel und Schemel brachte, schnitzte auf unsere Bitte hin aus der Spitze des Tannenbaums einen Quirl.
An jedem Morgen kam die Waschfrau. Wir Kinder schwatzten mit ihr durchs Kellerfenster, sahen ihr zu, wie sie hinten im Keller unter dem kupfernen Waschkessel Holz einlegte, wie sie die schweren eisernen Wäschestangen im Garten in die Löcher stellte und die Leine zog, und reichten ihr die Klammern zu, am Vormittag für die Weißwäsche, am Nachmittag für die Buntwäsche. Wir saßen bei ihr, wenn sie in der Küche ihren Kaffee trank und ein dick bestrichenes Schmalzbrot dazu aß. Stets sagte sie beim Abschied: „Schönen Dank auch.“ Einmal fragte die Mutter, wofür sie sich denn bedanke, worauf sie antwortete: „... daß man wieder einen Tag seine Arbeit gehabt hat.“
Schon als Kinder wurden wir häufig zum Kaufmann, dem Kolonialwarenhändler, geschickt. Es sah dort genauso aus wie in den Puppenstuben, die heute in den Museen stehen. Die Wand hinter der Theke bestand aus großen Schubkästen mit Aufschrift wie Reis, Kaffee, Mehl: in Fässern sah man Gurken und Heringe, in Säcken Kartoffeln, in Töpfen Honig, Schmalz und Pflaumenmus. Alle Ware wurde auf der Waage abgewogen, auch Salz, Butter, Öl oder Honig. Man konnte für fünf Pfennig Rosinen kaufen und für zehn Pfennig Sauerkraut, sogar für einen oder zwei Pfennig eine kleine spitze Tüte mit Bonbons.
Eine Person war immer da: Aenne, die Kinderfrau. Sie zog uns an und brachte uns zu Bett. Sie bürstete geduldig unser verwirrtes Haar und übergoß uns abends mit kaltem Wasser, was ich fröstelnd und zitternd, meine robustere jüngere Schwester prustend und lachend hinnahm. Sie verband unser blutendes Knie, drückte einen Löffel gegen unsere Stirn, wenn wir gefallen waren, um Beulen zu verhindern, machte uns Halsumschläge, ging mit uns spazieren und erzählte uns unermüdlich Geschichten von armen Mädchen und verlaufenen Prinzessinnen. Sie betete mit uns und schlief bei uns. Aenne war bei meiner Geburt zu uns gekommen und blieb bis zu meinem Eintritt in die Schule. Dann ging sie zu Kindern eines Rechtsanwalts, bekam dort ein unheizbares Dachstübchen, wurde krank und starb an Tuberkulose.
Das bunte Treiben in Haus und Küche verfolgten wir mit Neugier. Doch ist es nur der Hintergrund für das Bild der Eltern, wie es mir vor Augen steht. Nach Herkunft, Natur und Bildung waren sie einander extrem entgegengesetzt.
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Die Schule war schon in früher Jugend so etwas wie ein Traumziel. Es ist mir noch ein Singsang im Ohr: „Ostern – Ostern – übers Jahr – komm ich in die Schule“, womit mir die Kinderfrau wohl den Zeitraum zwischen meinem und dem Schuleintritt meiner drei Jahre älteren Schwester überbrücken wollte. An keine Zeit meiner Kindheit habe ich so deutliche Erinnerungen wie an das erste Schuljahr. Die Erlebnisse sind geeignet, den Unterschied zu heute zu zeigen.
Der Arzt hatte mich „blutarm“ befunden und einen Gebirgsaufenthalt angeraten. So nahmen mich die Eltern in den Ferien mit nach Neuhaus am Renstieg. Es war meine erste Reise mit der Eisenbahn. Bei den Mahlzeiten an der großen Table d'hôte waren etwa zwanzig Erwachsene, aber kein anderes Kind. Auch auf der Straße spielten keine Kinder. Mit Erstaunen sah ich in den schwarzen, mit Schiefer beschlagenen Häuschen hinter kleinen Fenstern Kinder meines Alters an großen Tischen sitzen und in Heimarbeit weiße und rosa Perlen zu Ketten auffädeln.
Genau erinnere ich mich auch an den ersten Kirchgang, wo darüber gepredigt wurde, daß ein Mann in einem Gewässer zu schwimmen versuchte, das von Schlingpflanzen durchwachsen war, so daß er sich darin verstrickte und unterging.
Einmal – das einzige Mal in meiner Kindheit – war ich in einer Konditorei mit meiner Mutter, an einem runden Marmortisch sitzend, eine goldgeränderte geschwungene Tasse mit Schokolade und Schlagsahne vor mir. Am nächsten Tag bekam ich Scharlach, wurde im Hause isoliert, von einer Krankenschwester in Tracht gepflegt und habe, als es mir besserging und mein Bruder krank zu mir ins Zimmer kam, bei ihm aus Andersens Märchen lesen gelernt.
Zu meinem sechsten Geburtstag bekam ich ein kurzärmeliges Kleid aus kariertem Kattun, das ich sommers und winters – aber nur für die Schule – tragen sollte, eine ärmellose schwarze Schulschürze, hohe schwarze Knöpfstiefel und einen ledernen Schulranzen mit Fibel, Griffelkasten und Schiefertafel, an die ein Schwamm und ein Tüchlein gebunden waren, die aus dem Ranzen heraushingen.
In den ersten Tagen wurde ich nachdrücklich vor drei Gefahren auf dem Schulweg gewarnt – ich dürfe nicht über unsere Brücke gehen, wenn ein Fuhrwerk darauf war, denn es kam vor, daß die Pferde durch einen in der Tiefe rollenden Eisenbahnzug scheu wurden und wild davonrasten; ich sollte den Jungen vom Eisengeschäft aus dem Wege gehen, weil sie den „affigen“ Mädchen auflauerten und sie zu verhauen suchten; vor allem aber müsse ich darauf achten, von der elektrischen Straßenbahn nicht überfahren zu werden, denn sie könne nicht plötzlich bremsen oder ausweichen.
Die Stadt hatte erst kurz zuvor ein Elektrizitätswerk bekommen. Es dauerte noch lange, bis die Elektrizität, zunächst nur für Beleuchtung, in die Häuser geleitet wurde. Alle heute unentbehrlichen Hausgeräte, Staubsauger, Waschmaschine, Kühlschrank, elektrisches Bügeleisen und vieles andere mehr, waren in meiner Kindheit unbekannt. Vor Autos brauchte ich nicht gewarnt zu werden. Das erste Auto und jahrelang das einzige gab es in Jena erst 1905.
Wir besuchten die private höhere Töchterschule, die in einem alten Gebäude untergebracht war. Sie hatte weder Zentralheizung noch Beleuchtung. In der Nähe der eisernen Öfen war es glutheiß, am Fenster fröstelte man. Wenn es morgens noch dunkel war, brannte eine Kerze auf dem Katheder. Jeweils vier Kinder saßen auf einer Bank. Wir mußten mit gefalteten Händen still sitzen und aufstehen, wenn wir drankamen. Für die Pausen mußten wir uns in Reih und Glied aufstellen und im kiesbedeckten Schulhof im Kreise gehend unser Schulbrot essen, in den kurzen Pausen durften wir spielen, bis wir klassenweise geordnet wieder hinaufgingen.
Wenn die Direktorin Geburtstag hatte, gab es ein Fest mit Theateraufführungen, lebenden Bildern, Tänzen und Bewirtung. Kaisers Geburtstag wurde nur vom Gymnasium gefeiert – durch den „Kaiserball“. Die jungen Schüler waren wie elegante Herren gekleidet und mußten sich wie Erwachsene benehmen. Die „Damen“ hatten Tanzkarten, in die sich die Herren für die jeweiligen Tänze eintrugen. Es ging alles ungemein konventionell zu. Ich habe an einem solchen Ball nur einmal, fünfzehnjährig, teilgenommen und mich später der Jugendbewegung angeschlossen, die bei ihren Geselligkeiten einen vollkommen anderen Stil hatte.
Ich hatte mehrmals Konflikte mit der Schule, weil ich vom Elternhaus her mehr Freiheit gewohnt war und mir mehr Freiheit nahm, als mir die Schule zubilligen wollte; einige Beispiele möchte ich dafür anführen.
Nach einer Montagmorgenandacht forderte mich eine Lehrerin zu einem Gespräch „unter vier Augen“ nach der letzten Stunde auf. Wir rätselten in der Klasse, welche Augen gemeint seien, ob die der Direktorin oder des Schulrats oder von beiden, und ich war erleichtert, als sie mich allein empfing. Sie stellte mich zur Rede, weil ich angeblich während der Andacht gelacht hätte, und forderte mich zur Entschuldigung auf. „Bitte entschuldigen Sie, wenn ...“, setzte ich an. „Daß“, fiel sie mir ins Wort. Erneut wiederholte ich das Wort „wenn“ und setzte eilends hinzu: „Ich bin mir dessen nicht bewußt gewesen.“ Ohne ein Wort wurde ich entlassen. Die Lehrerin war sichtlich enttäuscht, daß ihr die Gelegenheit entgangen war, ein zehnjähriges Kind zu demütigen.
Quelle: Elisabeth Flitner, „Auf dem Katheder brannte frühmorgens eine Kerze“, Rückblick, in Rudolf Pörtner, Hrsg. Kindheit im Kaiserreich: Erinnerungen an vergangene Zeiten. München, 1989, S. 45–47, 50–51.